Macht und Missbrauch: Sollten Kirchen Kinder anvertraut werden?

Seite 2: Spitzname "Pädo-Pater" – aber keine Konsequenzen

Bessenbach schreibt: "Während meiner Schulzeit habe ich niemandem von diesen Erlebnissen erzählt. Dass Stüper pädokriminell sein könnte, konnte ich mir nicht vorstellen, vielleicht wollte ich es auch nicht wahrhaben." Dabei habe es immer Gerede und Witzeleien gegeben; und an einem seiner ersten Tage im Internat habe ihm ein Schüler gesagt, Stüpers Spitzname sei "Pädo-Pater".

Aber er habe all so etwas nicht ernst genommen. "Ich verstand nicht, dass er täglich Grenzen überschritt. Ich gewöhnte mich an die Scham, mich in der Dusche nackt vor ihm zeigen zu müssen. Ich hatte keinen Begriff für diese Übergriffe. Vielen erging es ähnlich, ich denke, das ist der Grund, warum sich so wenige beschwerten."

Internatsleiter Schneider stand Bessenbach nach dem frühen Tod von dessen Mutter bei, er sorgte sich um ihn und diskutierte mit ihm. "Kurz nach dem Abi war ich noch total 'pro Schneider'", sagt er. "Aber dann gab es viele Diskussionen, während meines Studiums habe ich andere Leute getroffen. Dann fing es an. Es war ein langer Prozess, in dem mir klar wurde, wie groß eigentlich seine Versäumnisse waren."

Theo Schneider war bereit zu einem langen Gespräch mit Niklas Bessenbach, das muss man ihm hoch anrechnen. Auf eine Anfrage von Telepolis hin teilte er mit, er wolle sich "zu den im erwähnten Artikel aufgeworfenen Fragen nicht mehr äußern."

Die Versäumnisse des Internatsleiters und die Reaktion des Ordens

Als Bessenbach Schneider für seinen Artikel aufsucht, fragt er ihn nach den Nacktfotos, die Stüper von den Jungen gemacht hatte. Schneider gibt zu, dass er davon wusste und sich deswegen mit Stüper gestritten habe.

Und dann sagt ihm Schneider: "Die Moralvorstellungen in der Gesellschaft wandeln sich, früher war Rauchen schick, heute ist es meistens verpönt. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, wie viel Nacktheit akzeptabel ist." – Nun ja: Rauchen war wohl an den meisten Schulen streng verboten, weil man genau wusste: Es ist ungesund!

Bessenbach erzählt dem ehemaligen Internatsleiter: "Mit mir war er allein in der Sauna. Wollte mich zweimal nackt sehen. Einem meiner Freunde hat er nach dem Fußballspielen eine Wunde im Intimbereich eingecremt." Und dann stellt Theo Schneider die Frage: "War euch das unangenehm?" – Wie kann man so etwas fragen?

Bessenbach fragt Schneider: "Siehst du in Stüper einen Kriminellen?" Und der antwortet: "Wenn er all das getan hat, was man ihm vorwirft, dann ja." Dieser Wenn-Dann-Satz nach all den Studien, den Aussagen der vielen Schüler, im Gespräch mit dem ehemaligen Schüler, lässt einen erstarren.

Neues Einsatzfeld – keine "Strafversetzung"

Nach Bekanntwerden der Missbrauchstaten von Pater Stüper trat Schneider zurück, später wurde er versetzt; die Versetzung "erfolgte in Etappen im Laufe der darauffolgenden Monate", sagt Pater Roser:

"Wichtig ist dabei zu sehen: Im Jesuitenorden geschehen solche Schritte immer in Absprache mit den Oberen. Insofern bedeutete der mit den Oberen vereinbarte Rücktritt auch den Beginn der Suche nach einem neuen Einsatzfeld" so Roser. Gemeint ist eine Versetzung unter Berücksichtigung seiner Vorgeschichte am Aloisiuskolleg (AKO).

"Für die Oberen war in diesem Prozess von Anfang an klar, dass Theo Schneider nicht mehr – weder am AKO noch woanders – in einem pädagogischen Kontext zum Einsatz kommen wird.

Insofern geschah mit dem Rücktritt und dem Ausschluss aus pädagogischen Kontexten eine Verantwortungsübernahme (sowohl von Seiten des Ordens als auch von Theo Schneider, der diesen Maßnahmen zustimmte), die allerdings im Laufe der Jahre einigen nicht weit genug ging."

Von einer "Strafversetzung" mag Roser nicht sprechen, denn Schneider sollte zunächst in einer Pfarrei mitarbeiten, was "natürlich keine" Strafversetzung sei.

"Allerdings muss man sehen, dass Theo Schneider bis zu diesem Zeitpunkt fast sein ganzes Leben lang im pädagogischen Kontext tätig war. Insofern bedeutete der Ausschluss aus diesem Tätigkeitsfeld schon auch einen tiefen Einschnitt für ihn, wie immer man das jetzt bezeichnen mag."

Schneider selbst habe nach allem, was bekannt sei, keinen Missbrauch begangen, sagt Roser, er habe aber in seiner Funktion als Internatsleiter und Schulrektor eine systemische Verantwortung dafür getragen, dass Missbrauch habe geschehen können, "und die in dem Artikel von Herrn Bessenbach auf differenzierte Weise beschrieben wird."

Entsprechend hat kurz nach dem Erscheinen des Artikels, der Provinzial der Jesuiten in Zentraleuropa eine Stellungnahme dazu veröffentlicht, in der er die Argumentationen und Stellungnahmen Schneiders heftig kritisiert und klarstellt, dass der Orden sich davon distanziere.

Auch Jan Roser schließt sich dieser Kritik an. "Missbrauch hat immer eine systemische Dimension. Ob er geschehen kann, hängt immer von der Weise ab, wie sich Institutionen organisieren und wie Leitungspersonen Verantwortung übernehmen, um ihrer Garantenpflicht für den Schutz der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen nachzukommen.

Leider wird man Missbrauch wohl nie völlig verhindern können, er gehört zu den menschlichen Abgründen. Aber man kann alles tun, um ihn möglichst zu verhindern. Dem sehen sich aufgrund ihrer auch dunklen Geschichte gerade jesuitische Schulen besonders verpflichtet."

Missbrauch gerade im kirchlichen Kontext

In Bessenbachs Artikel ging es um seine Haltung gegenüber Theo Schneider. Der war mit dem Täter befreundet, hat versagt und übernimmt keine Verantwortung. Bessenbachs Haltung ist genau das Gegenteil: Er ist ambivalent, er nimmt seine eigene Ambivalenz wahr, lässt sie zu und teilt sie mit.

Er schreibt: "Ich spüre, dass ein Teil von ihm noch immer zu mir gehört. Auch wenn ich lernen musste, dass er nicht der Held ist, für den ich ihn lange hielt." Im Telefonat sagt er: "Ich verehre ihn ja nicht mehr. Ich bin total ambivalent. Bin ich nicht hart genug mit ihm ins Gericht gegangen? Ich bin, glaube ich, nicht geblendet, aber auf manche wirkt es so. Ich habe mich gefragt, ob ich verblendet bin, aber ich bin nach meinem Gefühl ehrlich."

Wenn man davon ausgeht, dass der eigentlich religiöse Terminus der "Vergebung" einen inneren Heilungsprozess des Geschädigten benennt, einen eigentlich nicht möglichen, nicht logischen Sieg über den Unheilsbringer: Was bedeutet dann solch eine Ambivalenz?

Die Frage stellt sich auch, weil dieser Missbrauch wie so viele andere in einem religiösen Kontext – einem Internat der Jesuiten – geschehen ist. So ein Geschehen kann nicht nur die Sexualität und Bindungsfähigkeit eines Menschen beeinflussen, sondern auch seinen Glauben.

Das Geschehen gibt vor allem deswegen zu denken, weil Pater Stüper seine Missbrauchstaten im kirchlichen Kontext verübt hatte. Sexualisierte Gewalt ist im christlich-religiösen Kontext besonders schockierend.

Erstens, weil sie das genaue Gegenteil von allem darstellt, was man heutzutage unter der christlichen Botschaft versteht. Zweitens, weil der Begriff der Vergebung in der christlichen Religion fundamental ist, und viele Geschädigte sich anhören mussten (und wahrscheinlich immer noch müssen), dass sie vergeben sollen: eine Zumutung.

Aber was bedeutet Vergebung überhaupt? Im Jahr 2013 erschien der Film "Philomena" mit Judy Dench: Philomena bringt als "gefallenes Mädchen" in einem irischen Kloster ein Kind zur Welt. Die Nonnen verkaufen das Kind in die USA und verhindern mit vielen Lügen und Intrigen ein Wiedersehen von Mutter und Sohn bis zum Tod des inzwischen erwachsenen Mannes.

In der sehr starken Schlussszene des Films sagt Philomena zur alten – und total uneinsichtigen – Äbtissin, dass sie ihr vergebe. Es sei schwer, aber sie vergebe ihr.

Damit reklamiert sie erstens die Deutungshoheit über das Geschehen und bewahrt zweitens ihre Religiosität. Man kann – muss? - natürlich fragen, was eine Religiosität überhaupt wert ist, wenn die entsprechende Religion so gelebt wird wie von diesen Nonnen.

Aber das ist eben nicht alles. Wer es schafft, nach einer Vergewaltigung Sex wieder zu genießen, ist ein Held. Vielleicht ist es auch so mit dem Glauben nach Misshandlung und Missbrauch im kirchlichen Kontext.

Und Philomena behält ihren Glauben, verhält sich "christlicher" als die Äbtissin, und damit trägt sie den Sieg davon. Ein Beispiel für ein besseres Konzept von Vergebung als etwa unterwürfiges Vergessen, was in manchen, vor allem konservativen, christlichen Kreisen gefordert wird.

Bessenbach berichtet in einem anderen Zeit-Artikel von seinen Vorbehalten gegenüber dem christlichen Glauben. Als er 14 war, starb seine Mutter – und im katholischen Internat wurde er sexuell belästigt. Nun will seine Freundin kirchlich heiraten.

Er schreibt: "Wenn man einmal erlebt hat, wie es sein kann, zu glauben, und sich dann so distanziert hat wie ich, fällt es schwer, nur halbherzig und zweifelnd mitzumachen. Es fühlt sich an, wie Gast auf einer Party zu sein, auf der man nicht eingeladen ist."

In unserem Kulturkreis hat der Mensch ein Anrecht auf Gleichgültigkeit, Unglauben und Glauben. Wenn die Kirche oder die Kirchen auf sexualisierte Gewalt nicht angemessen reagieren, vertreiben sie ihre Mitglieder – die Austrittszahlen sprechen für sich.

Manch einer glaubt besser ohne Kirche. Solange Kirchen Missbrauchstaten nicht öffentlich machen, ihre Schuld bekennen, um Vergebung bitten und Gegenmaßnahmen durchsetzen, so lange sind wahrscheinlich viele Gläubige der Auffassung, dass sie besser ohne Kirche glauben. Oder eben gar nicht.

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