Macht und Missbrauch: Sollten Kirchen Kinder anvertraut werden?
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Manche Sünde war zu groß, um mit ein paar Ablassgebeten erledigt zu sein. In manchen Fällen ist die weltliche Justiz zuständig. Symbolbild: Buzzedbunny auf Pixabay (Public Domain)
Pädagogen und Betreuer haben grundsätzlich Macht. Welche Strukturen begünstigen Missbrauch? Ist die Gefahr in katholischen Einrichtungen besonders groß?
Unter der Überschrift "Haus der Schuld" berichtete im März Niklas Bessenbach im Zeit-Magazin von einer schwierigen Begegnung: Er war von 2005 bis 2010 Internatsschüler im Bonner Aloisiuskolleg gewesen und hatte zu dieser Zeit einen Pater, den damaligen Internatsleiter Theo Schneider, sehr verehrt.
Aber unter dessen Augen trieb ein pädokrimineller Erzieher sein Unwesen. Dieser machte sich auch zweimal an den Erzähler heran – der widersetzte sich, beide Male erfolgreich. Heute fragt er sich: Wie konnte der Internatsleiter so blind sein? Er fuhr zu ihm und befragte sein ehemaliges Idol, stundenlang.
Bessenbachs Erleben steht exemplarisch für das Erleben unzähliger Kinder und Jugendlicher in kirchlichen Einrichtungen. Hat es etwas mit der Kirche zu tun, und wenn ja: Was? Und worin bestehen die Folgen?
"Ich passte genau in sein Beuteschema"
Bessenbach schreibt, dass der pädokriminelle Erzieher unter anderem Schülern befohlen habe, sich vor ihm auszuziehen, sie angefasst und fotografiert habe. Außerdem sei jener Pater Stüper cholerisch gewesen und habe Schüler geschlagen.
Nach seinem Tod fand man in seinem Nachlass kistenweise Nacktfotos. Er stand offenbar auf schlanke Jungs, halblange, blonde Haare. Ich passte genau in sein Beuteschema. Einmal nahm er mich allein mit zu einer Sauna in Rheinbach, in der Nähe von Bonn. Dort forderte er mich auf, vor ihm die Badehose auszuziehen. Ich sagte Nein und ging mit Badehose in die Sauna.
Ein anderes Mal stand er im Türrahmen meines Zimmers, das ich mit zwei Schülern teilte. Stüper kontrollierte abends, ob wir auf unseren Zimmern waren. Ich war gerade dabei, ins Bett zu gehen, und hatte schon einen Schlafanzug an. Meine Zimmerkollegen waren nicht da.
"Zieh dich aus", sagte Stüper zu mir. "Warum?", fragte ich. "Es ist krank, mit Schlafanzug ins Bett zu gehen." Ich drehte mich um und legte mich ins Bett. Er verließ stumm das Zimmer.
Niklas Bessenbach, Zeit-Magazin
Bessenbach hat sich verweigert und Widerstand geleistet. Das schaffen viele Jugendliche nicht. Ist er stolz darauf, dass er sich zweimal widersetzt hat? "Stolz – das habe ich mich nie so richtig gefragt", sagt er am Telefon.
"Ich bin froh und glücklich, dass ich so selbstbewusst sein konnte in dem Moment. Dass ich mich nicht gebeugt habe. Dass ich es geschafft habe, mich aus der Situation zu befreien. Ich bin dankbar, dass ich in Erziehung mitbekommen habe, 'Nein' zu sagen.
Das habe ich bei den Eltern und in der Grundschule gelernt: Wenn ein Erwachsener etwas macht, was einem komisch vorkommt, ‚Nein‘ zu sagen. Bin ich stolz? Es ist ja keine Leistung... Ich weiß nicht, wie es in meinem Leben sonst weitergegangen wäre, es war eine extrem risikoreiche Situation."
Jesuitenschulen bundesweit und international
Beim Aloisiuskolleg handelt es sich neben dem Kolleg St. Blasien und dem Canisiuskolleg in Berlin um eine von drei Schulen in der Trägerschaft der Jesuiten in Deutschland. Das Canisiuskolleg war nie ein Internat.
St. Blasien ist Internat und Externat für Mädchen und Jungen und "erfreut sich derzeit mit ca. 250 Internatsschülern und 640 externen Schülern aus dem Umland eines großen Interesses", sagt Pater Jan Roser, Socius des Provinzials und Delegat für die Kommunitäten der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten.
Auch das Aloisiuskolleg war bis zum Jahr 2018 ein Internat, "dann hat man versucht, es als auf die Oberstufe reduziertes Internat mit Wohngruppen weiterzuführen, "aber letztlich gab es zu wenig Interessenten. Darum wurde der Internatsbetrieb 2020 ganz aufgegeben."
Der Jesuitenorden ist unter anderem ein Bildungsorden. Er errichtet seit seiner Gründung weltweit Bildungseinrichtungen, etwa Schulen, Hochschulen, Akademien, und unterhält sie. Wie viele Internate sind darunter?
Das, sagt Roser, lasse sich weltweit schwer schätzen, denn es liege ihm keine universale statistische Unterscheidung zwischen Gymnasien und Internaten vor. Der Orden engagiert sich aber in der ganzen Welt für Bildung.
Afrika: In 16 Ländern gibt es 54 Schulen für etwas mehr als 38.000 Schüler, dort arbeiten 173 Jesuiten. Asien-Pazifik-Raum: 43 Schulen, 68.000 Schüler, 104 Jesuiten.
Europa: 205 Schulen für 178.000 Studenten in 21 Ländern, 168 Jesuiten.
Lateinamerika: 88 Schulen für 124.000 Schüler in 17 Ländern, 252 Jesuiten.
Nordamerika: 87 Schulen für 55.000 Studenten in fünf Ländern, 212 Jesuiten.
Südasien: 396 Schulen für 405.000 Schüler, 937 Jesuiten.
Außerdem gibt es so genannte "ignatianische Netzwerkschulen", erklärt Roser. "Dabei handelt es sich um Schulen, die zwar nicht in jesuitischer Trägerschaft stehen, aber jesuitisch inspiriert sind, aus einem christlichen Menschenbild und humanistischen Bildungsidealen." Es gibt in 22 Ländern 1.592 Netzwerkschulen für mehr als 600.000 Studenten.
Die globalen Zahlen für diese Einrichtungen: 80 Länder, 2.521 Schulen, mit insgesamt 1.635.796 Lernenden, und 1.925 im Schulbereich tätigen Jesuiten.
Von Afghanistan bis Brooklyn: "Jesuit Worldwide Learning"
Eine dritte Art von Schulen ist JWL, "Jesuit Worldwide Learning", eine dem "Jesuit Refugee Service", dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst nahestehende Initiative für "Hochschulbildung an den Grenzen". Über Online-Formate ermögliche sie Studierenden auf der ganzen Welt, zum Beispiel auch in Flüchtlingslagern, Sprachen wie Englisch zu studieren und dann in ein anderes Studium einzusteigen.
Das JWL-Programm forme somit eine globale Gemeinschaft von Lernenden im virtuellen Klassenzimmer. Eingebunden sind 21 Standorte in Asien (Sri Lanka, Indien, Nepal, Myanmar), in Afrika (Kenia, Malawi, Mozambik, Mali), im Nahen Osten (Afghanistan, Nordirak) sowie beispielsweise auch im New Yorker Problembezirk Brooklyn mit insgesamt mehr als 3.000 Studierenden.
Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst JRS, in dessen Flüchtlingslagern JWL teilweise aktiv ist, zum Beispiel im Nordirak, unterhält selbst 55 Schulen in 20 Ländern.
"Der JRS ist mittlerweile die größte NGO der Jesuiten. Der Sitz ist in Rom, und Internationaler Direktor ist derzeit ein Deutscher, der Jesuit Michael Schöpf", sagt der Pater: "Wenn in einem Land Krieg herrscht und die Infrastruktur zerstört ist, sollen in Flüchtlingscamps junge Menschen eine Ausbildung bekommen, so dass sie kreativ tätig und ihr Land wieder aufbauen können, sollten sie eines Tages zurückkehren können."
Gegründet wurde der JRS im November 1980 von dem damaligen Generaloberen der Jesuiten, Pedro Arrupe, "angesichts der Not vietnamesischer Bootsflüchtlinge." Mittlerweile ist er mit etwa 1.200 Mitarbeitenden in mehr als 50 Ländern vertreten. Dann gibt es noch das vor allem in Lateinamerika verbreitete Netzwerk von informellen Bildungseinrichtungen "Fe y Alegria", mit insgesamt 1592 Standorten, 1.636.000 Studenten und 1925 Jesuiten in 80 Ländern.
Sind katholische Einrichtungen besonders "gefährlich"?
In allen drei deutschen Schulen der Jesuiten kam es zu sexualisierter Gewalt. Ist sie typisch für jesuitische, katholische, christliche, religiöse Einrichtungen? Sind solche Einrichtungen besonders gefährlich?
Welche Statistik könnte das empirisch beantworten? Für eine solche müsste man erstens die Einrichtungen je nach Glaubensrichtung beziehungsweise religiöse von nichtreligiösen Einrichtungen unterscheiden, dann zweitens die Fallzahlen getrennt berechnen, und drittens mögliche weitere Faktoren berücksichtigen beziehungsweise herausrechnen – wie etwa den Schulort: In Deutschland ist sexualisierte Gewalt ein Faktum und bekannt.
Aber wie sieht es, beispielsweise, auf dem Afrikanischen Kontinent aus? Dass es sie auch dort gibt, ist anzunehmen, genauso ist aber auch anzunehmen, dass dort die "Tabuschwelle" deutlich höher ist und man nicht darüber spricht – so wie früher auch hierzulande; und das natürlich noch in unterschiedlichem Ausmaß, je nach Land. Valide Zahlen für eine Statistik sind also schwierig zu finden.
Jan Roser nennt jedenfalls ein Argument gegen die Vermutung, dass katholische oder jesuitische Schulen besonders gefährlich sind: Die Gefahr des Machtmissbrauchs und leider auch der sexualisierten Gewalt bestehe grundsätzlich überall dort, wo Pädagogen tätig seien.
Die katholische Kirche und auch der Jesuitenorden betrieben und betreiben zahlreiche Schulen, und natürlich gelte das auch für diese Einrichtungen. Zeitgleich mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Canisiuskolleg sei zum Beispiel auch der Missbrauch an der Odenwaldschule bekannt geworden, einer Schule, die mit katholischen Milieus überhaupt nichts zu tun habe.
Die Verbrechen in den Schulen des Jesuitenordens bedeuten also nicht automatisch, dass das Risiko für sexualisierte Gewalt in jesuitischen Schulen höher ist als an anderen Schulen von vergleichbarer Größe und ähnlichem Zuschnitt.
Allerdings, so der Pater selbst, habe es in den Jesuitenschulen Besonderheiten gegeben, die Missbrauch begünstigt hätten: eine große Machtfülle der Jesuitenrektoren und überhaupt der Jesuiten (als Teil des Schulträgers), die vielleicht weniger als in anderen Schulen kontrolliert und ausgeglichen worden sei.
"Dann die besondere Nähe der Patres zu den Kindern, die über einen Achtstundentag hinaus oft ständig präsent und ansprechbar und damit zentrale Bezugspersonen waren, was bisweilen eine sehr hohe Bindung, bisweilen auch Verehrung und die Aura der Unantastbarkeit mit sich brachte, was wiederum leider auch Missbrauch begünstigen kann. Hier hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel verändert", so Roser.
"Gerade katholische Schulen haben mittlerweile durch das Bekanntwerden von Missbrauch und dem damit entstandenen öffentlichen Druck intensiv an der Einführung von Präventionskonzepten gearbeitet, sodass sie derzeit wohl eher zu den sichereren Schulen gehören, so paradox das zur öffentlichen Wahrnehmung der veröffentlichten Missbrauchsberichte auch klingen mag."
Er sagt: "Trotzdem: an jeder pädagogischen Einrichtung müssen Präventionskonzepte oberste Priorität haben, kontinuierlich verbessert und deren Einhaltung einer ständigen Prüfung unterzogen werden, denn die Gefahr des Missbrauchs lässt sich reduzieren, vollständig beseitigen lässt sie sich leider nicht. Sie gehört zum Abgründigen im Menschen."
Als der Missbrauch am Aloisiuskolleg herauskam, beauftragte die Deutsche Provinz der Jesuiten die Juraprofessorin Julia Zinsmeister mit der Aufarbeitung.
Diese sagt, sie habe sofort zwei Bedingungen gestellt: erstens, dass sie die Studie veröffentlichen dürfe und zweitens, dass die Jesuiten sie zwar gern bezahlen dürften, aber dass sie nicht nur mit Jesuiten, sondern auch mit Schülern sprechen würde. "Darauf hat sich der Provinzial ganz schnell eingelassen."
Hält sie kirchliche Einrichtungen für besonders "gefährlich" im Vergleich zu nicht-kirchlichen Einrichtungen, etwa nicht-kirchlichen Internaten oder den Pfadfindern? "Es gibt immer ein strukturelles Risiko", sagt sie.
"Aber einzelne Risikofaktoren variieren: je nach Abhängigkeit vom Lehrer oder Betreuer, je nachdem, wie gut die Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte informiert sind, je nachdem, wie gut die Betreuer überwacht werden." Allerdings gebe es in katholischen Einrichtungen "bestimmte Risikofaktoren": Im Aloisiuskolleg zum Beispiel hätten vor allem Männer gearbeitet – "und man weiß, dass über 90 Prozent aller Sexualstraftaten von Männern begangen werden".
Ein zweiter Risikofaktor sei das "hohe Maß an Homophobie, was dazu führte, dass nicht genau hingesehen wurde, zum Beispiel, weil man angewidert war von diesen homoerotischen Fotos". So wurde Kindesmissbrauch der Homosexualität gleichgesetzt.
"Dabei war es so, dass die wenigen Patres, die Kinder geschützt haben, entweder offen oder nach unserem Eindruck schwul waren, oder sich zumindest sehr für eine stärkere Öffnung der Kirche in Bezug auf Homosexualität einsetzen."
Ein weiterer Risikofaktor sei das System eines Ordens: "Das sind besondere geschlossene Systeme. Die Täter fühlen sich in erster Linie dem Orden gegenüber verantwortlich. Weltliche Gesetze gelten für sie kaum." Dabei seien die relevant.
"Missbrauch ist deswegen strafrechtlich relevant, weil er die Würde des Kindes verletzt und seine sexuelle Selbstbestimmung. Aber im Codex Iuris Canonici, dem Kodex des Kanonischen Rechts der katholischen Kirche, war Missbrauch bisher vor allem deshalb verboten, weil das erstens der Kirchen schadete und zweitens das Keuschheitsgelübde verletzte."
Somit wurde nach der internen Logik eines Ordens das Schweigen befördert, "um Schaden von der Kirche abzuhalten".
Zinsmeister fasst zusammen: "In kirchlichen Institutionen sind wahrscheinlich viele Risikofaktoren besonders häufig vertreten. Aber es kommt an auf Struktur, Kultur, Maßnahmen, Transparenz, und Menschenbild. Die Frage, ob katholische Einrichtungen besonders 'gefährlich' sind, ist zu pauschal."
Spätestens seit 2010 sieht man die Risiken auch im Orden. Die Jesuiten veröffentlichen auf ihrer Website nicht nur fünf externe Gutachten – unter anderem das von Zinsmeister – über die Taten der Vergangenheit sowie Erklärungen und persönliche Stellungnahmen dazu, sondern schreiben auch: "Wir glauben Euch!" und bitten um Vergebung. Und sie nennen eine Reihe externer Ansprechpartner für Betroffene.
Das klingt gut, aber man kann es natürlich auch kritisch betrachten: "Früher gab es die Tendenz, alles intern zu regeln. Aber seit 2010, mit der Aufdeckung der Skandale um das Canisiuskolleg, das Aloisiuskolleg und die Odenwaldschule haben die Medien das ganze sehr stark skandalisiert", sagt Julia Zinsmeister.
Nun werde offen darüber geredet. "Die Handlungslogik ist dieselbe, nämlich die Institution zu schützen. Seit 2010 hat man damit Erfolg, wenn man alles so schnell wie möglich anzeigt, damit niemand einem nachsagt, man hätte es vertuscht."
Spitzname "Pädo-Pater" – aber keine Konsequenzen
Bessenbach schreibt: "Während meiner Schulzeit habe ich niemandem von diesen Erlebnissen erzählt. Dass Stüper pädokriminell sein könnte, konnte ich mir nicht vorstellen, vielleicht wollte ich es auch nicht wahrhaben." Dabei habe es immer Gerede und Witzeleien gegeben; und an einem seiner ersten Tage im Internat habe ihm ein Schüler gesagt, Stüpers Spitzname sei "Pädo-Pater".
Aber er habe all so etwas nicht ernst genommen. "Ich verstand nicht, dass er täglich Grenzen überschritt. Ich gewöhnte mich an die Scham, mich in der Dusche nackt vor ihm zeigen zu müssen. Ich hatte keinen Begriff für diese Übergriffe. Vielen erging es ähnlich, ich denke, das ist der Grund, warum sich so wenige beschwerten."
Internatsleiter Schneider stand Bessenbach nach dem frühen Tod von dessen Mutter bei, er sorgte sich um ihn und diskutierte mit ihm. "Kurz nach dem Abi war ich noch total 'pro Schneider'", sagt er. "Aber dann gab es viele Diskussionen, während meines Studiums habe ich andere Leute getroffen. Dann fing es an. Es war ein langer Prozess, in dem mir klar wurde, wie groß eigentlich seine Versäumnisse waren."
Theo Schneider war bereit zu einem langen Gespräch mit Niklas Bessenbach, das muss man ihm hoch anrechnen. Auf eine Anfrage von Telepolis hin teilte er mit, er wolle sich "zu den im erwähnten Artikel aufgeworfenen Fragen nicht mehr äußern."
Die Versäumnisse des Internatsleiters und die Reaktion des Ordens
Als Bessenbach Schneider für seinen Artikel aufsucht, fragt er ihn nach den Nacktfotos, die Stüper von den Jungen gemacht hatte. Schneider gibt zu, dass er davon wusste und sich deswegen mit Stüper gestritten habe.
Und dann sagt ihm Schneider: "Die Moralvorstellungen in der Gesellschaft wandeln sich, früher war Rauchen schick, heute ist es meistens verpönt. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, wie viel Nacktheit akzeptabel ist." – Nun ja: Rauchen war wohl an den meisten Schulen streng verboten, weil man genau wusste: Es ist ungesund!
Bessenbach erzählt dem ehemaligen Internatsleiter: "Mit mir war er allein in der Sauna. Wollte mich zweimal nackt sehen. Einem meiner Freunde hat er nach dem Fußballspielen eine Wunde im Intimbereich eingecremt." Und dann stellt Theo Schneider die Frage: "War euch das unangenehm?" – Wie kann man so etwas fragen?
Bessenbach fragt Schneider: "Siehst du in Stüper einen Kriminellen?" Und der antwortet: "Wenn er all das getan hat, was man ihm vorwirft, dann ja." Dieser Wenn-Dann-Satz nach all den Studien, den Aussagen der vielen Schüler, im Gespräch mit dem ehemaligen Schüler, lässt einen erstarren.
Neues Einsatzfeld – keine "Strafversetzung"
Nach Bekanntwerden der Missbrauchstaten von Pater Stüper trat Schneider zurück, später wurde er versetzt; die Versetzung "erfolgte in Etappen im Laufe der darauffolgenden Monate", sagt Pater Roser:
"Wichtig ist dabei zu sehen: Im Jesuitenorden geschehen solche Schritte immer in Absprache mit den Oberen. Insofern bedeutete der mit den Oberen vereinbarte Rücktritt auch den Beginn der Suche nach einem neuen Einsatzfeld" so Roser. Gemeint ist eine Versetzung unter Berücksichtigung seiner Vorgeschichte am Aloisiuskolleg (AKO).
"Für die Oberen war in diesem Prozess von Anfang an klar, dass Theo Schneider nicht mehr – weder am AKO noch woanders – in einem pädagogischen Kontext zum Einsatz kommen wird.
Insofern geschah mit dem Rücktritt und dem Ausschluss aus pädagogischen Kontexten eine Verantwortungsübernahme (sowohl von Seiten des Ordens als auch von Theo Schneider, der diesen Maßnahmen zustimmte), die allerdings im Laufe der Jahre einigen nicht weit genug ging."
Von einer "Strafversetzung" mag Roser nicht sprechen, denn Schneider sollte zunächst in einer Pfarrei mitarbeiten, was "natürlich keine" Strafversetzung sei.
"Allerdings muss man sehen, dass Theo Schneider bis zu diesem Zeitpunkt fast sein ganzes Leben lang im pädagogischen Kontext tätig war. Insofern bedeutete der Ausschluss aus diesem Tätigkeitsfeld schon auch einen tiefen Einschnitt für ihn, wie immer man das jetzt bezeichnen mag."
Schneider selbst habe nach allem, was bekannt sei, keinen Missbrauch begangen, sagt Roser, er habe aber in seiner Funktion als Internatsleiter und Schulrektor eine systemische Verantwortung dafür getragen, dass Missbrauch habe geschehen können, "und die in dem Artikel von Herrn Bessenbach auf differenzierte Weise beschrieben wird."
Entsprechend hat kurz nach dem Erscheinen des Artikels, der Provinzial der Jesuiten in Zentraleuropa eine Stellungnahme dazu veröffentlicht, in der er die Argumentationen und Stellungnahmen Schneiders heftig kritisiert und klarstellt, dass der Orden sich davon distanziere.
Auch Jan Roser schließt sich dieser Kritik an. "Missbrauch hat immer eine systemische Dimension. Ob er geschehen kann, hängt immer von der Weise ab, wie sich Institutionen organisieren und wie Leitungspersonen Verantwortung übernehmen, um ihrer Garantenpflicht für den Schutz der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen nachzukommen.
Leider wird man Missbrauch wohl nie völlig verhindern können, er gehört zu den menschlichen Abgründen. Aber man kann alles tun, um ihn möglichst zu verhindern. Dem sehen sich aufgrund ihrer auch dunklen Geschichte gerade jesuitische Schulen besonders verpflichtet."
Missbrauch gerade im kirchlichen Kontext
In Bessenbachs Artikel ging es um seine Haltung gegenüber Theo Schneider. Der war mit dem Täter befreundet, hat versagt und übernimmt keine Verantwortung. Bessenbachs Haltung ist genau das Gegenteil: Er ist ambivalent, er nimmt seine eigene Ambivalenz wahr, lässt sie zu und teilt sie mit.
Er schreibt: "Ich spüre, dass ein Teil von ihm noch immer zu mir gehört. Auch wenn ich lernen musste, dass er nicht der Held ist, für den ich ihn lange hielt." Im Telefonat sagt er: "Ich verehre ihn ja nicht mehr. Ich bin total ambivalent. Bin ich nicht hart genug mit ihm ins Gericht gegangen? Ich bin, glaube ich, nicht geblendet, aber auf manche wirkt es so. Ich habe mich gefragt, ob ich verblendet bin, aber ich bin nach meinem Gefühl ehrlich."
Wenn man davon ausgeht, dass der eigentlich religiöse Terminus der "Vergebung" einen inneren Heilungsprozess des Geschädigten benennt, einen eigentlich nicht möglichen, nicht logischen Sieg über den Unheilsbringer: Was bedeutet dann solch eine Ambivalenz?
Die Frage stellt sich auch, weil dieser Missbrauch wie so viele andere in einem religiösen Kontext – einem Internat der Jesuiten – geschehen ist. So ein Geschehen kann nicht nur die Sexualität und Bindungsfähigkeit eines Menschen beeinflussen, sondern auch seinen Glauben.
Das Geschehen gibt vor allem deswegen zu denken, weil Pater Stüper seine Missbrauchstaten im kirchlichen Kontext verübt hatte. Sexualisierte Gewalt ist im christlich-religiösen Kontext besonders schockierend.
Erstens, weil sie das genaue Gegenteil von allem darstellt, was man heutzutage unter der christlichen Botschaft versteht. Zweitens, weil der Begriff der Vergebung in der christlichen Religion fundamental ist, und viele Geschädigte sich anhören mussten (und wahrscheinlich immer noch müssen), dass sie vergeben sollen: eine Zumutung.
Aber was bedeutet Vergebung überhaupt? Im Jahr 2013 erschien der Film "Philomena" mit Judy Dench: Philomena bringt als "gefallenes Mädchen" in einem irischen Kloster ein Kind zur Welt. Die Nonnen verkaufen das Kind in die USA und verhindern mit vielen Lügen und Intrigen ein Wiedersehen von Mutter und Sohn bis zum Tod des inzwischen erwachsenen Mannes.
In der sehr starken Schlussszene des Films sagt Philomena zur alten – und total uneinsichtigen – Äbtissin, dass sie ihr vergebe. Es sei schwer, aber sie vergebe ihr.
Damit reklamiert sie erstens die Deutungshoheit über das Geschehen und bewahrt zweitens ihre Religiosität. Man kann – muss? - natürlich fragen, was eine Religiosität überhaupt wert ist, wenn die entsprechende Religion so gelebt wird wie von diesen Nonnen.
Aber das ist eben nicht alles. Wer es schafft, nach einer Vergewaltigung Sex wieder zu genießen, ist ein Held. Vielleicht ist es auch so mit dem Glauben nach Misshandlung und Missbrauch im kirchlichen Kontext.
Und Philomena behält ihren Glauben, verhält sich "christlicher" als die Äbtissin, und damit trägt sie den Sieg davon. Ein Beispiel für ein besseres Konzept von Vergebung als etwa unterwürfiges Vergessen, was in manchen, vor allem konservativen, christlichen Kreisen gefordert wird.
Bessenbach berichtet in einem anderen Zeit-Artikel von seinen Vorbehalten gegenüber dem christlichen Glauben. Als er 14 war, starb seine Mutter – und im katholischen Internat wurde er sexuell belästigt. Nun will seine Freundin kirchlich heiraten.
Er schreibt: "Wenn man einmal erlebt hat, wie es sein kann, zu glauben, und sich dann so distanziert hat wie ich, fällt es schwer, nur halbherzig und zweifelnd mitzumachen. Es fühlt sich an, wie Gast auf einer Party zu sein, auf der man nicht eingeladen ist."
In unserem Kulturkreis hat der Mensch ein Anrecht auf Gleichgültigkeit, Unglauben und Glauben. Wenn die Kirche oder die Kirchen auf sexualisierte Gewalt nicht angemessen reagieren, vertreiben sie ihre Mitglieder – die Austrittszahlen sprechen für sich.
Manch einer glaubt besser ohne Kirche. Solange Kirchen Missbrauchstaten nicht öffentlich machen, ihre Schuld bekennen, um Vergebung bitten und Gegenmaßnahmen durchsetzen, so lange sind wahrscheinlich viele Gläubige der Auffassung, dass sie besser ohne Kirche glauben. Oder eben gar nicht.
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