Macht und Missbrauch: Sollten Kirchen Kinder anvertraut werden?
- Macht und Missbrauch: Sollten Kirchen Kinder anvertraut werden?
- Spitzname "Pädo-Pater" – aber keine Konsequenzen
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Pädagogen und Betreuer haben grundsätzlich Macht. Welche Strukturen begünstigen Missbrauch? Ist die Gefahr in katholischen Einrichtungen besonders groß?
Unter der Überschrift "Haus der Schuld" berichtete im März Niklas Bessenbach im Zeit-Magazin von einer schwierigen Begegnung: Er war von 2005 bis 2010 Internatsschüler im Bonner Aloisiuskolleg gewesen und hatte zu dieser Zeit einen Pater, den damaligen Internatsleiter Theo Schneider, sehr verehrt.
Aber unter dessen Augen trieb ein pädokrimineller Erzieher sein Unwesen. Dieser machte sich auch zweimal an den Erzähler heran – der widersetzte sich, beide Male erfolgreich. Heute fragt er sich: Wie konnte der Internatsleiter so blind sein? Er fuhr zu ihm und befragte sein ehemaliges Idol, stundenlang.
Bessenbachs Erleben steht exemplarisch für das Erleben unzähliger Kinder und Jugendlicher in kirchlichen Einrichtungen. Hat es etwas mit der Kirche zu tun, und wenn ja: Was? Und worin bestehen die Folgen?
"Ich passte genau in sein Beuteschema"
Bessenbach schreibt, dass der pädokriminelle Erzieher unter anderem Schülern befohlen habe, sich vor ihm auszuziehen, sie angefasst und fotografiert habe. Außerdem sei jener Pater Stüper cholerisch gewesen und habe Schüler geschlagen.
Nach seinem Tod fand man in seinem Nachlass kistenweise Nacktfotos. Er stand offenbar auf schlanke Jungs, halblange, blonde Haare. Ich passte genau in sein Beuteschema. Einmal nahm er mich allein mit zu einer Sauna in Rheinbach, in der Nähe von Bonn. Dort forderte er mich auf, vor ihm die Badehose auszuziehen. Ich sagte Nein und ging mit Badehose in die Sauna.
Ein anderes Mal stand er im Türrahmen meines Zimmers, das ich mit zwei Schülern teilte. Stüper kontrollierte abends, ob wir auf unseren Zimmern waren. Ich war gerade dabei, ins Bett zu gehen, und hatte schon einen Schlafanzug an. Meine Zimmerkollegen waren nicht da.
"Zieh dich aus", sagte Stüper zu mir. "Warum?", fragte ich. "Es ist krank, mit Schlafanzug ins Bett zu gehen." Ich drehte mich um und legte mich ins Bett. Er verließ stumm das Zimmer.
Niklas Bessenbach, Zeit-Magazin
Bessenbach hat sich verweigert und Widerstand geleistet. Das schaffen viele Jugendliche nicht. Ist er stolz darauf, dass er sich zweimal widersetzt hat? "Stolz – das habe ich mich nie so richtig gefragt", sagt er am Telefon.
"Ich bin froh und glücklich, dass ich so selbstbewusst sein konnte in dem Moment. Dass ich mich nicht gebeugt habe. Dass ich es geschafft habe, mich aus der Situation zu befreien. Ich bin dankbar, dass ich in Erziehung mitbekommen habe, 'Nein' zu sagen.
Das habe ich bei den Eltern und in der Grundschule gelernt: Wenn ein Erwachsener etwas macht, was einem komisch vorkommt, ‚Nein‘ zu sagen. Bin ich stolz? Es ist ja keine Leistung... Ich weiß nicht, wie es in meinem Leben sonst weitergegangen wäre, es war eine extrem risikoreiche Situation."
Jesuitenschulen bundesweit und international
Beim Aloisiuskolleg handelt es sich neben dem Kolleg St. Blasien und dem Canisiuskolleg in Berlin um eine von drei Schulen in der Trägerschaft der Jesuiten in Deutschland. Das Canisiuskolleg war nie ein Internat.
St. Blasien ist Internat und Externat für Mädchen und Jungen und "erfreut sich derzeit mit ca. 250 Internatsschülern und 640 externen Schülern aus dem Umland eines großen Interesses", sagt Pater Jan Roser, Socius des Provinzials und Delegat für die Kommunitäten der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten.
Auch das Aloisiuskolleg war bis zum Jahr 2018 ein Internat, "dann hat man versucht, es als auf die Oberstufe reduziertes Internat mit Wohngruppen weiterzuführen, "aber letztlich gab es zu wenig Interessenten. Darum wurde der Internatsbetrieb 2020 ganz aufgegeben."
Der Jesuitenorden ist unter anderem ein Bildungsorden. Er errichtet seit seiner Gründung weltweit Bildungseinrichtungen, etwa Schulen, Hochschulen, Akademien, und unterhält sie. Wie viele Internate sind darunter?
Das, sagt Roser, lasse sich weltweit schwer schätzen, denn es liege ihm keine universale statistische Unterscheidung zwischen Gymnasien und Internaten vor. Der Orden engagiert sich aber in der ganzen Welt für Bildung.
Afrika: In 16 Ländern gibt es 54 Schulen für etwas mehr als 38.000 Schüler, dort arbeiten 173 Jesuiten. Asien-Pazifik-Raum: 43 Schulen, 68.000 Schüler, 104 Jesuiten.
Europa: 205 Schulen für 178.000 Studenten in 21 Ländern, 168 Jesuiten.
Lateinamerika: 88 Schulen für 124.000 Schüler in 17 Ländern, 252 Jesuiten.
Nordamerika: 87 Schulen für 55.000 Studenten in fünf Ländern, 212 Jesuiten.
Südasien: 396 Schulen für 405.000 Schüler, 937 Jesuiten.
Außerdem gibt es so genannte "ignatianische Netzwerkschulen", erklärt Roser. "Dabei handelt es sich um Schulen, die zwar nicht in jesuitischer Trägerschaft stehen, aber jesuitisch inspiriert sind, aus einem christlichen Menschenbild und humanistischen Bildungsidealen." Es gibt in 22 Ländern 1.592 Netzwerkschulen für mehr als 600.000 Studenten.
Die globalen Zahlen für diese Einrichtungen: 80 Länder, 2.521 Schulen, mit insgesamt 1.635.796 Lernenden, und 1.925 im Schulbereich tätigen Jesuiten.
Von Afghanistan bis Brooklyn: "Jesuit Worldwide Learning"
Eine dritte Art von Schulen ist JWL, "Jesuit Worldwide Learning", eine dem "Jesuit Refugee Service", dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst nahestehende Initiative für "Hochschulbildung an den Grenzen". Über Online-Formate ermögliche sie Studierenden auf der ganzen Welt, zum Beispiel auch in Flüchtlingslagern, Sprachen wie Englisch zu studieren und dann in ein anderes Studium einzusteigen.
Das JWL-Programm forme somit eine globale Gemeinschaft von Lernenden im virtuellen Klassenzimmer. Eingebunden sind 21 Standorte in Asien (Sri Lanka, Indien, Nepal, Myanmar), in Afrika (Kenia, Malawi, Mozambik, Mali), im Nahen Osten (Afghanistan, Nordirak) sowie beispielsweise auch im New Yorker Problembezirk Brooklyn mit insgesamt mehr als 3.000 Studierenden.
Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst JRS, in dessen Flüchtlingslagern JWL teilweise aktiv ist, zum Beispiel im Nordirak, unterhält selbst 55 Schulen in 20 Ländern.
"Der JRS ist mittlerweile die größte NGO der Jesuiten. Der Sitz ist in Rom, und Internationaler Direktor ist derzeit ein Deutscher, der Jesuit Michael Schöpf", sagt der Pater: "Wenn in einem Land Krieg herrscht und die Infrastruktur zerstört ist, sollen in Flüchtlingscamps junge Menschen eine Ausbildung bekommen, so dass sie kreativ tätig und ihr Land wieder aufbauen können, sollten sie eines Tages zurückkehren können."
Gegründet wurde der JRS im November 1980 von dem damaligen Generaloberen der Jesuiten, Pedro Arrupe, "angesichts der Not vietnamesischer Bootsflüchtlinge." Mittlerweile ist er mit etwa 1.200 Mitarbeitenden in mehr als 50 Ländern vertreten. Dann gibt es noch das vor allem in Lateinamerika verbreitete Netzwerk von informellen Bildungseinrichtungen "Fe y Alegria", mit insgesamt 1592 Standorten, 1.636.000 Studenten und 1925 Jesuiten in 80 Ländern.
Sind katholische Einrichtungen besonders "gefährlich"?
In allen drei deutschen Schulen der Jesuiten kam es zu sexualisierter Gewalt. Ist sie typisch für jesuitische, katholische, christliche, religiöse Einrichtungen? Sind solche Einrichtungen besonders gefährlich?
Welche Statistik könnte das empirisch beantworten? Für eine solche müsste man erstens die Einrichtungen je nach Glaubensrichtung beziehungsweise religiöse von nichtreligiösen Einrichtungen unterscheiden, dann zweitens die Fallzahlen getrennt berechnen, und drittens mögliche weitere Faktoren berücksichtigen beziehungsweise herausrechnen – wie etwa den Schulort: In Deutschland ist sexualisierte Gewalt ein Faktum und bekannt.
Aber wie sieht es, beispielsweise, auf dem Afrikanischen Kontinent aus? Dass es sie auch dort gibt, ist anzunehmen, genauso ist aber auch anzunehmen, dass dort die "Tabuschwelle" deutlich höher ist und man nicht darüber spricht – so wie früher auch hierzulande; und das natürlich noch in unterschiedlichem Ausmaß, je nach Land. Valide Zahlen für eine Statistik sind also schwierig zu finden.
Jan Roser nennt jedenfalls ein Argument gegen die Vermutung, dass katholische oder jesuitische Schulen besonders gefährlich sind: Die Gefahr des Machtmissbrauchs und leider auch der sexualisierten Gewalt bestehe grundsätzlich überall dort, wo Pädagogen tätig seien.
Die katholische Kirche und auch der Jesuitenorden betrieben und betreiben zahlreiche Schulen, und natürlich gelte das auch für diese Einrichtungen. Zeitgleich mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Canisiuskolleg sei zum Beispiel auch der Missbrauch an der Odenwaldschule bekannt geworden, einer Schule, die mit katholischen Milieus überhaupt nichts zu tun habe.
Die Verbrechen in den Schulen des Jesuitenordens bedeuten also nicht automatisch, dass das Risiko für sexualisierte Gewalt in jesuitischen Schulen höher ist als an anderen Schulen von vergleichbarer Größe und ähnlichem Zuschnitt.
Allerdings, so der Pater selbst, habe es in den Jesuitenschulen Besonderheiten gegeben, die Missbrauch begünstigt hätten: eine große Machtfülle der Jesuitenrektoren und überhaupt der Jesuiten (als Teil des Schulträgers), die vielleicht weniger als in anderen Schulen kontrolliert und ausgeglichen worden sei.
"Dann die besondere Nähe der Patres zu den Kindern, die über einen Achtstundentag hinaus oft ständig präsent und ansprechbar und damit zentrale Bezugspersonen waren, was bisweilen eine sehr hohe Bindung, bisweilen auch Verehrung und die Aura der Unantastbarkeit mit sich brachte, was wiederum leider auch Missbrauch begünstigen kann. Hier hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel verändert", so Roser.
"Gerade katholische Schulen haben mittlerweile durch das Bekanntwerden von Missbrauch und dem damit entstandenen öffentlichen Druck intensiv an der Einführung von Präventionskonzepten gearbeitet, sodass sie derzeit wohl eher zu den sichereren Schulen gehören, so paradox das zur öffentlichen Wahrnehmung der veröffentlichten Missbrauchsberichte auch klingen mag."
Er sagt: "Trotzdem: an jeder pädagogischen Einrichtung müssen Präventionskonzepte oberste Priorität haben, kontinuierlich verbessert und deren Einhaltung einer ständigen Prüfung unterzogen werden, denn die Gefahr des Missbrauchs lässt sich reduzieren, vollständig beseitigen lässt sie sich leider nicht. Sie gehört zum Abgründigen im Menschen."
Als der Missbrauch am Aloisiuskolleg herauskam, beauftragte die Deutsche Provinz der Jesuiten die Juraprofessorin Julia Zinsmeister mit der Aufarbeitung.
Diese sagt, sie habe sofort zwei Bedingungen gestellt: erstens, dass sie die Studie veröffentlichen dürfe und zweitens, dass die Jesuiten sie zwar gern bezahlen dürften, aber dass sie nicht nur mit Jesuiten, sondern auch mit Schülern sprechen würde. "Darauf hat sich der Provinzial ganz schnell eingelassen."
Hält sie kirchliche Einrichtungen für besonders "gefährlich" im Vergleich zu nicht-kirchlichen Einrichtungen, etwa nicht-kirchlichen Internaten oder den Pfadfindern? "Es gibt immer ein strukturelles Risiko", sagt sie.
"Aber einzelne Risikofaktoren variieren: je nach Abhängigkeit vom Lehrer oder Betreuer, je nachdem, wie gut die Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte informiert sind, je nachdem, wie gut die Betreuer überwacht werden." Allerdings gebe es in katholischen Einrichtungen "bestimmte Risikofaktoren": Im Aloisiuskolleg zum Beispiel hätten vor allem Männer gearbeitet – "und man weiß, dass über 90 Prozent aller Sexualstraftaten von Männern begangen werden".
Ein zweiter Risikofaktor sei das "hohe Maß an Homophobie, was dazu führte, dass nicht genau hingesehen wurde, zum Beispiel, weil man angewidert war von diesen homoerotischen Fotos". So wurde Kindesmissbrauch der Homosexualität gleichgesetzt.
"Dabei war es so, dass die wenigen Patres, die Kinder geschützt haben, entweder offen oder nach unserem Eindruck schwul waren, oder sich zumindest sehr für eine stärkere Öffnung der Kirche in Bezug auf Homosexualität einsetzen."
Ein weiterer Risikofaktor sei das System eines Ordens: "Das sind besondere geschlossene Systeme. Die Täter fühlen sich in erster Linie dem Orden gegenüber verantwortlich. Weltliche Gesetze gelten für sie kaum." Dabei seien die relevant.
"Missbrauch ist deswegen strafrechtlich relevant, weil er die Würde des Kindes verletzt und seine sexuelle Selbstbestimmung. Aber im Codex Iuris Canonici, dem Kodex des Kanonischen Rechts der katholischen Kirche, war Missbrauch bisher vor allem deshalb verboten, weil das erstens der Kirchen schadete und zweitens das Keuschheitsgelübde verletzte."
Somit wurde nach der internen Logik eines Ordens das Schweigen befördert, "um Schaden von der Kirche abzuhalten".
Zinsmeister fasst zusammen: "In kirchlichen Institutionen sind wahrscheinlich viele Risikofaktoren besonders häufig vertreten. Aber es kommt an auf Struktur, Kultur, Maßnahmen, Transparenz, und Menschenbild. Die Frage, ob katholische Einrichtungen besonders 'gefährlich' sind, ist zu pauschal."
Spätestens seit 2010 sieht man die Risiken auch im Orden. Die Jesuiten veröffentlichen auf ihrer Website nicht nur fünf externe Gutachten – unter anderem das von Zinsmeister – über die Taten der Vergangenheit sowie Erklärungen und persönliche Stellungnahmen dazu, sondern schreiben auch: "Wir glauben Euch!" und bitten um Vergebung. Und sie nennen eine Reihe externer Ansprechpartner für Betroffene.
Das klingt gut, aber man kann es natürlich auch kritisch betrachten: "Früher gab es die Tendenz, alles intern zu regeln. Aber seit 2010, mit der Aufdeckung der Skandale um das Canisiuskolleg, das Aloisiuskolleg und die Odenwaldschule haben die Medien das ganze sehr stark skandalisiert", sagt Julia Zinsmeister.
Nun werde offen darüber geredet. "Die Handlungslogik ist dieselbe, nämlich die Institution zu schützen. Seit 2010 hat man damit Erfolg, wenn man alles so schnell wie möglich anzeigt, damit niemand einem nachsagt, man hätte es vertuscht."
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