Little Lucy

Frühmenschliches Kleinkind in Afrika gefunden

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Lucy ist einer der bekanntesten Vorfahren von uns, ihr Skelett wurde in Äthiopien ausgegraben und sie lebte vor ungefähr 3,2 Millionen Jahren. Jetzt haben Paläoanthropologen die fossilen Knochen eines dreijährigen Kindes entdeckt, das zwar vor Lucy lebte, aber zur selben Art gehört, weshalb das kleine Mädchen bereits scherzhaft als „Lucys Baby“ bezeichnet wird.

Im Wissenschaftsmagazin Nature stellen Zeresenay Alemseged vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Kollegen aus Großbritannien, den USA und Frankreich das Dikika-Kind der Öffentlichkeit vor (Zeresenay Alemseged, Fred Spoor, William H. Kimbel, René Bobe, Denis Geraads, Denné Reed & Jonathan G. Wynn: A juvenile early hominin skeleton from Dikika, Ethiopia).

Die Überreste dieses menschlichen Vorfahrens wurden in verschiedenen Grabungsperioden seit 2000 in Dikika, in Nord-Ost Äthiopien (Dikika Research Project) aus dem Boden geholt. Es dauerte eine Weile, bis die Forscher ihren außergewöhnlichen Fund wirklich vor Augen hatten, denn Schädel und andere Knochen waren in einem Sandsteinblock eingeschlossen, der erst in mühevoller Kleinarbeit in seine Bestandteile aufgelöst werden musste.

Der Schädel des Australopithecus afarensis-Kindes (Bild: National Museum of Ethiopia, Addis Ababa)

Es kostete die Spezialisten mehrere Jahre sorgfältigster Pulerei mit zahnmedizinischen Instrumenten, um die einbetteten Fossilien des Kindes Sandkörnchen für Sandkörnchen aus dem Gesteinsbrocken herauszulösen, in den sie wie in Zement eingebettet waren. Was dann vor den Paläoanthropologen lag, erwies sich als eine echte Sensation. Nie zuvor wurde ein derartig komplettes Skelett eines so alten Kindes entdeckt.

Der Fund besteht aus einem Schädel, dem Abdruck des natürlichen Gehirns im Sandstein, der den Schädel ausfüllt, und bisher völlig unbekannten oder nur wenig bekannten Skelettteilen, wie z.B. dem Zungenbeinknochen. Vom oberen Skelettteil liegen der Großteil der Wirbelsäule, beide Schulterblätter, die Rippen und beide Schlüsselbeine vor; außerdem beide Kniescheiben sowie substanzielle Teile der Hüfte und des Schienbeins beider Beine, zudem ein fast kompletter Fuß.

Uralt und fast komplett

Das erste Kind der frühen Menschheitsgeschichte ist Lucys Baby nicht, diese Ehre steht dem so genannten Taung-Kind zu, das vor rund achtzig Jahren in einem südafrikanischen Steinbruch zum Vorschein kam und als erster Australopithecus, abgeleitet vom lateinischen australis "südlich" und dem altgriechen pithekos "Affe" in die Geschichte einging. Erst kürzlich bewiesen Wissenschaftler, dass es vor 2,3 Millionen Jahren von einem Raubvogel getötet wurde (Lee R. Berger: Predatory bird damage to the Taung type-skull of Australopithecus africanus Dart 1925). Aber es gibt kein anderes, vergleichbar komplettes Skelett aus so frühen Zeiten der Menschheitsgeschichte, „daher kann man es tatsächlich als einen der größten Funde in der Geschichte der Paläoanthropologie bezeichnen“, lassen die Forscher verkünden.

Der gute Erhaltungszustand ist dem Fundort zu verdanken, vermutlich ertrank das Mädchen während einer Flut und wurde sofort vom Schlamm begraben. Das Dikika-Kind lebte vor 3,3 Millionen Jahre, 150.000 Jahre bevor Lucy zur Welt kam, aber es ist wie sie ein Australopithecus afarensis und gehört damit zu den Vormenschen. Die Datierung der Fossilien wird durch einen zweiten Artikel zum geologischen Kontext in Nature bestätigt (Jonathan G. Wynn, Zeresenay Alemseged, René Bobe, Denis Geraads, Denné Reed & Diana C. Roman: Geological and palaeontological context of a Pliocene juvenile hominin at Dikika, Ethiopia).

Die Gegend war damals fruchtbar und landschaftlich vielfältig. Es gab Flüsse, Wälder und Wiesen. Allerdings erschüttern immer wieder Vulkanausbrüche die Region. In den feuchten Gebieten tummelten sich wahrscheinlich Nilpferde und Krokodile, durch das Gras der Ebene stapften unter anderem weiße Nashörner.

Teile des Dikika-Mädchenskeletts (Bild: National Museum of Ethiopia, Addis Ababa)

Das Dikika-Kind wurde höchstens drei Jahre alt und gibt den Paläoanthropologen endlich die Möglichkeit, mehr über die Entwicklungsmuster der Vormenschen zu erfahren. Interessant ist unter anderem, wie sich der Schädel unserer Vorfahren in der Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter veränderte. Lucys Baby hat ein geschätztes Gehirnvolumen von 330 cm3, das entspricht in etwa dem eines gleichaltrigen Schimpansen, aber nur zu 63 bis 88% dem eines erwachsenen Australopithecus afarensis. Beim Schimpansen wächst das Gehirnvolumens nicht mehr so stark. Damit ähneln Lucy und ihre engen Verwandten in dieser Hinsicht mehr dem modernen Menschen als einem Affen.

Die Form der Beinknochen verdeutlichen, dass der Australopithecus afarensis auch mit drei Jahren schon aufrecht ging. Die Schulterblätter des Dikika-Kindes sind allerdings denen von Gorillas ähnlich. Die Finger des Mädchens waren lang und gekrümmt, das kennt man schon von anderen Vertretern ihrer Art. Diese Tatsache wird die alte Debatte über die Bewegungsmuster wieder anfeuern, denn eine solche Fingerform weist daraufhin, dass diese Vormenschen möglicherweise zwar auf dem Boden aufrecht gingen, aber zugleich in Bäumen immer noch Kletterer waren.

Sehr aufregend findet die Gruppe um Zeresenay Alemseged den Fund eines Zungenbeins. In seiner Form ist er dem entsprechenden Knochen afrikanischer Menschenaffen sehr ähnlich und nicht dem des anatomisch modernen Menschen. Das Zungenbein spielt vermutlich eine wichtige Rolle für die menschliche Sprache und hilft den Experten, die Konstruktion und Evolution des menschlichen Sprechapparates besser zu verstehen.