Lektionen aus dem Syrien-Krieg
Die verschwundene politische Opposition: "Wir waren naiv." Und die Lehre der Interventionisten: "Mehr denn je müssen die Amerikaner in andere Länder, um zu Hause sicher zu sein."
Nachher ist man immer klüger, sagt man; "lessons learned", hieß das bei den Amerikanern nach dem Irak-Krieg. Der syrische Konflikt ist noch nicht zu Ende, aber es werden erste Bilanzen gezogen. 2021 sind es zehn Jahre nach Ausbruch der arabischen Revolten. Zum Jahresende tauchen die ersten Einschätzungen zur euphemistisch "Arabellion" genannten Welle an Protesten gegen die Machthaber in Tunesien, Ägypten, Bahrain, Syrien und Libyen auf.
Syrien ist ein spezieller Fall, nicht nur weil Baschar al-Assad an der Macht geblieben ist.
"Zusteuern auf eine Gewaltspirale in unvorstellbarem Ausmaß"
Die Kriege in Syrien haben das Land zerrüttet: Berichtet wird von über 500.000 Toten, wobei diese Angabe eine grobe Schätzung ist, aber die einigermaßen verlässliche Zahl von 6,7 Millionen Binnenflüchtlingen und 5,5 Millionen Bewohnern, die seit Beginn der kriegerischen Gewalt außerhalb des Landes flohen, was zusammengerechnet mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Jahr 2011 (21,8 Mio) ausmacht, spiegelt schon einen Teil der verheerenden Wucht wider, die das Land an den Rand des Ruins gebracht hat.
Der Syrer Michel Kilo hatte in einem Telepolis-Interview aus dem Jahr 2006 befürchtet, dass man "im Nahen Osten auf eine Gewaltspirale in unvorstellbarem Ausmaß" zusteuere, sagte er Mona Sarkis (Eigentlich waren wir an der Reihe).
Das Interview mit einem der damals führenden syrischen Oppositionellen ist im Rückblick aus mehreren Gründen, die hier nicht ausgeführt werden und die der Leser schnell selbst für sich entdecken wird, interessant (wie auch Mona Sarkis frühe Einschätzung: Syrien stirbt).
Die Gewalt befürchtete Kilo damals vor allem von der US-Hegemonie mit ihrem Waffenarsenal - der Einmarsch im Irak lag gerade 3 Jahre zurück, die USA besetzten das Nachbarland Syriens -, durch Israels Politik der militärischen Stärke und dem dadurch bestärkten Wiederaufleben des Fundamentalismus in der Region. "Diese Region muss sich jetzt ihrer Haut wehren, egal wie", sagte er und auf die Frage "Auch mit den Mitteln der Fundamentalisten?" antwortete er:
Meinen Sie, ich begrüße sie? Ich, ein Christ und Oppositioneller, der sein Leben lang für mehr Demokratie kämpfte und dafür ins Gefängnis ging? Aber sie scheinen die einzigen, die noch wehrhaft sind. Wenn die Gewalt so weitergeht - wovon ich überzeugt bin - erkennt man diese Region in zehn Jahren nicht wieder. Wir müssen uns wehren.
Michel Kilo
Bemerkenswert ist auch die Ergänzung. "Aber mit dieser Art von Wehrhaftigkeit entfernt sich die Region weiter denn je von einer Lösung?", fragt die damalige Telepolis-Autorin Mona Sarkis. "Weiter denn je", bestätigt Kilo.
Nun ist Kilo seit beinahe zehn Jahren im Exil in Frankreich, wie Georges Malbrunot, der Nahost-Spezialist des Figaro, in einem aktuellen Interview mit dem "Urgestein der syrischen Opposition" (Karin Leukefeld) schreibt. In dem Interview erzählt Kilo davon, was vor etwa zehn Jahren falsch lief:
Wir waren naiv. Wir hätten eine Lösung mit dem Regime finden müssen, bevor der innersyrische Konflikt zu einem winzigen Teil des Krieges wurde. Aber das Regime wollte nie eine solche Lösung, und in unserem Land war es auch schwierig, das zu sagen, weil die Leute glaubten, dass die Amerikaner intervenieren würden.
Michel Kilo
Die Opposition ist verschwunden, so Kilo. Bestimmend sei nun der Einfluss Russlands, der Türkei, Irans und Israels, das habe in dieser Form auch die syrische Regierung nicht vorhergesehen; die Bevölkerung sei vernichtet, ebenso die Anhänger Baschar al-Assads.
Zwei Assadien
Irgendwie funktioniert aber dessen Regierung doch noch, wie Kilo mit seinem Vorhaben einräumt, ein Buch über die zwei "Assadien" zu schreiben, die nun in Syrien existieren, das eine Assadije mit der Hauptstadt Damaskus, das andere mit der Hauptstadt Idlib. Beide würden sich derselben Techniken der Unterdrückung bedienen.
Dass frühzeitige Verhandlungen mit Baschar al-Assad Syrien, der Region wie auch anderen Teilen der Welt einen immensen Schaden erspart hätte, davon ist auch der niederländische Diplomat Nikolaos Van Dam überzeugt, der von 2015-2016 Sondergesandter der Niederlande in Syrien war und bei seinem Aufenthalt enge Kontakte zur Opposition knüpfte.
Verhandlungen hätten immenses Leid erspart
Seine Bilanz, die er auf Joshua Landis Blog Syria Comment ausführlich darlegt auf den Kern gebracht:
Die Situation in Syrien hat sich seit dem Beginn der syrischen Revolution im Jahr 2011 zu einer Katastrophe entwickelt. Meine Botschaft war von Anfang an, dass zur Lösung des Konflikts ein Dialog zwischen der Opposition und dem Regime notwendig sei. Aber schon recht früh wurde jeder Dialog mit dem Regime strikt abgelehnt, nicht nur von der Opposition, sondern auch von vielen ausländischen Staaten, die die diplomatischen Beziehungen zu Damaskus abbrachen und ihre Botschaften schlossen.
Viele Demonstranten forderten den Sturz des Regimes und die Hinrichtung des Präsidenten (al-Sha'b yurid isqat al-Nizam; al-Sha'b yurid I'dam al-Ra'is). Und das Regime wollte keinen Dialog mit denen, die seinen Sturz und seine Verfolgung wollten.
Im März 2012 habe ich argumentiert, dass es besser wäre, al-Asad mit 10.000 Toten zu haben (was damals die Zahl der tödlichen Opfer war), als al-Asad mit 300.000 Toten zu haben (was sich später sogar als noch schlimmer herausstellte, indem es in Richtung einer halben Million Toter ging). Dazu wäre ein Dialog mit dem Regime notwendig gewesen.
Meiner Meinung nach war es besser, einen gescheiterten Dialog zu haben als einen gescheiterten Krieg mit einer halben Million Toten, mehr als 10 Millionen Flüchtlingen und einem Land in Trümmern. Aber viele lehnten jeden Dialog mit dem Regime ab, mit dem Argument, dass dieser ohnehin nutzlos sei.
Als Sondergesandter für Syrien habe ich versucht, der syrischen Opposition einen aus meiner Sicht realistischen Rat zu geben. Ich hätte natürlich den einfacheren, populäreren Weg gehen können und mich der Opposition und vielen anderen in ihrem Wunschdenken anschließen können, dass das Asad-Regime ohnehin durch politischen Druck, UN-Resolutionen und militärische Unterstützung durch westliche und arabische Länder zu Fall gebracht werden würde, aber diese Länder schufen falsche Erwartungen.
Nikolaos Van Dam
Nachher ist man klüger?
In den USA werden nach der Abwahl Donald Trumps wieder Stimmen laut, die für mehr Einmischung plädieren. Aktuell ist es Leon Panetta, CIA-Chef unter Obama, der seine lesson learned in die Formel gießt: "More than ever, Americans must go abroad to remain secure at home." Übersetzt:
"Mehr denn je müssen die Amerikaner in andere Länder, um zu Hause sicher zu sein."
Die Interventionisten bekommen wieder Aufwind, hieß es, nachdem der neugewählte Präsident Biden Anthony Blinken als künftigen US-Außenminister vorstellte (US-Außenpolitik: Interventionisten voller Vorfreude). Seither diskutieren Experten und Journalisten in den Medien über Zurückhaltende (Restrainers) und Interventionisten. Von Blinken und anderen, die zur neuen Administration gehören sollen, werden frühere Aussagen zitiert, die bedauern, dass die US-Politik in Syrien falsch lag.
"Wir haben in Syrien versagt", so Antony Blinken in einem CBS-Interview. "Und das ist etwas, das ich für den Rest meiner Tage mit mir nehmen werde. Es ist etwas, das ich sehr stark empfinde. Was seither passiert ist, ist, dass eine schreckliche Situation noch schlimmer gemacht wurde."
Die Frage ist nun, wie die neue US-Außenpolitik unter seiner Leitung die Situation verbessern will? Dass er nicht vorhat, passiv zu bleiben, bekräftigte Blinken schon allein mit dem Führungsanspruch, den die USA seiner Auffassung nach - wie auch Bidens - wieder beanspruchen werden, und mit der Kritik an Trumps Syrien-Politik, die "erhebliche Hebelwirkung aus Syrien weggenommen" habe.
Zu den Spekulationen über die künftige Syrienpolitik der USA, die in den großen Rahmen der Iran-Politik gehört, heißt es, dass die neue Administration beeindruckt sei über die starke Wirkung, die die Sanktionen haben, und dass man von diesem Instrument nicht ohne Weiteres lasse.
Und es gibt eine Spekulation, die die Zeitung der al-Sauds, Asharq Al-Awsat, kürzlich lancierte und die ein Medium der syrischen Opposition, der Syrian Observer, weiterverbreitet. Sie lässt nichts Gutes ahnen.
Dass Biden die Politik der Trump-Administration fortsetzen will, die Baschar al-Assad den Wiederaufbau so schwer wie möglich machen will, war zu erwarten, wie auch dass der Ton und damit wahrscheinlich auch das Agieren gegenüber Russland wieder schärfer wird. Aber was darüber hinaus "aus einem Gespräch zwischen Mitgliedern der syrischen Gemeinschaft in den USA und einem Berater der Biden-Kampagne" geleakt wird, klingt nicht nach gelernten Lektionen:
Der Berater erklärte, dass Bidens Ansatz für die Erhaltung der Präsenz der Streitkräfte im Nordosten Syriens ist, "weil [die Präsenz] zeigte, dass es eine Abschreckung für russische und Regime-Luftangriffe ist. Gleichzeitig wird Bidens Ansatz nach Möglichkeiten suchen, die türkischen Operationen in Idlib zu stärken, die derzeit fast drei Millionen Menschen vor syrischen und russischen Aggressionen schützen."
Er fügte hinzu: "Unabhängig von unseren Differenzen mit der Türkei im Moment sind wir uns der Auswirkungen ihrer Operationen in Idlib auf den Schutz des Lebens der Syrer bewusst, und wir werden dabei Hand in Hand [zwischen den USA und der Türkei] arbeiten."
Syrian Observer
Das bleibt hoffentlich nur ein böses Gerücht. Nachdem die USA mit mindestens 1 Milliarde Dollar den islamistischen, salafistischen und dschihadistischen Milizen so sehr geholfen hatte, dass Idlib nun unter der Herrschaft einer al-Qaida-Truppe steht (insofern hat Kilos Gleichsetzung der "Assadien" nur beschränkte Aussagekraft), müsste doch eigentlich gelten: Nachher ist man klüger - außer man will genau das.