Lula in Washington: USA sollten ihre Einmischungspolitik beenden

Seite 2: Brasilien wird seine außenpolitischen Prioritäten unabhängig festlegen

Wenn man sich diese Geschichte vor Augen hält – einschließlich des langen Erbes des Kalten Krieges, als die USA 1964 einen Staatsstreich gegen den demokratischen Präsidenten Brasiliens unterstützten –, kann der Besuch zu einer produktiven Arbeitsbeziehung zwischen Biden und Lula beitragen. Beide waren konfrontiert mit einer hartnäckigen Opposition, die von ihren in Wahlen unterlegenen Vorgängern geschürt wurde.

Neben gemeinsamen Prioritäten bei Handel und Einwanderung hat sich zudem herauskristallisiert, dass beide auf die Verteidigung der Demokratie fokussiert sind. Aber Brasilien kann und wird seine außenpolitischen Prioritäten unabhängig festlegen. Es wird weder mit den USA noch mit seinen Gegnern eine einheitliche Linie verfolgen.

Tatsächlich ist es für die Biden-Administration wohl am wichtigsten, die Tatsache im Auge zu behalten, dass Brasilien die globalen Herausforderungen in dieser gefährlichen Zeit – in der ein Krieg in Europa stattfindet, die Spannungen zwischen den USA und China sich verschärfen und der Iran nukleare Ambitionen verfolgt, neben anderen Quellen transnationaler Besorgnis – von seinem eigenen Standpunkt aus annimmt.

Lulas Einschätzung der Lage in Venezuela, Nicaragua und Kuba unterscheidet sich beispielsweise von der Bidens. Einige haben Lula dafür kritisiert, dass er es versäumt hat, antidemokratische Regierungen in seiner eigenen Region und darüber hinaus direkter zu kritisieren.

Aber die Frage, ob Lula sich laut genug zu solchen Themen äußern sollte, geht am eigentlichen Punkt vorbei. Wichtiger ist die Frage, ob solche Kritik etwas bewirken kann. Staatschefs wie Nicolás Maduro in Venezuela, Daniel Ortega in Nicaragua oder Wladimir Putin in Russland sind international isoliert. Was erreichte Lula, wenn er sie angreifen würde? Welches Ziel würde damit verfolgt? Die Antwort darauf ist unklar.

Ob man ihm nun zustimmt oder nicht, Lulas außenpolitischer Ansatz ist durchaus rational: Brasilien sollte sich aus Konflikten, die seine unmittelbaren Interessen nicht berühren, so weit wie möglich heraushalten, um seine Glaubwürdigkeit und seine Bereitschaft zu wahren, später als Vermittler auftreten zu können.

Anstatt sich über die Loyalitäten Brasiliens aufzuregen, sollte die Biden-Administration den gegenwärtigen Kurs des Landes als legitime Strategie anerkennen, die in der Geschichte der Blockfreiheit wurzelt.

Anstatt Lula unter Druck zu setzen, sich der von Biden präferierten Politik anzuschließen, sollten die Vereinigten Staaten das Potenzial Brasiliens anerkennen, zur Lösung einiger hartnäckiger globaler Probleme beizutragen, die Washington allein nicht bewältigen kann. Schließlich hat Brasilien deutlich gemacht, dass es sich seine Außenpolitik nicht vom Wettstreit der Supermächte diktieren lassen wird.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und ist hier im englischen Original zu finden. Übersetzung: David Goeßmann.

Andre Pagliarini ist Professor für Geschichte am Hampden-Sydney College in Virginia. Er hat für die New York Times, The Guardian, New Republic und Jacobin sowie in wissenschaftlichen Zeitschriften wie Latin American Research Review und Latin American Perspectives veröffentlicht. Er ist außerdem Stipendiat des Brasilien-Büros in Washington und monatlicher Kolumnist für The Brazilian Report.