Macron: "Europa war noch nie in so großer Gefahr"
Große Worte, große Versprechen, aber wie groß ist die Glaubwürdigkeit? Zum Brief Macrons an Bürgerinnen und Bürger Europas
Macron wird nicht europamüde. Die Neuerfindung der EU liegt ihm am politischen Herzen. Er ist der einzige Staatschef in Europa weit und breit, der sich überhaupt bemüht, die Regale im alten Laden mit neuen Vorschlägen zu beleben. Dafür gebührt ihm Respekt, dem ihm auch die großen Medien, die in der politischen Mitte angesiedelt sind, immer reichlich zukommen lassen, wenn er neue Ideen liefert. Sie wurden aber nie verwirklicht. Das macht das Loben der europäischen Figur Macron leichter.
Diesmal, so Le Monde, habe er dazu gelernt, Macron ist jetzt inklusiv, nicht mehr ausschließend nach seinen Reisen durch die osteuropäischen Länder, nicht mehr der Angreifer rechter Politiker wie Orbán oder Salvini, sondern ein Versammler, ein Einiger. Das französische Wort dazu heißt Rassembleur, In Frankreich ist das ein geradezu magisches politisches Wort, das mit de Gaulle verbunden ist.
Auch Macron strebt in Höhen. Er hat Ambitionen und zeigt sie. Sein Schreiben an die "Bürgerinnen und Bürger Europas" ist betitelt mit: "Für einen Neubeginn in Europa". In Gänze und auf Deutsch ist sein Essay in Briefform beim Elysee-Palast zu lesen, wer dafür Geld übrig hat, kann ihn bei Welt plus lesen. In allen 28 EU-Mitgliedstaaten soll der Text heute in einer Zeitung zu lesen sein.
Wenn die Adresse nicht stimmt
Die große Frage ist, welche Glaubwürdigkeit dem Schreiben in breiteren Schichten beigemessen wird. Man kann seinen Brief auch als Musterbeispiel dessen lesen, was man falsch machen kann, wenn die Adresse nicht stimmt. Der französische Präsident muss keine Konzerne oder Unternehmensführer von seiner Politik überzeugen, die genau die Förderung deren Interessen im Zentrum hat. Auch die großen Medien muss er nicht überzeugen.
Zwei von drei Franzosen, 65 Prozent, sind nach einer aktuellen Umfrage der Auffassung, dass Emmanuel Macron "noch immer nicht den Eindruck macht, dass er die Schwere der politischen und sozialen Krise erkannt hat". Das war gestern bei BMTV zu lesen, einem Medium, das Macron gut gesinnt ist und daher von seiner Seite nicht zu den manipulativen gezählt wird.
Die Umfrage erscheint zu Zeiten, in denen die große soziale Protestbewegung der Gelbwesten im schlichten "Hoch-Tief-Barometer der Medien" an Attraktivität eingebüßt hat - und tatsächlich auch weniger zu den Demonstrationen an den Samstagen kommen.
Das hat damit zu tun, dass an den Gilets jaunes die Etiketten "Gewalt" und "Antisemitismus" kleben, die schwer loszubringen sind, selbst wenn die Mehrheit der Demonstranten mit Hass und Ressentiments gegen Juden nichts am Hut hat, wofür es viele Indizien gibt, und die Regierung ihrerseits ein schweres Gewaltproblem mit dem Vorgehen der Polizei hat, das sie aber leugnet.
Die Krise, die bleibt
Man kann über alle diese Aspekte der Protestbewegung streiten, was auch fortgesetzt gemacht wird, der Eindruck bleibt, dass die politische Malaise, die dem Protest der Gilets jaunes zugrunde liegt, nicht gelöst ist. Es geht um eine Form der Wirtschaftspolitik und politischer Rahmenbedingungen, die das Leben breiter Schichten erschweren.
Macron vertritt die anderen Schichten. Dies ist die einfache Erklärung der Krise, die sich in der genannten Umfrage widerspiegelt und gegen die sich Macron mit seinem Brief nicht gerade entgegenstemmt, aber der er gegenzusteuern versucht.
Neu in Macrons Angebotspalette und wahrscheinlich eine Konsequenz aus den monatelangen Protesten ist immerhin der Vorschlag, der zwar nicht das politisch linksgefärbte Wort "Solidarität" verwendet, aber mit "Zusammenwirken" in diese Richtung äugt mit der Größe Europas im Rücken (ohne solchen Größen als Leitbilder ist der Idealist Macron ganz leer). Macron plädiert für eine "soziale Grundsicherung" in ganz Europa:
Europa ist keine Macht zweiten Ranges. Europa als Ganzes spielt eine Vorreiterrolle, denn es hat von jeher die Maßstäbe für Fortschritt gesetzt. Dazu muss es ein Projekt anbieten, dass eher dem Zusammenwirken als der Konkurrenz dient: In Europa, wo die Sozialversicherung erfunden wurde, muss für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, von Ost nach West und von Nord nach Süd, eine soziale Grundsicherung eingeführt werden, die ihnen gleiche Bezahlung am gleichen Arbeitsplatz und einen an jedes Land angepassten und jedes Jahr gemeinsam neu verhandelten europaweiten Mindestlohn gewährleistet.
Emmanuel Macron
Typisch für den luftigen Macron, dem es genügt, Ideen in Konturen anzubieten, ohne in seiner praktischen Politik an grundsätzlichen Einstellungen etwas ändern zu wollen, ist, dass er die soziale Grundsicherung nur als Stichwort liefert mit einem weiteren, dem europaweiten Mindestlohn, verbunden. Das muss reichen.
Er macht keine Anstrengung, dies zu konkretisieren, er nennt kein Beispiel für die Verbesserung, keinen Anhaltspunkt, wie das genauer aussehen könnte. Man ahnt so nur, wie schwierig die Umsetzung auch dieses Vorhabens sein wird.
Weitere unverbindliche Vorschläge
Es wird ein weiteres Versprechen sein, das man gut hinausschieben kann, weil dazu nichts Verbindliches geäußert wird. In dieser Reihe gibt es eine ganze Menge an Vorschlägen, die Macron in seinem Schreiben macht.
Angefangen mit der Schaffung einer "europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie" bis hin zu einer Europäischen Klimabank zur Finanzierung des ökologischen Wandels sowie einer europäische Kontrolleinrichtung "für einen wirksameren Schutz unserer Lebensmittel" - die Versprechungen klingen alle erstmal gut. Wie auch in der Wirtschaftspolitik die Ankündigung, "dass Unternehmen, die Europas strategische Interessen und Werte untergraben (Umweltstandards, Datenschutz, angemessene Steuern) bestraft oder verboten werden".
Aber ihre Realisierung ist mit sehr vielen Zweifeln verbunden. Letztlich auch, weil sie Macron vorschlägt.
Auch eine unabhängige wissenschaftliche Bewertung von Umwelt und Gesundheit gefährdenden Substanzen soll laut Macron künftig möglich sein und zwar dergestalt, dass sie "vor der Bedrohung durch Lobbyismus schützt". Angesichts des derzeitigen Lobbyismus in der EU, der von Macron in der Vergangenheit nicht gerade bekämpft wurde, ist das kaum vorstellbar.
Gewisse Aussichten auf Verwirklichung haben Macrons Vorschläge zur Schaffung einer gemeinsamen Grenzpolizei. Schwieriger wird es schon bei der Einrichtung einer europäischen Asylbehörde.
Auch wenn Macron betont, dass er strenge Kontrollbedingungen will und dass er angesichts der Migration an ein Europa glaubt, "das sowohl seine Werte als auch seine Grenzen beschützt", so wird das die Verhandlungen Ländern, die möglichst keine Migranten aufnehmen wollen - auch dann nicht, wenn sie von der europäischen Asylbehörde akzeptiert werden -, nicht grundlegend verändern.
Auch die von ihm vorgeschlagene Aufsichtsinstitution eines "Europäischen Rats für innere Sicherheit" wird an den Grundhaltungen zur Migration wahrscheinlich nicht viel ändern.
Die "europäische Agentur für den Schutz der Demokratie"
Die Schaffung einer "europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie" ist ein seltsames Hybrid. Es geht ihm damit, wie Macron in seinem Schreiben deutlich macht, um die Abwehr russischer Einflüsse. Die Agentur soll in jeden Mitgliedstaat europäische Experten entsenden, um Wahlen vor Hackerangriffen und Manipulationen zu schützen, so Macron.
Zum größeren Kontext gehört für ihn das "Verbot der Finanzierung europäischer Parteien durch fremde Mächte". Wesentlich zum Arbeitsfeld gehört die Säuberung des Internets. Das klingt schön clean: "Wir müssen durch EU-weite Regelungen Hass- und Gewaltkommentare aus dem Internet verbannen, denn die Achtung des Einzelnen ist die Grundlage unserer Kultur der Würde." Wer aber mitbekommt, bei welchen Äußerungen bei manchen in den Sozialen Netzwerken schon die Alarmglocken schrillen, kann von einer solchen Behördenarbeit überhaupt nichts Gutes erwarten.
Auch Macron macht sich schlimmste Sorgen um Europa:
Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.
Emmanuel Macron
Eine seiner inklusiven Vorschläge, damit alle wieder zusammenkommen, lautet:
Deshalb sollten wir noch vor Ende dieses Jahres mit den Vertretern der EU-Institutionen und der Staaten eine Europakonferenz ins Leben rufen, um alle für unser politisches Projekt erforderlichen Änderungen vorzuschlagen, ohne Tabus, einschließlich einer Überarbeitung der Verträge. Zu dieser Konferenz sollten Bürgerpanels hinzugezogen und Akademiker, Sozialpartner und Vertreter der Religionen gehört werden. Sie wird einen Fahrplan für die Europäische Union festlegen, indem sie die wichtigsten Prioritäten in konkrete Maßnahmen umsetzt.
Emmanuel Macron
Man darf gespannt sein, zu welchen konkreten politischen Schlüssen Macron nach der großen Debatte in Frankreich kommt. Sie ist am 15. März zu Ende.
Der Präsident hatte versprochen, Konsequenzen aus diesen Bürger-Konferenzen ohne Tabus zu ziehen. Zugleich hatte er klargemacht, dass er an seinem Kurs bei der Nicht-Besteuerung von Finanzvermögen und den arbeitgeberfreundlichen Arbeitsgesetzen festhalten wird. Die Art, wie er nun auf den Bürgerdialog in Frankreich reagieren wird, wird ein Gradmesser dafür sein, wie viel man ihm bei den Versprechungen für die EU glauben kann. Wahrscheinlich ziemlich wenig.