Macht Medienmacht mächtig?

Seite 2: Radikalisierung aus dem konservativen Spektrum heraus

Der Journalist und Publizist kommt auch historisch oder biographisch nicht aus dem neofaschistischen Dunstkreis wie das Führungspersonal des Rassemblement National, sondern aus dem konservativen Spektrum, von dem sich jedoch ein Teil in den letzten Jahren - auch unter dem Druck der wahlpolitischen Konkurrenz mit dem FN und späteren RN, aber auch unter dem der gesellschaftlichen Krisen - zu Themen wie "Einwanderung" und "nationale Identität" ideologisch radikalisiert hat.

Ein Symptom dafür war die Einführung eines "Ministeriums für Einwanderung und nationale Identität" im Mai 2007 zu Beginn der fünfjährigen konservativen Präsidentschaft Nicolas Sarkozys, es wurde später wieder abgeschafft; ein weiteres die Ausrichtung einer staatsoffiziellen "Debatte zur nationalen Identität" im Herbst 2009.

Letztendlich scheiterte jedoch dieser Versuch einer ideologischen Offensive eines Teils der Rechten unter der Präsidentschaft Sarkozys (vor allem verbunden mit dem Namen seines damaligen Beraters Patrick Buisson, beide sind mittlerweile hoffnungslos zerstritten). Wohl auch, weil die Sache zwischen "Affären" und Skandalen der Sarkozy-Ära, neoliberaler Politik zugunsten der Bereicherung von Unternehmen sowie notwendigen Anstrengungen zur Bewältigung der Finanzkrise von 2008/09 unterging.

Zemmour steht für die kompromisslose Fortführung und Zuspitzung dieser Politik einer ideologischen Radikalisierung. Er hat für seine Wahlkampagne-die-offiziell-noch-keine-ist übrigens auch einen früheren PR-Spezialisten Nicolas Sarkozys für seine Großveranstaltungen rekrutiert.

Und es war ein Beisitzer des konservativen Bürgermeisters von Nizza, Christian Estrosi, der Eric Zemmour am vorigen Wochenende in die Stadt einlud und dort empfing. Es handelt sich um Gaël Nofri; er beriet früher einmal Jean-Marie Le Pen, bevor er dessen Familienclan den Rücken kehrte und sich den Konservativen anschloss. Im Rathaus der fünftgrößten Stadt Frankreichs ist er bislang für lokale Verkehrspolitik zuständig, was ihm offensichtlich nicht länger genügte.

Auch in anderen französischen Städten sind es konservative Lokalpolitiker, die Zemmour einluden, wie Marc Taulelle im südfranzösischen Nîmes. Dort wird Zemmour am 15. Oktober d.J. auftreten. Auch Taulelle war bis vor kurzem beisitzender Bürgermeister seiner Stadt.

Ihm wurden allerdings die Ämter im Rathaus dann Anfang September durch das Stadtoberhaupt Jean-Paul Fournier entzogen, aufgrund der Einladung an den "Polemiker" Zemmour, aber auch wegen des Interviews, das Taulelle am 30. August der Lokalzeitung Objectif Gard dazu erteilte. Darin behauptete er unter anderem, es sei "die Einwanderung", die "in Frankreich tötet".

Aber auch langjährige Rechtsextreme wie der Bürgermeister von Orange, Jacques Bompard, unterstützen Zemmours Kandidaturpläne. Bompard ist im Rathaus bereits seit Juni 1995 im Amt und war von 1972 bis 2005 Mitglied des Front National, den er verließ, weil er ihm vorwarf, ideologisch zu schwächeln und "den Kampf gegen Einwanderung zu vernachlässigen"; heute ist er Chef einer Kleinpartei namens Ligue du Sud (in Anlehnung an die italienische Lega Nord).

Im Juni dieses Jahres tauchte er als Chef von Unterstützerkomitees und einer Webseite "Ich unterzeichne für Zemmour" auf. Aber schon im Februar hatte er zu dessen Kandidatur aufgerufen..

Erosion der Bindungskraft des RN auf der Rechten

Dass sich ein politischer Raum für die sich abzeichnende Zemmour-Kandidatur öffnete, liegt auch an der abnehmenden Bindungskraft des RN auf der extremen Rechten, handele es sich dabei nun um ein dauerhaftes oder vorübergehendes Phänomen.

Letzterer ging gebeutelt aus den Regionalparlamentswahlen vom 13. und 20. Juni dieses Jahres hervor: Statt einem Durchschnittsergebnis von 27 Prozent (bei der vorausgehenden Wahl im Dezember 2015) erzielte die Partei "nur" noch 19 Prozent im Schnitt der dreizehn französischen Regionen. Und dies, obwohl die Umfragen zuvor dem RN die Möglichkeit zu versprechen schienen, erstmalig Regionen regieren zu können, vermeintlich bis zu drei.

Die Ursachen dafür sind mehrschichtig. Einer der Hauptgründe dürfte darin liegen, dass die Regionalparlamentswahlen aufgrund der Corona-Krise mehrfach verschoben worden waren. Das Interesse vor allem in den sozialen Unterklassen und Teilen der Mittelklassen ließ infolgedessen nach. Zumal die Wahl just in jener Woche eröffnet wurde, in welcher die mit Covid-19 zusammenhängenden Ausgangsbeschränkungen sowie die Maskenpflicht im öffentlichen Raum fielen.

Viele Französinnen und Franzosen zogen es vor, erstmals seit Langem unbeschwert ins Wochenende zu fahren. Aufgrund der Zusammensetzung ihrer Wählerschaft (mit einem "Unterschichtsbauch" in der statistischen Graphik und einem relativ geringen Rentneranteil, da die Pensionierten weitaus eher konservativ wählen) litt vor allem die extreme Rechte überdurchschnittlich stark an der daraus resultierenden Stimmenthaltung. Insgesamt enthielten sich bei diesen Regionalwahlen zwei Drittel der Wahlberechtigten, 55 Prozent der konservativen und 71 Prozent der RN-Wählerschaft ihrer Stimme.

Neben dem Eindruck, dass die Dynamik - welche die extreme Rechte stets auszustrahlen versucht - einen Knick erfuhr, kommen auch die Auswirkungen einer mutmaßlich strategisch verfehlten Kaderpolitik hinzu, die für zahlreiche Austritte von Parteifunktionärinnen und -funktionären sowie Unzufriedenheit bei verbliebenen sorgte.

Ortsansässige Kader mit profunder Kenntnis der lokalen Verhältnisse kommen aufgrund innerer Widersprüche oft bei Wahlen nicht zum Zug. Langjährige Mitglieder werden bei Listenaufstellungen übergangen, ihnen werden Quereinsteiger und Überläufer von anderen Parteien bevorzugt, weil die Parteizentrale sich davon eine Ausweitung ihres Einflusses in Richtung bürgerliche "Mitte" hin verspricht.

Vor diesem Hintergrund behauptete die Pariser Abendzeitung Le Monde vom 11. September 21, die Partei weise derzeit nur noch einen Mitgliederbestand von rund 20.000 auf. Unter Jean-Marie Le Pen in den Neunzigerjahren waren es um die 50.000, ein Höchststand von 83.000 wurde vor der Präsidentschaftswahl 2017 erreicht.

Einer der Hauptgründe dafür: Unter dem Gründer und langjährigen Parteichef des damaligen FN, Jean-Marie Le Pen (Vorsitzender von 1972 bis Anfang 2011), bildete die Organisation de facto ein Konglomerat aus unterschiedlichen ideologischen Strömungen, die eine weitgehende Autonomie aufwiesen und deren jeweilige Grundannahmen oft auseinanderstrebten: Monarchisten, katholische Traditionalisten und Fundamentalisten, "Neuheiden", Nationalrevolutionäre… Lokale Parteigliederungen stellten oft "Regionalfürstentürmer" dar, in denen jeweils eine Strömung den Ton angab.

Die jetzige Chefin Marine Le Pen war stets danach bestrebt, die historisch tradierte Macht dieser Strömungen zu beschneiden. Und vor allem jene der ihr eher befremdlich wirkenden katholischen Traditionalisten und Fundamentalisten, früher innerparteilich mächtig, in deren Augen sie selbst viel zu antiklerikal auftritt und zu sehr um "Modernisierung" etwa in der Geschlechterpolitik bestrebt ist.

Im Unterschied zu Eric Zemmour, einem erklärten Antifeministen und erkennbaren Homophoben, kann Marine Le Pen tatsächlich wohl keine Homophobie vorgeworfen werden; förderte sie doch auch jahrelang Parteifunktionäre in ihrer Umgebung, deren Homosexualität bekannt war (früher Florian Philippot, er wurde 2017 aus politischen Gründen aus der Partei gedrängt, bis jetzt Steeve Briois oder Bruno Bilde). Zemmour ist jedenfalls in solchen Fragen, welche die "familiäre Moral" betreffen, eher erkennbar rechts von Marine Le Pen - nicht von allen Teilen ihrer Partei - angesiedelt.

Doch Zemmour hat mutmaßlich ein politisches Manko, denn in seinem Diskurs hat er jedenfalls bislang keinerlei programmatisches Angebot zu sozialen Fragen parat, mit Ausnahme eines jedenfalls bislang vage gehaltenen Versprechens einer "Reindustrialisierung Frankreichs".

Näher betrachtet, spricht Zemmour sich sogar explizit für eine Anhebung der wöchentlichen und der Lebens-Arbeitszeit aus und hält für abhängig Beschäftigte im Kern nur soziale Härten bereit. Hingegen wird der RN durch einen Teil seiner Anhängerschaft auch deswegen gewählt, weil er eine nationalistische und rassistische Vision mit sozialen Versprechungen und einer ausformulierten Kritik am wirtschaftlichen (Neo-)Liberalismus kombiniert und ihm die Vorstellung eines starken Staates entgegensetzt.

Darin könnte seine strategische Stärke gegen Zemmour bestehen. Jedenfalls zu Beginn ihrer Wahlkampagne, die offiziell am 12. September 21 in Fréjus eröffnet wurde, schöpft Marine Le Pen diese jedoch nicht aus, sondern beschränkt sich selbst weitgehend auf die üblichen "Identitäts"fragen, Immigration und Islam.

Daneben fordert sie noch, eher beiläufig, eine Nationalisierung der Autobahnen (ein Versprechen an die Autofahrerlobby, im Hinblick auf die derzeit erhobenen Mautgebühren privater Betreibergesellschaften), und eine Privatisierung der Fernsehanstalten… auf dass weiterhin Figuren wie Eric Zemmour in der Medienlandschaft gedeihen?!

Zemmour in Ungarn - und im TV-Zweikampf gegen Mélenchon

Heute und morgen darf Zemmour nun auch auf einem Forum in Budapest auf Einladung von Kreisen der Regierung Viktor Orbans über Homoph.., pardon, über Familienpolitik konferieren.

Zemmour dürfte allerdings erst am zweiten Konferenztag zu diesem "Gipfel zur Bevölkerungspolitik" anreisen, da am Sonntag festgelegt wurde, dass es heute Abend zu einem mit Spannung erwarteten TV-Duell zwischen dem linkssozialdemokratischen, linksnationalistischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon und ihm selbst (Zemmour) kommen wird.

Abzuwarten bleibt, ob dieser nun eher zur Grundsatzdebatte mit zahlreichen historischen Bezügen - zu denen beide Diskutanten fähig sind - oder eher zum Boxkampf gerät.