Leistungsgesellschaft: "Ich kann und will noch mehr!"

Was motiviert uns zum Weitermachen? Über ein merkwürdiges Verhältnis: Leistung und Ehrgeiz in der Krise. Der doppelte Boden unserer Gesellschaft. (Teil1)

Immer wieder erscheinen Studien, die über die Bedeutung von Leistung und Ehrgeiz in den Industriegesellschaften forschen oder vielleicht auch nur sinnieren: Definiert Leistung immer noch das Selbstverständnis von postkapitalistischen Gesellschaften? Was heißt hier "postkapitalistisch"?

Krisen und grundlegende Überzeugungen

Damit wird eine Epoche beschrieben, in der sich Krise an Krise reiht und die Grundüberzeugung einer kapitalistischen Gesellschaft, dass der Markt und Geldströme alle Bedarfe einer Gesellschaft befriedigen können, in vielen Bereichen vorherrschend ist.

Betriebswirtschaftlichkeit in allen Lebensbereichen

Auch wird an jede Unternehmung – auch im sozial-karitativen Feld etwa – die gleiche betriebswirtschaftliche Bilanzierung angelegt: Welchen Ertrag werfen sie ab? Welchen Profit kann ich erwarten? Wie kann ich diese Gewinnspanne maximieren?

Postkapitalistisch kann hier heißen: Die Einbindung in gesellschaftliche Kontexte wurde überwunden und das Geldwirtschaften wird zum Selbstzweck, zum Goldesel einer ordensähnlich organisierten Kleingruppe, die sich die Taschen füllt und Max Stirners Philosophie des Eigners auf die Spitze treibt.

Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die "gute Sache" sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn.

Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum

Egoismus

Alles, was wir tun, hat seinen Ursprung im Egoismus. Stirner führt das an unzähligen Beispielen aus.

Was treibt diese kapitalistisch organisierte Leistungsgesellschaft an? Was motiviert den Unternehmer, seine Unternehmungen zu starten? Was bringt den Arbeitnehmer an seinen Arbeitsplatz? Welche Wirklichkeit zerbricht den frühmorgendlichen Traum und bringt statt der Sonne die Glühbirne in die Mietwohnung?

Was motiviert uns zum Weitermachen? Sollen wir noch weiter fragen? Was gibt den Impuls für unseren Atem? … Wir schlucken, halten kurz inne und merken auf: Ist es wirklich so existenziell?

Wozu der Ehrgeiz, wenn ich unter diesem Leistungsdruck zerbreche?

Die Frage, ob wir uns eine Mietwohnung, einen Umzug überhaupt leisten können, ob wir mit einem Job über die Runden kommen, ob wir eine ausgewogene Work-Life-Balance, also ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Alltag, hinbekommen, reicht tief in das Leben vieler Bürger und Bürgerinnen.

Wenn alles so läuft wie gewöhnlich, merken wir nicht viel auf, denn das Leben geht seinen Gang. Erst, wenn die Löcher im Portemonnaie größer werden, stutzen wir und fragen uns: Wozu all der Ehrgeiz, wenn ich unter diesem Leistungsdruck zerbreche?

Oder ist gerade der Ehrgeiz nicht meine primäre Motivation? Bringen mich vielleicht nur diese Ambitionen aus dem Jammertal?

Der Reiz, es besser zu haben

Die Autorin Andrea Stift-Laube hat sich mit den vielfältigen Aspekten von Ehrgeiz auseinandergesetzt und ein Buch darüber geschrieben. Der Anreiz, aktiv zu werden und nicht auf der Ausgangsposition stehenzubleiben, liegt in der Natur des Menschen.

Der Reiz, "es besser zu haben" und aufzusteigen, kristallisierte sich wohl nach den beiden Weltkriegen heraus, als nach einer gewaltigen Zäsur der Wunsch nach Wiederaufbau und "Normalisierung der Verhältnisse" besonders groß war.

Die Kehrseite der Geldströme – die Dialektik der Aufklärung – sind steigende Müllberge, die Hazardisierung unseres Planeten, steigende Armut und mangelnde Klimagerechtigkeit. Stift-Laube sieht Ehrgeiz nicht unbedingt mit Gerechtigkeit verbunden.

Was aber passiert, wenn ein allzu ambitionierter Unternehmer über Leichen geht? Wenn der Ehrgeiz diejenigen, die nicht auf der Höhe sind, überrollt? Wenn der Ehrgeiz zum Virus der Leistungsgesellschaft wird?

Der Überschlag in die Passivität

Wer sich anstecken lässt, steigert sich zu immer mehr Leistung. Bis zum Kipppunkt, ab dem der Wohlstand in Armut umschlägt. Ab dem Punkt, an dem Leistungsbereitschaft in Passivität mündet, aus der so viele bittere Lebensenergie strömt, dass die Arbeitenden zu lebenden Leichen mutieren, zu Zombies. War da nicht was? Eine besondere Faszination des Grauens in der Popkultur für Zombies?

Aber fokussieren wir uns auf den Ehrgeiz, der zu Höherem antreibt. Ohne den Ehrgeiz, am Ende des Tages mehr zu haben, ist eine Leistungsgesellschaft nur schwer vorstellbar. Ehrgeiz erscheint hier als positiv besetzter Begriff; Andrea Stift-Laube antwortet im Gespräch mit Telepolis jedoch:

Im Zuge der Recherchen meines Buches habe ich in erster Linie negative Konnotationen eruiert. Dabei hat man früher zwischen Ehrgeiz und Ehrsucht unterschieden, wenn man letzteres an den Tag legte, dann war das wirklich nicht gut.

Andrea Stift-Laube

Heute fällt die Leistungsbereitschaft eher unter die Selbstoptimierung – in der Erweiterung unseres individuellen Körpers versuchen die Menschen, das Bestmögliche im sozialen Körper Gesellschaft für sich "herauszuholen".

Die Überall-Präsenz des Internets, der digitalen Technologien führt zu einer Verfügbar- und Erreichbarkeit, die ein ständiges Update erfordert.

Einige trinken halbstündlich ein Glas Wasser, weil sie von ihrem Handy dran erinnert werden, andere hören immer wieder mit dem Rauchen, Trinken oder Essen auf. Die meisten übertreffen sich selbst monatlich im Laufen immer neuer, immer noch längerer Distanzen.

Bei vielen ist es relativ augenfällig, was sie damit kompensieren (fehlenden beruflichen Erfolg, eine unglückliche Beziehung, ein trostlos wirkendes Leben). Der kleine Computer Handy hat uns ganz schön im Griff. Und wir greifen zu, im besten Wissen und Gewissen, uns mit permanenter Selbstkontrolle zu immer neuen Höchstleistungen anzutreiben.

Das sind wir uns schuldig, und auch der Gesellschaft – denn wenn es die Möglichkeit gibt, so nebenbei Gewicht zu verlieren, siebzehn Sprachen zu lernen, geistig und körperlich gesund zu bleiben, unser Mobilitätsverhalten zu tracken und unsere Allgemeinbildung zu verbessern, wieso sollten wir sie dann nicht nützen?.

Andrea Stift-Laube, Ehrgeiz

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