Leben wir in einem "Corona-Staat"?
- Leben wir in einem "Corona-Staat"?
- Corona-Maßnahmen und die Gewaltenteilung
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Wenn Gegner der Corona-Maßnahmen die Absicht des Infektionsschutzgesetzes von dessen pandemischem Grund trennen, verpassen sie die Sach- und Rechtslage (Teil 1)
Der Autor dieser Zeilen machte auch bei seinen letzten beiden Texten (hier, hier bzw. hier), in denen es um die Corona-Politik ging, die Erfahrung, dass seine Befassung mit den politökonomischen Verhältnissen bzw. der vorherrschenden – rechten wie linken – Kritik daran von etlichen Usern im TP-Forum als Parteinahme für das "System" gedeutet und bezeichnet wird.
"Robbypeer" z.B. konstatiert einen "peinlich dummen Hetzartikel gegen Linke" und setzt später nach:
"Der Autor (…) hat das Thema nicht ausreichend durchdrungen und versucht offensichtlich, die tatsächlich stattfindenden Angriffe der Finanzelite auf die Bevölkerung zu verharmlosen, zu vertuschen und kleinzureden" - was gar nicht so leicht ist für einen, der die schönzufärbende Sache "offensichtlich" nicht recht versteht.
"Bratapfelkuchen" geht noch einen Schritt weiter und knöpft sich den Autor, der angeblich behauptet, "dass die aktuellen (Corona-) Maßnahmen tatsächlich dem Wohl der Bürger und des Staates dienen", wie einen Regierungssprecher vor: "Dann belege doch deine Analyse, dass nächtliche Ausgangssperren (…) der ‚Volksgesundheit‘ dienen, dass Masken in der Öffentlichkeit draußen Sinn ergeben, dass Nichtdurchsetzung von Maskenpflicht im Betrieb dagegen Sinn ergibt!"
Diese Aufforderungen bemerken gar nicht, dass der Autor sich weder für die Corona-Politik noch für Alternativen zu ihr zuständig sieht und macht. Genannte Vorwürfe entspringen auch keinem - evtl. unkorrekten - Urteil über die zurückgewiesenen Ansichten, sondern ordnen diese einem vorausgesetzten Denkschema unter.
Bei manchen Usern ist sogar zu beobachten, dass sie selbstbewusst mitteilen, die Lektüre eines zu kritisierenden Artikels bereits nach der Einleitung oder ab einem bestimmten Stichwort eingestellt zu haben, weil ihnen damit schon klar gewesen sei, worauf das weitere "Geschwurbel" hinausliefe. Solche Leser tun der Ausbildung ihres Urteilsvermögens damit keinen Gefallen. Trotzdem sind auch sie eingeladen, die folgenden Überlegungen zum Thema eines "autoritären Corona-Staats" kritisch zu prüfen.
"Regime Change"
Vor allem die beiden letzten Novellen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) haben den Protest eines breiten politischen Spektrums hervorgerufen. Von 50 darstellenden Künstlern liegen satirisch gemeinte Einspielungen vor. Ein querdenkender Journalist, Anselm Lenz, spricht in die laufende Kamera, "Merkel (wolle) den Föderalismus insgesamt schleifen, um die Bundesrepublik an ein EU-Konglomerat anzuschließen, in dem quasi zentralistisch durchregiert werden kann".
Ein linker Buchbeitrag von Wolf Wetzel räsoniert: "Man muss der gegenwärtigen Regierung nicht das Schlimmste unterstellen. Es reicht, sich ganz sicher darin zu sein, dass diese Gesetze einen Weg ebnen, der einen Putsch überflüssig macht, der einen ‚Regime Change‘ in Anwendung dieser Ermächtigungsgesetze möglich macht."
Ein liberaler Publizist, Heribert Prantl, steuert den Begriff der "untergesetzlichen Parallelrechtsordnung" bei. Und auf den Nachdenkseiten wagt Moritz Müller zu fragen: "Wenn die Gewaltenteilung als Wesenskern der Demokratie aufgehoben ist, von welcher Herrschaftsform sprechen wir dann?"
Bei der folgenden Beurteilung solcher Fragen und Einwände im Verhältnis zur Sachlage soll nicht in Abrede gestellt werden, dass auch in der modernen bürgerlichen Staatenwelt Tendenzen zum Autoritären oder Autokratischen zu verzeichnen sind.
In den USA, deren republikanische Tradition seit über 200 Jahren ungebrochen ist, hat neulich erst ein Präsident vorgeführt, wie in dem demokratischen Widerspruch einer Ermächtigung auf Zeit auch an der Seite der Macht gegen ihre Befristung festgehalten werden kann.
Einige neue Demokratien in Osteuropa verzeichnen ebenfalls einen Behauptungswillen der Regierung gegenüber der Justiz oder den Medien. Selbst die Grande Nation hat einen wegen Terrorismus mehrfach verlängerten Ausnahmezustand in ein gesetzliches Regelwerk überführt.
Warum sollte so etwas der demokratischen Kultur hierzulande gänzlich fremd sein? Es hilft aber trotzdem nichts, die Frage so abstrakt zu beantworten, wie das die zitierten Einwürfe tun.
Um zu ihren Schlussfolgerungen zu kommen, trennen sie den Tatbestand, hier das IfSG, von seinem pandemischen Grund und bekennen sich auch eigens dazu: "Es besteht der Verdacht, dass hier ein Instrument geschaffen wird, mit dem man den Ausnahmezustand durch verstärktes Testen förmlich erzeugen kann." (Moritz Müller)
"Um Kontrolle und Überwachung geht es offensichtlich, das Argument mit der Gesundheit ist ein vorgeschobenes." (Hannes Hofbauer) "Die Gesundheits- und Solidaritätsprediger des Corona-Managements waren noch nie Vertreter der öffentlichen Gesundheit, (sondern …) basteln immer unverschämter an einem autoritären Unternehmer-Staat." (Werner Rügemer)
"Kalkuliertes Risiko"
Der gegenläufige Vorschlag zu dieser Sicht lautet zunächst, die Pandemie dahingehend ernst zu nehmen, dass man den Zweck und den Anlass der staatlichen Corona-Maßnahmen nicht vorschnell oder absichtsvoll trennt, sondern sie in ihrem marktwirtschaftlichen und ordnungspolitischen Zusammenhang beurteilt. Dann stellt man zunächst fest, dass sich zwischen dem epidemiologisch Gebotenen und den Erfordernissen einer kapitalistisch und demokratisch verfassten Gesellschaft eine Reihe von Widersprüchen auftun.
Wo die Virusbekämpfung - Medikamente, Tests und Impfstoff nicht oder unzureichend gegeben - die Unterbrechung der Ansteckungswege verlangt, braucht bereits die Versorgung der Bevölkerung, mehr noch das Erwerbsleben und schon gleich der Produktions- und Finanzkreislauf einer Marktwirtschaft den physischen Run auf eine allgemeine Geldvermehrung, von deren Stocken die genannten Funktionen unmittelbar betroffen sind.
Solchen "Sachzwängen" zum Trotz setzt dieser Verwertungsprozess seinerseits eine Physis der Beteiligten voraus, die mit Zivilisationskrankheiten und Schadstoff-Grenzwerten zwar leben kann, mit einer unbeherrschten Pandemie aber eigentlich nicht.
Der bürgerliche Staat muss und will also bei ihrer Bekämpfung so viel kapitalistisches Wirtschaftsleben und öffentliche Gesundheit erhalten, wie das möglich bzw. nötig ist. Für Letztere gelten ihm nicht die individuellen Schicksale, sondern die Funktionsfähigkeit der medizinischen Versorgung als Maß, die sie nicht überlasten oder außer Kraft setzen dürfen.
Dies ist der konkrete Inhalt des Begriffs Volksgesundheit in Zeiten von Corona. Gerade weil ihr Erhalt in einem widersprüchlichen Verhältnis zum Gang der Geschäfte steht, lavieren die marktwirtschaftlich verfassten Staaten in unterschiedlicher Weise und je nach ihren Bedingungen, Mitteln und Ambitionen zwischen den beiden Seiten umher.
So ergibt sich eine Bandbreite von Stop-and-go-Maßnahmen bzw. "kalkuliertem Risiko", so das Motto der derzeitigen Öffnung in den Niederlanden sowie von Ländern, für die noch Schweden, Neuseeland, Indien, in Grenzen China oder eben die BRD als Beispiele erwähnt werden sollen.
Deutschland hat sich für den Versuch entschieden, durch drei Infektionswellen hindurch seine Wirtschaftserfolge und seine Exportmeisterschaft zu verteidigen, ohne deren volksgesundheitliche Grundlage ruinös aufs Spiel zu setzen.
Daraus erklären sich Lockdowns, die zunehmend mehr an Geschäfts- und Erwerbsleben geöffnet lassen - und so die zugehörige Figur eines Arbeitnehmers hervorbringen, der sich zehn Stunden pro Tag im öffentlichen Berufsverkehr und in der Aerosol-Wolke der Firma aufhält, um dann abends nach zehn nicht mehr oder nur noch alleine an die frische Luft zu dürfen.
So reduziert er eben in seinen freien Stunden die Infektionsgefahr, zu der er in der Dienstzeit für andere beiträgt. Mit einer ähnlichen Systemlogik hat die Tatsache zu tun, dass laut Ärzteblatt "31 Prozent der nichtärztlichen (und 19 Prozent der ärztlichen) Mitarbeiter in den Intensivstationen, Notaufnahmen und im Rettungsdienst in den kommenden zwölf Monaten ihre Arbeitsstelle aufgeben" wollen.
Dass "unsere Corona-Helden" es so schwer haben, wird öffentlich gewürdigt, tut aber der betriebswirtschaftlich gebotenen Optimierung des Krankenhauswesens durch Mehrerlös aus Lohnkosten und Fallpauschalen mit zugehöriger Arbeitsüberlastung keinen Abbruch.
Die marktwirtschaftlichen Rechnungsweisen, die in der Pandemie und in der Art ihrer Bekämpfung fortbestehen, treffen leider auf keine nennenswerte Opposition. Die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität bleibt die einzig "reelle" Perspektive - auch für die, denen die Ausnahmesituation vorführt, wie wenig der Normalzustand ihre Existenz gesichert hat. Für Aufregung sorgen vielmehr höhere Güter, solche der gewohnten Rechte und bürgerlichen Freiheiten, wie sie von den Corona-Maßnahmen betroffen sind.
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