Macron: Gesundheitspass für (fast) alle und Impfpflicht für medizinisches Personal
Corona: Französischer Präsident fürchtet die vierte Welle und die Impfmüdigkeit der Bevölkerung. Er setzt auf verpflichtende Regeln, Kontrollen und Strafen
In ein paar Wochen sollen nur mehr Personen mit einem "Gesundheitspass" Zugang zu Einkaufszentren bekommen. Hinein darf, wer eine vollständige Impfung nachweisen kann oder einen aktuellen Test, der bestätigt, dass Königin oder König Kunde nicht mit dem Corona-Virus infiziert ist. Der PCR-Test wird aber bald nicht mehr kostenlos sein. Diejenigen, die ihren Status als "Gesunde" nachweisen müssen, müssen ihn selbst bezahlen. Außer sie sind doppelt geimpft.
Ab 21. Juli ist der Nachweis von Impfungen - oder einem aktuellen, bald kostenpflichtigen Testergebnis - im "passe sanitaire" Voraussetzung für einen Besuch kultureller Veranstaltungen oder von Freizeitangeboten. Ab Anfang August gilt diese Vorgabe auch für Cafés, Restaurants, Einkaufszentren, Krankenhäuser, Altenheime und Zug- oder Busreisen "longue distance".
Ab 15. September dürfen alle Pflegekräfte und Angehörige des medizinischen Personals, die nicht geimpft sind, nicht mehr arbeiten und sie bekommen auch kein Geld mehr. Es wird Kontrollen geben, ob die Impfpflicht eingehalten wird, sowie Strafen, kündigte Macron in seiner gestrigen feierlichen Ansprache an die "lieben Compatriotes" an. Die Rede war wie so oft von Macrons Willen, Dynamik zu zeigen, und einer stärkeren Dosis Autorität gezeichnet.
"Lassen Sie sich impfen", heißt es auf der Twitterseite des Präsidenten. "Sie müssen sich impfen", lautet die Botschaft, die Macron in seiner Rede deutlich vermittelte. Beinahe müßig zu erwähnen, dass Macron noch im Frühjahr davon sprach, dass es eine Verpflichtung zum Gesundheitspass nicht geben wird. Solche 180°-Richtungswechsel gehören zur neuen Normalität in Corona-Zeiten.
Doctolib verzeichnete schon wenige Minuten nach Ausstrahlung der Rede 20.000 Anmeldungen für Impftermine. Die Impfkampagne soll deutlich hoch gefahren werden, Macron sprach von Impfungen, die quasi überall stattfinden sollen, bei der Rückkehr aus den Ferien (la rentrée) auch an den Schulen.
Gefahr dräut schon im August. Im nächsten Monat erwartet Macron den ersten Höhepunkt der vierten Welle. Die Delta-Variante führt wie in anderen Ländern auch zu einem Anstieg der Neu-Infektionen. 110 Prozent plus sind es in den letzten 14 Tagen, zeigt der Überblick zur Entwicklung der Pandemie in Le Monde. In absoluten Zahlen werden dort für den 12. Juli 1.260 Neuinfektionen gemeldet.
Das mag weit entfernt von den 30.000 und mehr täglichen Fällen sein, die bei der dritten Welle gemeldet wurden, aber Gesundheitsminister Véran hält einen Anstieg der Neuinfektionen bereits Anfang August von bis zu 20.000 täglichen Fällen für möglich. Der Blick nach vorne ist der, der die nächste neue Gefahr kommen sieht.
Der Blick auf die gegenwärtige Lage zeigt, dass die kritischen Fälle, die Krankenhauseinweisungen und die Zahl der Corona-Toten auf sehr niedrigem Stand sind. Für den 12. Juli werden landesweit 267 neue Hospitalisierungen gemeldet, 55 Einweisungen zur Intensivpflege und 28 Corona-Tote in Krankenhäusern.
Schaue man aber nur auf die Krankenhaus-Einweisungen, so der Experte für Corona-Zahlen bei der deutschen Zeitung Welt, Olaf Gersemann, so starre man in den Rückspiegel statt nach vorn.
Der Zusammenhang zwischen schweren Krankheitsverläufen und einer Covid-Ansteckung sei durch die Impfung aber deutlich geschwächt, heißt das englische Argument für die Lockerungen der Maßnahmen, an denen Premierminister Johnson trotz heftiger Kritik festhält, wie er gestern bekannt gab.
Nach vorne schauen, heißt gegenwärtig, neben der Infektionszahlen, auch auf die Impfzahlen zu schauen. In Frankreich sehen sie nicht besonders gut aus. Von den Gesundheitsbehörden wurden zuletzt knapp 36 Millionen gemeldet, die eine Erstimpfung erhalten haben (das entspreche 53,1 Prozent der Gesamtbevölkerung) und 27 Millionen, die vollständig geimpft sind (40,6 Prozent der Gesamtbevölkerung).
Derzeit erhalten im Durchschnitt etwas mehr als 1,12 Millionen jede Woche eine erste Injektion. Das ist weit entfernt von den 2,8 Millionen, die Macron vor zwei Monaten in Aussicht gestellt hatte.
Seine gestrige Ankündigung wirft viele Fragen auf. Ob und wie eine solche Verpflichtung zum Impfen und zu einem Gesundheitspass etwa mit der Verfassung zu vereinbaren ist? Macron plant einen neuen Gesetzesentwurf, der dem Conseil constitutionel vorgelegt werden sollte.
Dazu kommen Fragen nach der praktischen Umsetzung. "Was mache ich, wenn eine Gruppe mit fünf Personen zu mir ins Café kommt und eine Person hat keinen Ausweis dabei, wie setze ich mich durch", fragt ein Gastwirt. Wer kontrolliert in den Zügen den Gesundheitspass? Ab wann ist ein Zug "longue distance"? Wenn er weit fährt, etwa von Paris nach Perpignan in den Südwesten? Aber was ist, wenn er in kleineren Bahnhöfen hält und Leute zusteigen, die nur einen kurzen Abschnitt fahren?
Es gibt viele solcher praktischer Fragen, die sich gestern etwa bei Le Monde angesammelt haben. Und es gibt die größeren Fragen, inwieweit Macron mit seiner auf Kontrollen und Strafen fußenden Corona-Politik Erfolg bei der Wählerschaft haben wird, es ist längst Wahlkampf.
Dass er die Reform der Rente, bei denen es um die Abschaffung von "Privilegien" und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit geht, neu in Angriff nehmen will, wird ebenfalls kritisch beäugt.