Literatur als Sinnmaschine

Seite 2: Die Aufmerksamkeit fixiert sich auf den Stil

Viele anspruchsvolle Leser konzentrieren sich auf den Stil und die Schreibweise. Dann geht es "nicht primär um Inhalte, sondern um die Mittel, Inhalte auszudrücken und um ihre Begutachtung." Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die "formale Originalität" (Schulze 1992, 288), die "raffinierte formale Idee, der prickelnde kleine Schock noch unverbrauchter Stilbrüche, die Eindrücklichkeit der Aufmachung" (Ebd., 546).

Weniger wichtig ist die Frage, ob solche Kompetenzen eingesetzt werden, um Hoffnung auszudrücken oder Verzweifelung, Affirmation oder Kritik, Schönes oder Hässliches. Im Vordergrund steht die Frage, wie die Darstellung gemacht ist, nicht, worauf sie hinaus will.

Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft

Marcel Reich-Ranickis Kommentar zu Botho Strauß' Buch "Die Fehler des Kopisten" (im "Literarischen Quartett" vom 24.4.1997) lautete entsprechend:

"Seine Ansicht, die Welt sei verbraucht und debil, eine gefährliche Behauptung, würde ich ihm verzeihen – wenn er besser schriebe" (zit. n. Berliner Morgenpost, 14.12.2001, S. 19).

Der Aufmerksamkeit, die sich auf die Schreibweise fixiert, entgeht, dass manche Autoren eleganter schreiben, als sie den dargestellten Stoff begreifen.

Die Aufgabe der Enträtselung

Manche Künstler geben ihren Lesern eine schier unendliche Enträtselung auf.

[Arno] Schmidt arbeitet ständig mit verdeckten Zitaten, Anspielungen und Vieldeutigkeiten, so dass der Leser den Sprachspuren wie ein Detektiv folgen muss. Nehmen wir nur die erste Zeile (von "Zettels Traum", Einf. d. Verf.): Links steht "Anna Muh-Muh!" So, "ana moo-moo" rufen die Eingeborenen in Poes "Gordon Pym".

Die deutsche Lautschrift sagt uns, dass wir vor einer Kuhweide stehen, deren Stacheldrahtzaun wir in der ge-x-ten Doppelreihe erkennen. Er wird in der Mitte auseinandergedrückt, um die Personen durchzulassen, wobei eine hängen bleibt, was den Metallton "king" und den nur angedeuteten Fluch "fu"(cking) verursacht.

Das ist aber nicht alles, denn das umrahmte "king!" bedeutet nämlich vor allem: Jetzt tritt König Arno auf, der sich hier seinen Traum erfüllen wird. Der Titel "Zettels Traum" verweist natürlich auf die seit Wielands Erstübersetzung ‚Zettel’ genannte Figur aus Shakespeares "Sommernachtstraum", deren originalen Namen Bottom man aber auch mit Arsch übersetzen könnte, womit wir bei Ar(no) Sch(midts) und Po(e)s Traum angelangt wären.

Werner Fuld, Die Bildungs-Lüge

Wie gern feiert die Kunstbegleit-Rhetorik die "produktive Annahme widersprüchlicher Komplexität". Welche Kränze werden der "Verweigerung bequemer Identifikation" geflochten.

Selten sprechen professionelle Kunstbewunderer schnörkellos aus, was ihnen vorschwebt: Der Künstler solle bei seinem Rezipienten nicht nur "Mühe fordern", sondern … "schwierige Übereinstimmung" (Stelzmann 1979, 223).

PS: Christian Enzensberger wurde 1963 mit seinen Übersetzungen von "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" bekannt und war Professor für Englische Literaturgeschichte in München. Viel beachtete Werke sind neben "Literatur und Interesse" sein "Größerer Versuch über den Schmutz" (1969) und sein Roman "Was ist Was" (1987).

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