Linke Kritik(un)fähigkeit und patriarchaler Rollback

Seite 2: Rechthaben genügt?

Hätte ich diesen Satz "Wir impfen euch alle!" als Demobeobachterin nicht selbst mehrmals gehört, hätte ich nicht glauben wollen, dass Antifas eine solche Parole rufen. Sind das die gleichen Leute, die sonst so viel Wert auf Achtsamkeit legen, sich den Kopf zergrübeln über ihre Privilegien und sich akribisch um eine gewaltfreie und inklusive Sprache bemühen?

Kann diese Konstruktion des "wir" und "ihr" nicht ebenso als Othering, als Konstruktion vom "Anderen", verstanden werden, wie es oft zurecht menschenfeindlichen Ideologien vorgeworfen wird?

Mit dieser verbalen Attacke wird anderen abgesprochen, überhaupt Gesprächspartner:innen, geschweige denn potenziell Verbündete zu sein. Da gelten auch keine minimalen Regeln höflicher Distanz mehr, wie sie zwischen politischen Gegnern üblich sein sollten, sondern die anderen werden zu Feinden gemacht, denen gegenüber keinerlei Respekt mehr erforderlich ist.

Dabei ist der Inhalt dieses Satzes keine Banalität. Egal, wie mensch zum Impfen steht, stellt es doch in jedem Fall einen Eingriff dar, eine Überschreitung der körperlichen Grenze und das Einbringen einer körperfremden Substanz, deren Wirkungsweise zumindest langfristig noch nicht bekannt ist, nicht bekannt sein kann.

Auch wenn es nur eine Parole ohne unmittelbare Wirkmächtigkeit ist (mittelbar kann sie auf Debatten um eine Impfpflicht einwirken), wirft sie doch alles, was in der Linken an Gewaltfreiheit und Respekt vor der Integrität einer jeden Person entwickelt wurde, über den Haufen

Es waren vorwiegend Impulse aus der Frauenbewegung, die linke Bewegungen für Grenzüberschreitungen verbaler und körperlicher Art sensibilisiert haben.

Die Parole "Wir impfen euch alle!" scheint einen patriarchalen Rollback zu markieren, der sich in den Umgangsformen auf der linken reflect-Mailingliste4 spiegelt, wo beispielsweise am 20. Januar 2021 ein:e User:in in autoritärem Befehlston schrieb: "Laber mich und andere nicht voll. Lockdown. Maske. Alle Impfen. Abwarten. Punkt."

Solche Antworten fängt sich leicht ein, wer auf Widersprüche in den offiziellen Verlautbarungen zu Corona hinweist, gar abweichende wissenschaftliche Meinungen zitiert oder auch nur kritische Fragen stellt.

Plötzlich kommt dann auch der Vorwurf "Schwurbler". Argumente scheinen nicht mehr nötig zu sein, es genügt zu behaupten, Recht zu haben, auch innerhalb linker Bewegungen, nicht nur im Umgang mit denen, die aus unterschiedlichsten Motiven auf Demos von Querdenken oder anderen Maßnahmekritiker:innen mitlaufen.

Wobei unter den Demonstrierenden auch Linke sind, aber auch Leute, die bisher nicht auf Demos gegangen sind. Da sind nicht alle so gut informiert, recherchieren nicht permanent, und ihnen vorzuwerfen, dass sie rechte Aussagen oder Nazis nicht gleich erkennen können, hat auch einen Beigeschmack von bildungsbürgerlicher Überheblichkeit, abgesehen davon, dass es nicht nur eindeutig rechts oder links einzusortierende Auffassungen gibt, sondern viele Zwischentöne.

Corona als das absolut Böse

Verbale Übergriffigkeiten sind nicht neu, haben aber mit Corona zugenommen. Beispielsweise versuchte jemand im April 2021 auf der öffentlichen, mittlerweile streng moderierten Attac-Diskussionsmailingliste inmitten erbitterter Streitigkeiten auch Gemeinsamkeiten zu formulieren und schlug vor:

Übereinstimmung: Leben schützen und anerkennen, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe.

Sogleich bekam er die Antwort:

Es ist ist keine Übereinstimmung von uns, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe. Das rhetorische Mittel Corona in einem Satz mit normaler Grippe zu setzen, kennst Du und es verharmlost die Situation und zieht indirekt einen Vergleich.

Diese Unterstellung einer Intention kann schon für sich als verbale Gewalt verstanden werden. Dass Corona nicht mit der Grippe verglichen werden dürfe, erinnert an das Argumentationsmuster, der Holocaust würde verharmlost, wenn er mit anderen Völkermorden verglichen würde. Schon der Begriff "Coronaleugner" kann Assoziationen zu "Holocaustleugner" wecken.

Wer Corona zum absolut Furchtbaren, Unvergleichlichen stilisiert, beansprucht eine nicht kritisierbare Position, schon Nachfragen gelten als Sakrileg. Insofern spiegelt sich in diesem kleinen Beispiel die kommunikative Verhärtung, die nicht nur innerhalb linker Diskurse, sondern in der ganzen Gesellschaft prägend geworden ist.

Hinzu kommt, dass der Vorschlagende ein einfaches Listenmitglied war, während der Antwortende kurz darauf in den Kokreis, das geschäftsführende Gremium von Attac, also in eine nicht ganz machtlose Position gewählt wurde.

Während Linke sich streiten, wissen die Rechten ihre Chance zu nutzen, geben sich mal wieder "nicht rechts, nicht links" und bauen an ihren Netzwerken.

Insofern sind akribische Antifa-Recherchen und aufklärende Öffentlichkeitsarbeit wichtig und notwendig, wenn sie überprüfbare Fakten zusammentragen. Mitunter ähneln jedoch die Vorwürfe, die von linker Seite gegenüber Maßnahmen-Skeptiker:innen geäußert werden, eher Verschwörungserzählungen als rationaler Kritik.

Verschwörungserzählungen und linke Kritik

Ingar Solty und Velten Schäfer haben Ende 2020 vier Eckpunkte zur Definition von Verschwörungserzählungen benannt5, die ich im Folgenden kurz (ggf. verkürzend) benennen und an ihnen Vorwürfe von links gegen Maßnahmekritiker:innen spiegeln werde:

Erstens seien "Verschwörungstheorien radikal simplifiziert und personalisiert". Das lässt sich über linke Kritik ebenso sagen, wenn auf Fragen oder Argumente nicht mehr eingegangen wird, sondern diese pauschal als "Geschwurbel" abgetan werden, und wenn es ausreicht zu behaupten, jemand stünde etwa den Querdenkern nahe oder sei bei denen aufgetreten, um sich mit so jemandem nicht mehr inhaltlich auseinanderzusetzen, egal was diese Person äußert, sei sie auch fachlich noch so kompetent.

Zweitens "denken (sie) in Schwarz und Weiß und kennen keine Schattierungen." Auch dies findet sich in Kritiken von links. Es deutete sich bereits früher bei anderen heiklen politischen Themen an, aber nun, wo die Corona-Diskussionen hoch aufgeladen um existenzielle Fragen von Tod oder Leben geführt werden, scheint die Kultur des vorsichtig fragenden Abwägens von Ambivalenzen und Widersprüchen gänzlich verloren gegangen zu sein.

Simplifizierende Parolen suggerieren stattdessen, es gäbe nur noch gut oder böse, falsch oder richtig – vielleicht ein Reflex auf das zunehmende Leben in digitalen Welten, deren Null-Eins-Null-Eins-Struktur sich unbewusst auch ins Denken und Fühlen einschreibt?

Drittens steht in ihnen "das Ergebnis jedweder gesellschaftlichen Debatte a priori fest." Das ist die klassische Haltung patriarchaler Rechthaberei, die im Grunde aus dem oben bereits Ausgeführten folgt.

"Und viertens gelangen sie stets zu einem apodiktischen Fazit. Sie wehren die Annahme ab, der Missstand sei veränderbar, erst recht innerhalb des gegebenen politischen Systems."

Hier ist die Parallele nicht ganz so einfach zu ziehen. Jedoch sehe ich eine ähnlich fatalistische Haltung in der Stilisierung von Corona als das absolut Böse, in der aggressiven Abwehr von Vorschlägen zur selbsttätigen Stärkung des Immunsystems und der hilflosen Hoffnung auf die Rettung durch die Impfstoffe der Pharmaindustrie.

Für Solty und Schäfer ist solches Verschwörungsdenken Ausdruck eines politischen Vakuums, "das durch die Schwäche einer antikapitalistischen Linken entsteht." Sie warnen: "Ganze soziale Felder schon bei Spuren 'unreinen' Denkens abzuschreiben, ist aber nicht nur unpolitisch, sondern zeugt auch von geringem Selbstbewusstsein."

Genau dies tun die Teile der Linken, die mit ihren feindlichen Attacken gegen Andersdenkende, denen ähnlich werde, die sie kritisieren wollen. Wo jedoch Kritik notwendig wäre, gegenüber den Mächtigen in Wirtschaft und Politik, zeigen sie oft eine erstaunliche Unfähigkeit oder ein Unwille. So wird Antifaschismus zur leeren Selbstdarstellung in der neoliberalen Konkurrenz um Aufmerksamkeit, bleibt ideologisch, ohne real etwas zu bewirken. Mit Erich Fried lässt sich feststellen:

Ein Faschist, der nichts ist als ein Faschist, ist ein Faschist. Aber ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist!

Sicher gibt es viele, die sich eher zurückziehen, das Corona-Thema meiden, um sich nicht zu zerlegen, wie es in Familien, Freundeskreisen und selbstorganisierten politischen Initiativen und Projekten viel zu oft geschehen ist. So sind vorwiegend die Lauten zu hören, und vielleicht ist es gar keine Mehrheit der Linken, die sich so aggressiv aufführt.

Bedachtere Stimmen, die abwägen und nach wie vor ein breites Meinungsspektrum respektieren, gibt es auch. Sie sind allerdings viel weniger wahrzunehmen und haben sich vorrangig nicht organisiert, um der zunehmenden Feindseligkeit, die letztlich nur den Mächtigen und den Rechten nützt, etwas entgegenzusetzen.