Leichendiebe, Serienkiller und Chirurgen
- Leichendiebe, Serienkiller und Chirurgen
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Von der unfreiwilligen Wiederauferstehung zur Transplantationsmedizin
Der Mensch als Leiche hat es weit gebracht. Zwischen 1675 und 1725, schätzen die Experten, wurden Tote zur Ware, mit denen man seither Handel treibt wie mit anderen Waren auch. Inzwischen ist der tote Mensch ein wertvolles Ersatzteillager. Weil die Nachfrage größer ist als das Angebot, wird uns demnächst die Versicherung auffordern, darüber nachzudenken, ob wir Organspender sein wollen. Ist das ein Fortschritt oder nicht? Jedenfalls lohnt es sich, auf die Zeit zurückzublicken, in der das alles angefangen hat.
Der erste Tote im berühmtesten, medial am meisten ausgeschlachteten Serienmord-Fall der britischen Kriminalgeschichte vor Jack the Ripper starb ohne fremdes Zutun. Er hieß Donald, war Soldat im Ruhestand, litt an der Wassersucht und hatte ein Bett in der Pension von William und Margaret Hare in West Port gemietet, dem irischen Viertel von Edinburgh, als er im November 1827 verschied. Früher einmal hatte es an der westlichen Begrenzung der schottischen Hauptstadt tatsächlich ein Tor (port) gegeben. 1827 aber war mit "West Port" die langgezogene Straße gemeint, die hinein nach Edinburgh führte, wenn man aus Westschottland oder Irland kam. Zu beiden Seiten der Straße ragten eng gedrängte, wabenartige Häuser in die Höhe, in denen im 18. Jahrhundert die besseren Schichten nebst Dienerschaft gewohnt hatten.
Seit der in den 1770ern in Angriff genommenen Stadterweiterung war jenseits der mittelalterlichen Stadtmauern die großzügig angelegte New Town entstanden. Dort lebten jetzt die Reichen. Die Armen waren in deren ehemalige Häuser in der Old Town gezogen, wo ganze Familien ein einziges Zimmer bewohnten. Von der Hauptstraße West Port führten ein paar Stufen hinunter zur in der untersten Etage eines dieser Häuser gelegenen Pension der Hares in Tanner’s Close. Nach der Verhaftung der Betreiber als Serienmörder wurde die Pension oft als finsteres Dreckloch beschrieben. Für die Verhältnisse in West Port war sie jedoch ein durchaus respektables Etablissement. Im Stockwerk darüber, und später ein paar Schritte weiter weg, wohnte William Burke mit seiner Lebensgefährtin Helen McDougal. Burke und Hare gehörten zu den vielen Iren, die nach Hungersnöten in ihrer Heimat nach Schottland gekommen waren, um den Union Canal zu bauen und die sich seither mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten. Burke hatte ein neues Gewerbe erlernt, die Flickschusterei.
Operation gelungen, Patient tot
Donald starb kurz vor der vierteljährlichen Auszahlung seiner Pension und schuldete den Hares 4 Pfund, die nun verloren waren. William Hare beratschlagte mit Burke darüber, was zu tun sei und kam auf die Idee, den Leichnam an die Anatomen zu verkaufen. Zu diesem Zweck gingen die beiden zum Hauptgebäude der Universität bei der South Bridge und fragten nach Dr. Monro. Dieser Herr, in Fachkreisen als Alexander Monro tertius bekannt, war der dritte in einer Dynastie, die den Lehrstuhl für Anatomie und Medizin als ihr Familieneigentum betrachtete. Dank seiner Position hatte Monro das Monopol auf die Körper von zum Tode mit anschließender Sektion verurteilten Mördern. Solche Sektionen wurden mal öffentlich und mal im Expertenkreis durchgeführt, die Broadsheets (die Vorläufer der heutigen Boulevardpresse) berichteten darüber, und vielleicht waren Burke und Hare dort auf Monros Namen gestoßen.
Monros Vorlesung dauerte von 1 bis 3. Dann ging der Professor heim, um sich auf das Abendessen vorzubereiten. Es war nun später Nachmittag. Der junge Mann, den Burke und Hare um Auskunft baten, verwies sie stattdessen an die private Anatomieschule von Dr. Robert Knox am Surgeon’s Square, gleich neben dem Royal College of Surgeons. Dort zeigte man sich sehr kaufinteressiert. Also kehrten Burke und Hare zur Pension zurück, um die Leiche zu holen. Das komische Potential des Vorgangs haben später John Landis und seine Drehbuchautoren entdeckt. Burke und Hare transportierten den toten Donald nicht in einer Tonne zum Surgeon’s Square wie bei Landis, sondern in einem Sack, verhielten sich aber auch so, als wären sie mit Diebesgut unterwegs, weil sie beim Handel mit Leichen Amateure waren.
Nach englischem und schottischem Recht war (und ist) eine Leiche kein Eigentum. Hätten Burke und Hare den Pensionisten auf einem Friedhof ausgegraben, hätte man sie wegen Störung der Totenruhe und unrechtmäßigem Betreten belangen können, nicht wegen Diebstahl. Donald war nicht beerdigt worden, Verkauf und Erwerb verstießen gegen kein Gesetz. Burke und Hare dürften sich nicht schlecht gewundert haben, als keiner in der Anatomieschule etwas über die Herkunft der Leiche wissen wollte. Das war ganz so wie in The Flesh and the Fiends, wo die beiden seltsamerweise die Namen getauscht haben. In John Gillings Film werden die Toten allerdings in Unterwäsche in die Konservierungsflüssigkeit geworfen, weil sonst die Zensur eingeschritten wäre. Im echten Leben wurden Burke und Hare gebeten, Donald das Hemd auszuziehen, in dem er gestorben war und dieses wieder mitzunehmen. Wer eine irgendwie bekleidete Leiche kaufte, machte sich der Hehlerei schuldig, denn ein Hemd galt als Eigentum. Dr. Knox begutachtete den nackten Toten und zahlte 7 Pfund 10 Schillinge. Weitere Ankäufe, erfuhren die beiden Lieferanten, immer gern. "Burke und Hare wussten es nicht, aber sie hatten sich in ein Kriegsgebiet begeben, wo Schlachten um Studiengebühren und berufliche Anerkennung tobten und wo über dunkle Kanäle erhaltene Kadaver verstreut herumlagen", schreibt Lisa Rosner in The Anatomy Murders (das Buch ist ebenso empfehlenswert wie Rosners Website).
Die ersten beiden Monros - Alexander primus und secundus - waren Glücksfälle für die Universität Edinburgh, weil sie hervorragende Anatomen waren. Sie trugen viel dazu bei, dass die medizinische Fakultät zur ersten Adresse in der englischsprachigen Welt wurde. Jedes Jahr kamen 500 oder mehr Studenten nach Edinburgh, die Rosners Recherchen nach zwischen 100 und 500 Pfund ausgaben. Das war ein nicht unbedeutender Wirtschaftsfaktor. Praktisch jeder Student besuchte mindestens einmal den Uni-Kurs für Anatomie und Physiologie, viele mehrfach. Aber in den 1820ern war es nur noch ein Drittel der Studierenden. Monro tertius, seit 1798 in Amt und Würden, hatte den Lehrstuhl geerbt, den Forschergeist der Familie hingegen nicht. Er las lieber aus den Schriften seines Vaters und seines Großvaters vor, statt selbst an Leichen herumzuschneiden. Für die Teilnahme an einer Sektion verlangte Monro eine Guinee (1 Pfund 1 Schilling oder 21 Schillinge) - nicht aus Geldgier, sondern zur Abschreckung.
Tim Curry spielt Prof. Monro in Landis’ Burke and Hare als fetten Popanz, der ein gebrochenes Bein einfach absägt und dann fachmännisch auf die durchschnittene Arterie hinweist, während der Patient verblutet. Ganz so schlimm war der echte Monro vermutlich nicht, aber die Szene ist auch nicht ganz so satirisch überzeichnet, wie man glauben könnte. Wenn sich jemand unters Messer begab war das ein Beweis dafür, dass er enorme Schmerzen hatte. Da die Narkose erst noch erfunden werden musste, wurden die Patienten auf ein Brett geschnallt und bei Bedarf von kräftigen Männern festgehalten. Das Überleben der Gefolterten hing entscheidend von der Schnelligkeit des Chirurgen ab. Die häufigste Operation, das Entfernen von Gallensteinen, dauerte im Durchschnitt sechs Minuten.
Bransby Cooper erhielt in einem der großen Londoner Krankenhäuser eine Chirurgenstelle, weil er der Neffe des ungleich talentierteren Astley Cooper war (ab 1827 Präsident des Royal College of Surgeons). 1828 nahm er bei einer Lehrveranstaltung an einem Arbeiter namens Stephen Pollard eine Gallenblasenoperation vor. Er brauchte fast eine Stunde. Nach dem ersten Einschnitt konnte er den Stein nicht finden. Danach suchte er ihn mit verschiedenen Instrumenten, wühlte mit bloßen Fingern in der Wunde des vor Schmerz brüllenden Opfers und entdeckte endlich den Stein, den er triumphierend hochhielt, um den Studierenden anschließend zu versichern, dass er sich die aufgetretenen Probleme nicht erklären könne, während der gefesselte Patient ohne Versorgung auf dem Operationsbrett lag. Pollard wurde dann zur Ader gelassen (das Allheilmittel der Barbiere) und mit Blutegeln behandelt. 24 Stunden später war er tot.
Thomas Wakley veröffentlichte in der von ihm gegründeten Fachzeitschrift The Lancet einen Bericht über die Quälerei und einen zweiten über die Obduktion: es hatte sich um einen ganz normalen Gallenstein gehandelt. Cooper verklagte Wakley wegen Rufschädigung auf 2000 Pfund und bekam von der Jury nur 100 zugesprochen. Das wurde allgemein als eine Bestätigung der Darstellung in The Lancetverstanden. Das Verhalten der Chirurgen hatte mehr mit Standesinteressen und Gruppensolidarität zu tun als mit Fürsorge für die Patienten. Etablierte Kollegen von Bransby Cooper ließen verlauten, dass der Medizinkritiker Wakley (auch ein ausgebildeter Chirurg) nicht würdig sei, mit Gentlemen zu verkehren. Nach diesem Prozess mussten sie sich allmählich umstellen. Für Ruth Richardson, die mit Death, Dissection and the Destitute das beste Buch zum Thema geschrieben hat, ist er ein Meilenstein in der Geschichte des Arzt-Patienten-Verhältnisses.
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