Libertinage, das antiliberale Rollback und der männliche Blick

Wenn die Wahrheit nicht zu den Schlagzeilen passt: Die Medien, Sex, Kinder und Kunst - Teil 2

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"Kinderpornographie" oder Kunst. Manchmal ist das schwer zu unterscheiden. Aber was hat das eine überhaupt mit dem anderen zu tun? Der "Fall Polanski" ist nicht nur ein Fall für den Rechtsstaat. Er stellt auch Fragen an unsere Kultur, für die es keine einfachen Antworten gibt.

Teil 1: Polanski und seine Feinde

The last few years I spent with her were the only time of true happiness in my life.

Roman Polanski, unmittelbar nach der Ermordung seiner Ehefrau Sharon Tate

Wie man jetzt mit Polanski umgeht, das ist zweierlei: Ein Beispiel grotesker Heuchelei und ein besonders deutlicher Einzelfall in einem allgemeinen antiliberalen "Rollback". Zur Heuchelei: Mit drei französischen Präsidenten hat Polanski in der Vergangenheit persönlich diniert. Von Hollywood hat er einen Oscar erhalten. Mit zahllosen Schauspielern und technischen Mitarbeitern, zuletzt vor allem in Deutschland, hat er zusammengearbeitet. In der Schweiz hat er bekanntlich ein Ferienhaus. An der Tür steht sein Name. wenn man ihn hätte verhaften wollen, hätte man das schon seit Jahren tun können. Um diesen Vorwurf zu entkräften hat die Staatsanwaltschaft von Los Angeles ein Papier vorgelegt, das anhand einer "Timeline" die zahlreichen Versuche belegen möchte, Polanski zu verhaften. Tatsächlich beweist das Papier das Gegenteil: Wie halbherzig man Polanski all die Jahre verfolgte.

Roman Polanski in Cannes (2002). Bild: Rita Molnár Das Bild "Roman Polanski..jpg" und steht unter der "Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen"-Lizenz 2.5". Der Urheber des Bildes ist Rita Molnár.

Zum allgemeinen antiliberalen "Rollback": Man lese die Statements von Künstlern und "liberalen" Politikern zum Fall in der New York Times: Hier wird Hollywood als ganzem der Prozess gemacht. Hier geht es darum, mit der Symbolfigur einer Gegenkultur abzurechnen. Das hat üble Tradition.

Schon Mitte der 1980er Jahre entfesselte man in den USA einen Kulturkrieg gegen Künstler wie Robert Mapplethorpe und Andres Serrano, die man für ihre "unanständigen" Werke und ihre expliziten Darstellungen von Sexualität angriff. Seit Anfang der 90er Jahre konnte man auch in liberalen und linken Kreisen zunehmend einen neuen Puritanismus beobachten, der bereit ist, Freiheitsrechte zugunsten des vermeintlich Guten zu opfern und insbesondere Kunst- und Medienprodukte und ihre Produzenten zu zensieren. Zensur hatte dabei in erster Linie immer mit Bildern zu tun, die Sexualität und die Gewalt zeigen. Erklärbar ist dies gewiss unter anderem mit Fürsorge für potentielle Opfer.

Aber es geht auch um Kontrolle von Libertinage. Und es geht um einen vergleichsweise leichten Gegner. Zu den größten Obszönitäten in der Polanski-Affaire gehört nämlich die Doppelmoral dieser selbsterklärten Moralwächter, gehört der Kontrast zwischen dem Lärm, der jetzt über den Fall Polanski gemacht wird und der Stille gegenüber dem Guantanamo-Präsidenten George W. Bush, dem Folter-Vizepräsidenten Richard Cheney und seinen Folterknechten die alle größtenteils straffrei ausgehangen sind. Dazu gehört auch das Schweigen über das Verhalten des liberalen Heldenpräsidenten Obama, der auch über ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt weder Guantanamo geschlossen, noch die Folterskandale der US-Regierung aufgearbeitet hat.

Zu dieser Welt gehörten die Mädchen, auch die ganz jungen

Polanski steht für die libertäre Kultur der Sechziger Jahre, für "Sex, Drugs & Rock'n'Roll". Damals lebte die Kunst- und Popkultur einen Lebensstil, der heute undenkbar wäre. Es war nicht nur im prüden Amerika eine Zeit der Freizügigkeit, man rauchte auf Partys nicht nur Zigaretten, man trank, nahm Drogen. Manches ist in den Filmen dokumentiert: Bis heute verhindern die Rolling Stones die Verbreitung von Robert Franks Tour-Dokumentarfilm "Cocksucker Blues" von 1972. Zu dieser Zeit gehörte Sexualität von einer Freiheit, die man heute schwer nachvollziehen kann - was wohl nicht nur an "Aids" liegt, sondern auch an den Neokonservativen und ihrer klugen Nutzung der Medien als Sprachrohr nicht zur Aufklärung, sondern für die ideologischen Kreuzzüge einer selbsternannten "Moral Majority".

Zu dieser Welt gehörten die Mädchen, auch die ganz jungen. Vielen geschah in dieser Szene gar nichts, sie waren einfach unbeteiligter Teil einer Kulisse, Groupies. Manchen geschahen hier aber ohne Zweifel Dinge, die sie nicht wollten, anderen Dinge, die sie später nicht wollten. Und wieder andere wollten, was ihnen geschah. Empörung ist hier billig. Aber es ist nicht notwendig so, dass manche Mädchen im Alter von 13 Jahren nicht genau wüssten, was sie tun, auch wenn es um Sex geht.

All das gibt es heute im Übrigen genau so wie seinerzeit, nur weniger offen, hinter den Kulissen, geschützt vor dem neuen Puritanismus im Namen der politisch-moralischen Korrektheit.

Es ist einfach, zu einfach, sich hier jetzt selbst ungefragt zum Anwalt des Opfers zu erklären, und als solcher Polanski zu verurteilen. Samantha Geimer, die seinerzeit 13-jährige, mit der Polanski Unzucht trieb, schildert ihre Situation im Rückblick glasklar:

Even now, so-called experts are using my situation on TV talk shows to push their own points, which have nothing to do with how I feel. Twenty years ago everything said about me was horrible. But these days it's not fashionable to bad-mouth the victim. Now I'm all ready to stand up and defend myself and everyone is saying "oh, you poor thing." But I'm not a poor thing. And I can't oblige everyone by becoming freaked out and upset just to make things sound more interesting. If Polanski comes back—fine. That would at least end it. It will never be over until that happens.

Spiritual America

Mich würden bis zu 50 Jahre Gefängnis erwarten, wenn ich wieder amerikanischen Boden betrete. Was der Einstellung des Verfahrens im Wege steht, ist die stockpuritanische Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit. In den Zeitungen nennen sie mich immer noch 'Roman den Schrecklichen

Roman Polanski

Man muss aber noch einen Schritt weiter gehen. Hier kommt nun das Bild mit Brooke Shields ins Spiel. Richard Princes' Installation "Spiritual America" zeigt eine zehnjährige Brooke Shields, die nackt einem Dampfbad entsteigt. Es wurde zensiert und von der Polizei "vorübergehend geschlossen". Ein Sprecher von Scotland Yard erklärte, das Bild einer nackten Minderjährigen könne als "sexuell provokativ" aufgefasst werden. An der nackten Haut allein liegt das nicht. Sondern am Alter des Modells.

Der Fall zeigt von einer ebenso erstaunlichen wie fragwürdigen Verschiebung der Tabugrenzen. Bilder, die man noch vor zwanzig Jahren ohne Probleme öffentlich zeigen konnte, stehen heute unter Verdacht. Was auch nur im Entferntesten unter den Verdacht der Pädophilie fällt, ist Tabu - selbst wenn es nachweislich von den Künstlern nie so gemeint war.

Man muss diese Logik zu Ende denken, und nur ein paar Beispiele unter vielen erwähnen: Ob Lewis Carolls "Alice in Wonderland" und seine Photographien von Alice Lidell, ob Oscar Wilde, ob Vladimir Nabokov, der "Lolita" erfand, ob Charlie Chaplin, der eine Vorliebe für sehr junge Mädchen hatte und 1924 eine sechzehnjährige von ihm schwangere Frau heiratete, ob Martin Scorsese, der in "Taxi Driver" Jodie Foster als 15-jährige Straßennutte die Rolle ihres Lebens gab, ob Louis Malle, der in "Pretty Baby" mit Brooke Shields genau das Gleiche tat, ob Woody Allen, der nicht nur "Manhattan" drehte, sondern 15 Jahre später noch seine Adoptivtochter heiratete - sie alle hatten, wie hunderte von Malern, Schriftstellern, Musikern und Philosophen vor ihnen, "inappropriate sexual relationships", die ihr Werk beeinflussten, manchmal prägten, oft erst motivierten. Ebenso wie Hunderttausende von Menschen, die keine Künstler waren.

Über zweitausend Jahre wurden sexuelle Verhältnisse zu Heranwachsenden als zumindest möglich und erlaubt angesehen und kulturell nicht verdammt. Gewiss gab es hierunter Fälle von Missbrauch und Ausbeutung. Aber waren das wirklich mehr als unter "Erwachsenen"? Können diese nicht traumatisiert werden? Was sagt es über eine Gesellschaft, dass sie Kunst verbietet, wenn sie zehnjährige Nackte zeigt, aber Folter billigt, wenn "Gefahr im Verzug" ist, oder die Opfer aus dem arabischen Raum stammen?

Der "barbarische Liberalismus" mache sich der dauernden Kinderschändung schuldig

Womit über all das nichts Abschließendes gesagt werden soll, aber daran erinnert werdeb, dass man die Dinge auch anders sehen könnte, als man sie heute sieht. Daran, dass Dinge relativ sind. Dass es eine Zeit gab, in der Zwölfjährige als erwachsene Frauen galten. Daran, dass die Grenzen zwischen Kind und Jugendlichem ebenso verschwommen und arbiträr sind, wie die zwischen Jugendlichem und Erwachsenem. Und daran, dass wir heute eine sehr widersprüchliche Zeit haben, eine Zeit, in der es im Kaufhaus String-Tangas für Achtjährige zu kaufen gibt, und in der Heranwachsende ihr "erstes Mal" in immer jüngerem Alter erleben, eine Zeit, in der ein 17-jähriger, der Sex mit einer 13-jährigen hat, kriminalisiert wird, man zugleich aber darüber diskutiert, 16-jährigen den Führerschein und das Wahlrecht zu geben, und 12-jährige als voll strafmündig anzusehen. Das Recht muss Kinder und Jugendliche schützen, manchmal sogar vor sich selber. Was Moral ist, und was nicht, muss aber jeder für sich selbst entscheiden.

Auch der im Augenblick überaus modische Diskurs über "Kinderschänder" und Pädophilie - die beide mit dem oben erwähnten nichts zu tun haben - steht nicht im leeren Raum, sondern in einem poltischen, kulturellen und medialen Zusammenhang. In einem bemerkenswerten Aufsatz ("Körperpolitik. Die Konstruktion des 'Kinderschänders' in der Zwischenkriegszeit."1) hat die Kulturwissenschaftlerin Brigitte Kerchner für einen anderen Zeitraum gezeigt: Die Thematisierung von "Kinderschändern" und das Betonen der Gefahr durch sie hat oft (immer?) etwas mit dem Reflex gegen kulturelle Liberalisierung zu tun. 1931 argumentierte die deutsche Rechte, der "barbarische Liberalismus" mache sich der dauernden Kinderschändung schuldig.

"Wie pädophil ist der männliche Blick?"

Wie uns die Psychoanalyse gelehrt hat, kehrt alles, was wir verdrängen, später wieder in unser Bewusstsein zurück - unwillkürlich und auf entstellte Weise. Das gilt auch für das, was Kulturen verdrängen. Es wäre deshalb falsch, die Faszination für junge Mädchen und ihre Körper schlechthin als "Krankheit", als "Perversion" oder als "Barbarei" abzutun, und es wäre zumindest voreilig, darin nichts als etwas Überholtes, Archaisches zu erkennen, das durch Aufklärung und Fortschritt, durch die Disziplinierungsmechanismen der Kontrollgesellschaft, kurzum: durch Modernisierung eingehegt und fortschreitend beseitigt worden wäre.

Was aber stattdessen? Vielleicht sollte man, ohne voreilige Entschuldigung, aber auch ohne Vorverurteilung die Spur verfolgen, die die deutsch-amerikanische, in Zürich lehrende Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen in einem bereits 1998 erschienen Zeitungsartikel ausgelegt hat: "Wie pädophil ist der männliche Blick?" fragt sie da 2. Und erinnert an eine jahrhundertealte Bildtradition, die ALLE Weiblichkeit, die von Frauen, von Mädchen, von Kindern, auf ihre Eigenschaft als Objekt des männlichen Blickes reduziert.

Infantilisierung, so Bronfen "potenziert" nur noch "diese auf einen verfügbaren Körper gerichtete Schaulust". Es ist unsere gesamte Kultur, nicht etwa nur ihre perverse Abart, die "ein mit dem männlichen Begehren kokettierendes Weiblichkeitsbild" entwirft, und jede Frau dazu bringt, sich als ewiges Mädchen zu gestalten und zu verhalten: "So wird ein pädophiler Blick kulturell durchaus sanktioniert, wenngleich auch scheinbar von der konkreten sexuellen Anschlusshandlung befreit."

Bronfens Überlegungen zwingen uns auch im Fall Polanski zur Ablehnung einfacher, klarer bequemer Antworten:

Die moralische Denunziation der Pädophilie arbeitet mit einer klaren Aufteilung der Rollen - auf der einen Seite der verdorbene, gewissenlos sich seinen Trieben hingebende ältere Liebhaber, der sein begehrtes Objekt missbraucht; auf der anderen Seite das arglose Kind, dem sexuelles Begehren ebenso abgesprochen wird wie jegliche Lust nach dem Verbotenen. Der Reiz, aber auch die Bedrohung der Sexualität besteht nun aber gerade darin, dass alle Beteiligten über sich verfügen lassen müssen. In Fragen der Verführung gibt es nie klare Täter- und Opferpositionen, sondern nur ein kompliziertes, überlagertes, sich gegenseitig einbeziehendes Changieren. Kinder sind nicht nur Objekte des Blickes, sondern durchaus von einem eigenen sexuellen Verlangen motiviert, wenngleich dieses Begehren widersprüchlich ist. Sie beherrschen die Gesten der Verführung, auch wenn ihnen die Konsequenzen dieser Gesten nicht bewusst sind. Wenn wir an dem Bild des unschuldigen und schutzbedürftigen Kindes festhalten, so tun wir dies möglicherweise deshalb, damit wir uns angesichts des Wissens darüber, dass wir alle von einer Faszination für den kindlichen Körper nicht frei sind, dem Kind als Objekt dieser verbotenen Regung, und somit stellvertretend uns selbst, jegliche Schuldfähigkeit absprechen können.

Die Grenze zwischen einen pädophilen und einem gesellschaftlich erlaubten männlichen Blick kann nach Bronfen gar nicht sauber gezogen werden. Gerade das Spiel mit dieser Grenze prägt Werbung und Modeszene. Damit wird nichts entschuldigt und kein Leid, auch kein Gefühl banalisiert. Aber Bronfen hat recht, wenn sie vermutet, unser Wissen um das prekäre Wesen unseres kulturellen Blicks "dadurch zu verdrängen, dass man es pathologisiert und kriminalisiert, ist möglicherweise ein ebenso gravierendes Vergehen wie gegenüber der realen Ausübung von Gewalt am anderen Auge blind zu sein."

Auch in diesen Kontext gehört der Fall Polanski. Aber die komplizierte Wahrheit passt nicht zu den einfachen Schlagzeilen.