Lernen in Computernetzen

Die Virtuelle Hochschule Bayern feiert 1. Geburtstag - ein Gespräch mit Nicolae Nestor von der Universität München

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit dem 16. Mai 2000 ist der bayrische Hochschulverbund online: Virtuelle Hochschule Bayern. Nach der einjährigen Startphase werden ab Mai diesen Jahres alle 200.000 bayrischen Studenten Teile ihres Studiums virtuell bearbeiten können. Das virtuelle Angebot ist als Ergänzung zum traditionellen Studium gedacht und erweitert sowohl die wissenschaftliche Praxis mit den neuen Medien, wie auch den Begriff der universitären Lehre an sich.

Noch vor Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen hat sich damit ein ganzer Hochschulverbund in das Abenteuer virtuelle Lehre gestürzt. Wer dabei an Computer Based Trainigs (CBT) denkt, die trockenen Stoff mit Multiple-Choice-Abfragen und skurrilen Maskottchen an den Mann oder die Frau bringen, wird von den unterschiedlichen Ansätzen und Ideen, die die Fachbereiche unter dem Hut der VHB realisieren positiv überrascht werden. Virtuelles Lernen im verteilten Umfeld - näher an der Berufspraxis kann man kaum studieren. Naheliegenderweise gibt es auch so praktische Themen wie "Wissenmanagement" und "Virtuelles Lernen in Computernetzen" vom Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und pädagogische Psychologie an der LMU in München (Prof. Dr. Heinz Mandl).

Dort betreut Nicolae Nistor im Rahmen des Projekts KOALAH (Kooperatives Arbeiten und Lernen an der Hochschule) einen virtuellen Kurs, der die Vermittlung pädagogischer Kompetenz in der virtuellen Lehre zum Ziel hat. Denn anders als in vielen Weiterbildungstrainings für den PC ist das Studium via Internet sowohl methodisch als auch sozialpsychologisch eine Herausforderung an den Planer und Instruktor/Dozenten eines Kurses: Ein Lernziel muss in Lernschritte aufgeteilt werden, lerngruppengerechtes Zusammenarbeiten an einem Thema (Kollaboration) muss ermöglicht werden und eine sinnvolle Lernkontrolle und Moderation von Chatdiskussionen, Dozentenfragestunden per Forum und vieles mehr muss koordiniert werden. Und das ganze sollte dann noch attraktiv gestaltet sein. Viele Nutzer wünschen sich Videokonferenzen, schickes Design und moderierte Foren rund um die Uhr und und und... Wie also macht man eine virtuellen Kurs für reale Studenten?

: Herr Dr. Nistor, Sie leiten im Rahmen der VHB ein Seminar über das Lernen in Computernetzen. Ist das nun die notwendige Evolution des klassischen CBTs, wie es in vielen Firmen seit einigen Jahren zur Fortbildung genutzt wird?

Nicolae Nistor: Nein, ich sehe mein KOALAH-Seminar überhaupt nicht so. Der wesentliche Unterschied zu den CBTs besteht in der Interaktivität: Hier werden keine Inhalte dargestellt (weder multimedial noch anders), sondern einfach auf Fachliteratur verwiesen. Im Mittelpunkt des didaktischen Konzepts steht die Gruppenarbeit bzw. die Interaktion zwischen den Seminarteilnehmern. Außerdem wurde hier nicht ein altes CBT-Konzept übernommen und an die Internet-Umgebung angepasst, sondern wurde ein völlig neues Konzept (auf vorhandenen, pädagogisch-psychologischen theoretischen Grundlagen) entwickelt.

Was ist das Neue Ihres Konzepts und warum verzichten Sie auf die Erfahrungen im CBT?

Nicolae Nistor: CBTs sind im Prinzip nur eine Art, Lernstoff darzubieten, also meistens "Umblättermaschinen" - und darauf verzichten wir gerne, lieber lesen wir einfach Bücher. Die Interaktivität ist dabei auch meistens recht rudimentär - Fragen, multiple choice Antworten, die auch ziemlich rudimentär ausgewertet werden. Im KOALAH verwenden wir ein problemorientiertes Konzept, das wir speziell für das virtuelle Seminar entwickelt haben, und dabei gibt es "richtige" Interaktion sowohl zwischen den Seminarteilnehmern (nach einem klar ausgearbeiteten kooperativen Konzept) als auch zwischen Teilnehmern und dem Seminarleiter.

Was unterscheidet ein virtuelles Studium von einer betrieblichen Weiterbildung im Inter- oder Intranet?

Nicolae Nistor: Schwer zu sagen... Im Prinzip sollte es keinen wesentlichen Unterschied geben: beide sollen gegebenen Lernbedürfnissen der Teilnehmer entsprechen und vor einem bestimmten theoretischen, pädagogisch-psychologischen Hintergrund (z.B. problemorientiertes Lernen) entwickelt werden. Aber die Lernbedürfnisse sind unterschiedlich, die Lernumgebungen werden unterschiedlich realisiert. Den Vergleich finde ich prinzipiell problematisch.

Wird jemand mit Erfahrung in computerbasierter Weiterbildung im Betrieb im virtuellen Studium völlig umdenken müssen. Die Kommunikationswege E-Mail, Chat, Videokonferenz werden sich doch auch im Virtuellen Studium wiederfinden?

Nicolae Nistor: Natürlich gehören Email, Chat usw. zum virtuellen Studium; ich würde eher sagen, dass sie nicht zu den CBTs gehören. Unter CBT verstehe ich eben die alten Lernprogramme, in denen irgendwelche Inhalte präsentiert und ab und zu Fragen dazu gestellt werden. Aber sicherlich haben sich auch diese Programme in den letzten Jahren in die virtuelle Richtung bewegt.

Im Rahmen einer Studie der Heinz-Nixdorf-Stiftung wurden 1997 mangelhafte finanzielle Unterstützung und geringe Evaluation (29%) der virtuellen Lernprojekte im Computerunterstützen Lernen festgestellt. Bei den lauten Rufen der Politiker nach Modernisierung der Lehre stellt sich die Frage nach finanzieller Hilfe von politischer Seite. Gibt es denn mittlerweile genügend Mittel zur Vor- und Nachbereitung solch innovativer Veranstaltungen wie die VHB-Projekte am Lehrstuhl Prof. Mandl?

Nicolae Nistor: Eher wenig. Das Konzept des KOALAH-Seminars wurde erstmals zwischen 1995 und 1997 entwickelt, also lange Zeit vor der Eröffnung der VHB. Das war meine Doktorarbeit und es gab dafür keine Extrafinanzierung. Die Evaluation des Seminars gehört auch dazu. Die Idee des Wissensmanagementseminars wurde von einer bereits durchgeführten (face-to-face) Veranstaltung des Lehrstuhls übernommen und vor dem Hintergrund unserer Erfahrung mit virtuellen Lernumgebungen weiterentwickelt. Für die Durchführung der Seminare stehen (theoretisch) Tutorengelder zur Verfügung, die einige Kosten abdecken sollen. Das ist eine nette Vorstellung, aber praktisch sieht es etwas anders aus: Die VHB steckt noch in Kinderschuhen und ihr Verwaltungssystem ist noch längst nicht perfekt. Also ist es gar nicht so selbstverständlich und auch nicht so einfach, dass wir diese Gelder tatsächlich bekommen.

Bitte ganz kurz ein paar Worte zur Idee und Absicht der virtuellen Kurse am Lehrstuhl Prof. Mandl.

Nicolae Nistor: Wie jeder Universitätslehrstuhl hat auch der Lehrstuhl Mandl zwei übergeordnete Zielrichtungen: die Forschung und die Lehre. In der Forschung beschäftigen wir uns mit den Neuen Medien, also explorieren wir die Möglichkeiten, die elektronische Medien in Zusammenhand mit neuen und/oder bewährten pädagogischen Konzepten, Prinzipien und Theorien bieten. In diesem Sinne ist es selbstverständlich, dass wir auch die Möglichkeiten (und Grenzen) des Lernens in Computernetzen untersuchen. Was die Lehre betrifft, wollen wir selbstverständlich auch, dass unsere Studierenden sich mit diesen Möglichkeiten auch auskennen und dass sie in der Lage sind, selbst in virtuellen Umgebungen zu unterrichten und virtuelle Lernumgebungen zu entwickeln und zu untersuchen.

Was sind Ihre Erfahrungen über die Akzeptanz seitens der Studenten. Sind die Kurse "überbucht"? Und wie hoch ist der Prozentsatz derjenigen, die vorzeitig abbrechen?

Nicolae Nistor: Die Akzeptanz der Studierenden ist generell sehr hoch -- wobei es sich zeigt, dass das virtuelle Lernen nicht den Präferenzen oder dem Lernstil von jedem Studierenden entspricht. Überbucht wäre - von den zwei virtuellen Seminaren, an denen ich beteiligt bin - nur das Wissensmanagementseminar, weil das Thema sehr neu und sehr aktuell ist. Das andere Seminar ("Lernen in Computernetzen") wird genauso wie alle anderen (traditionellen) Seminare besucht.

Ungefähr ein Drittel der angemeldeten Teilnehmer steigen während des Seminars aus. Wie es sich durch viele empirischen Studien belegen lässt, ist das eine normale, eher geringe Zahl für eine virtuelle Veranstaltung; ähnlich sieht es auch in den traditionellen Seminaren aus. Durch eine verbesserte (d.h. verstärkt problemorientierte, besser strukturierte) Konzeption des Seminars ließ sich die drop-out Rate allerdings etwas vermindern.

Natürlich haben wir uns im Rahmen der Evaluation über die Motive gefragt. Die Antwort ist aber etwas schwierig zu bekommen: Viele der ausgestiegenen Teilnehmer sind schwer erreichbar. Wenn sie aber erreichbar sind, dann ist die Antwort sehr höflich: keine Zeit, Koordinationsschwierigkeiten mit anderen Veranstaltungen oder Prüfungen, Probleme in der Familie etc. Diese sind - meiner Meinung nach - teilweise wortwörtlich zu verstehen, teilweise sollen sie auf geringere Akzeptanz verweisen: Es gibt also andere (möglicherweise traditionelle) Veranstaltungen, die Vorrang haben, diesen gegenüber ist die Akzeptanz der Studierenden möglicherweise höher.

Die Akzeptanz ist also nachweislich hoch, allerdings abhängig von der Abstimmung zwischen dem persönlichen Lernstil der Studierenden und der Gestaltung der virtuellen Lernumgebung. Letzteres soll in weiteren Studien näher betrachtet werden.

Haben Sie schon Vergleiche angestellt, welche Lern- bzw. Charaktertypen besser mit einer virtuellen Lernumgebung zurechtkommen bzw. welchen man vom virtuellen Lernen abraten sollte?

Nicolae Nistor: So genau wissen wir das nicht. Aber diese Frage möchte ich sowieso nicht beantworten: Wer mit einer computerbasierten oder virtuellen Lernumgebung nichts anfangen kann, der wird es selber wissen. Das Problem ist woanders: Ich finde es falsch, das Wissen über Lerntypen unserer Studierenden auszunutzen, um die Teilnehmer von virtuellen Lehr-Lernveranstaltungen zu selektieren. Vielmehr sollten wir die Lernumgebungen so gestalten, dass möglichst alle Lerntypen angesprochen werden. Es gibt eine sehr interessante Forschungsfrage, mit der ich mich zur Zeit beschäftige, und zwar: Welche Gestaltungselemente virtueller Lernumgebungen sprechen welche Lerntypen an? Wenn wir mehr darüber wissen, dann können wir diejenigen Gestaltungselemente auswählen, die am besten zu unseren Studierenden passen.

Wie sind die Erfahrungen der Lehrenden? Hat diese Form des Studiums eine Zukunft als Begleitphänomen der Lehre, oder ist eine Umstrukturierung der universitären Vermittlung von Wissen in Richtung Inter- und Intranet zu erwarten?

Nicolae Nistor: Von "Erfahrungen des Lehrkörpers" kann man kaum sprechen, weil es immer noch sehr wenige Dozenten gibt, die sich an virtuellen Veranstaltungen beteiligen. Anders bei uns am Lehrstuhl: sehr viele meiner Kollegen haben damit zu tun - entweder als (weitgehend) virtuelles Seminar oder Tutorium oder als Mix, d.h. Präsenzseminar mit virtuellen Komponenten (oder andersherum).

Es ist tatsächlich ein Begleitphänomen der Lehre. Man kann nicht davon sprechen, dass der traditionelle Unterricht eines Tages von virtuellen Vorlesungen und Seminare ersetzt wird, er wird nur ergänzt. In diesem Sinne sehe ich auch eine viel versprechende Zukunft der virtuellen Lehr-Lernveranstaltungen, vor allem deshalb, weil die bisherigen Ergebnisse so gut sind.

Der verstärkte Einsatz virtuellen Lernens erfordert auf jeden Fall eine Umstrukturierung der "universitären Wissensvermittlung": Die alten "didaktischen" Konzepte (z.B. einer trägt etwas vor, die anderen schlafen auf ihren Stühlen - etwas überspitzt formuliert) taugen überhaupt nichts in virtuellen Umgebungen. Die modernen Konzepte (z.B. problemorientiertes oder fallbasiertes Lernen) aber sind hervorragend dafür geeignet. Gute Lehre geht nur über die aktive Beteiligung der Studierenden. Insofern ist der Erfolg der verschiedenen Lernformen keine Frage des Mediums, sondern der didaktischen Konzeption. Die Frage des Mediums ist aber ein wunderbarer Anlass dafür, dass wir - Dozenten - uns mit den bisherigen Lehr-Lernformen kritisch auseinandersetzen.

Und wie wichtig ist die Präsentation der virtuellen Lehr- und Lernumgebung? Kommt es auf Multimediafähigkeiten an oder reicht eine einfache HTML-Präsentation. Gibt es da Parallelen zur Entwicklung der Gestaltung von Websites - usability, kurze Navigationswege, Einsatz sicherheitsrelevanter Techniken ...

Nicolae Nistor: Multimedia und die ganzen technischen Aspekte (Navigation, Ergonomie etc.) sind natürlich wichtig, aber sie sind schließlich nur Instrumente. Das wichtigste dabei sind die didaktischen Konzepte (die leider ziemlich oft mit den technischen Aspekten verwechselt werden). Wir sind inzwischen soweit, dass Technologien bzw. Neue Medien ein relativ gut strukturiertes Gebiet darstellen. Ein guter "Handwerker" wäre im Prinzip immer in der Lage, die passende Technologie einzuwenden, um eine bestimmte Idee zu realisieren. Gute Ideen, didaktische Konzepte sind aber immer eine große Herausforderung für die Spezialisten.