Macron trifft den empfindlichen Nerv der Nato
Mit seinen Äußerungen zur Türkei und zu Russland verstößt er gegen das Nato-Prinzip, sich bei unbequemen Fragestellungen wegzuducken
Der französische Präsident hat mit seiner Äußerung, wonach die "Nato auf dem Weg zum Hirntod" sei, offensichtlich einen empfindlichen Nerv getroffen.
Die Transatlantiker sind in heller Aufregung - nicht nur auf dem erregungsverknallten Twitter-Podium. Dass die deutsche Kanzlerin Merkel auf der Stelle mit Beschwichtigungen reagierte, bestätigt, dass hier auf einen wunden Zahn gefühlt wird. Nato-General-Sekretär Stoltenberg beeilte sich wie ein guter Schüler, brav den Merktext aufzusagen , dass "jeglicher Versuch, Europa von Nordamerika zu distanzieren", die transatlantische Allianz schwächen werde. Die Angst vor einer Spaltung wird aufgefahren. Wenn Marcrons Äußerung nicht doch eine schmerzende Stelle touchiert hätten, dann wären die Reaktionen anders ausgefallen.
Auch Merkel gestand ein, dass es in der NATO knirscht. Doch geht Macron anscheinend noch weiter. Angeblich soll er bereits in den von ihm präferierten abgeschlossen Zirkeln davon gesprochen haben, dass das Bündnis in 5 Jahren zerfallen sein könnte. Früher hätte man das als Spinnerei abgetan, heute ist das anders. Trump hat die Möglichkeiten dessen, was ein Staatschef sagen kann, erweitert. Macron bewundert Trump.
Seine Äußerungen gegenüber dem britischen Magazin "The Economist" haben Knalleffekte, die man sonst vom US-Präsidenten kennt. Ins Irrelevante abschieben lassen sie sich dadurch aber nicht. Sie zeigen eine Kluft an. Macron will eine selbstbewusstere Rolle der Europäer, das verstößt gegen den Konsens der hofartigen Unterwürfigkeit, der den Nato-Geist beherrscht.
Macron trifft die müde Museumshaltung innerhalb der Nato, wenn er vom Verhältnis zu Russland spricht und im Fall der Türkei. Bei letzterem zeigt sich, wie wenig es um eine Wertegemeinschaft geht. Der französische Präsident spricht an, was sonst nur in ein paar Medien-Kommentaren zu lesen war, aber innerhalb der Nato heruntergebügelt wurde.
Wie kann es sein, dass man die SDF, an deren Seite Nato-Mitgliedsländer gegen den IS-Terror gekämpft haben, dann sprachlos, ohne jeden Widerstand dem anderen Nato-Mitgliedsland, der Türkei, zum Abschuss freigibt - durch einen völkerrechtswidrigen Angriff, der nach allen vorliegenden Indizien und Erfahrungen mit Afrin eine Annexion hinausläuft?
Während Merkel von "unserem Sicherheitsbündnis" spricht und damit erst gar keine Diskussion aufkommen lassen will, spricht Macron die unsichere Stelle in einem wesentlichen Punkt des Nato-Bündnisses an.
Was wird aus dem Artikel 5? Wenn sich das Regime von Baschar al-Assad dazu entschließt, der Türkei militärisch zu antworten, werden wir uns dann engagieren? Das ist eine echte Frage. Wir haben uns dafür engagiert, gegen den IS zu kämpfen. Das Paradox ist, dass die amerikanische Entscheidung und die türkische Offensive das selbe Resultat haben: Die Opferung unserer Partner auf dem Terrain, die gegen den IS gekämpft haben, die SDF.
Emanuel Macron, Le Figaro
Zu einem etwaigen Bündnisfall hat sich sonst niemand aus der politischen Spitze der Nato-Länder geäußert. Man duckt sich in der Nato vor unbequemen Fragestellungen weg. Stattdessen hält man unbeirrt an festen Feindbildern und einseitigen Auffassungen fest, um sich dadurch selbst zu vergewissern. Zu sehen am Beispiel Russland und der Krimkrise, die als aggressiver Akt Russlands dargestellt wird und konstituierend ist für Argumente, die mehr "Wehrhaftigkeit" der Nato in Osteuropa einfordern.
Dabei verengt man in der Nato das Feld dessen, worüber geredet wird, politisch auf einen bestimmten Korridor. Die Bestätigung der israelischen Annexion der Golanhöhen durch Trump wird beim Annexionsargument ebenso wenig in Erwägung gezogen wie die Annexion Afrins und anderer syrischer Gebiete (bei Jarbulus) durch die Türkei. Das wird ausgeklammert wie auch die eigene Rolle und die der EU bei den Vorgängen in der Ukraine 2014, die Russland zur Sicherung der Krim geführt haben.
Nicht bei einer Feindseligkeit gegen Russland stehen bleiben
Dass Macron ein anderes Verhältnis zu Russland, nämlich ein kooperativeres, fordert, ist der zweite Stachel, der das Selbstverständnis einer in ihren Ansichten trägen Nato-Führung trifft. Lieber will man über weitere Rüstungsaufstockungen reden, um wie stets der Führungsmacht gegenüber höflich zu bleiben. Eine Neuausrichtung gegenüber Russland, wie sie Macron anspricht, kommt dagegen einem Tabubruch gleich.
Dabei beschönigt Macron, wie in französischen Zeitungen herausgestellt wird - und wie er dies bei seinen Treffen mit Putin auch signalisierte -, seine Ansichten über Russland nicht. Er hält dessen politisches Modell "nicht für vertretbar", wie ihn Le Monde zitiert. Die Türkei und Russland stuft Macron als "autoritär geführte Länder" in der Nachbarschaft der EU ein, die die europäische Gemeinschaft schwächen.
Nichtsdestotrotz gibt er aber in dem Interview deutlich zu erkennen, dass er nicht bei der Feindseligkeit gegenüber Russland stehenbleiben will, sondern sie überwinden, um eine neue Sicherheitsarchitektur aufzubauen, die auf gemeinsame Interessen und auf mehr Vertrauen setzt. Offenbar hat Macron bei seinem kürzlichen Besuch in Ungarn, bei seinem europapolitischen Gegenspieler Orbán, auch in diesem Sinne gesprochen.
Der französische Präsident hält an seinem Konzept fest, wonach Europa geopolitisch eine Macht sein kann, die sich von den USA weiter abkoppeln kann. Dass ihm Trump bei seinen politischen Manövern mit Iran in die Parade gefahren ist oder ihn auflaufen ließ, dürfte hier am Rand mithineinspielen.
Im Übrigen scheint er tatsächlich der Überzeugung zu sein, dass sich Europa auch ohne die Nato selbst verteidigen könne. Auch dazu stellt sich ja die Feindbildfrage.
Anfang Dezember treffen sich die Nato-Mitgliedstaaten in London; ob Macron die Diskussion im Bündnis weitergebracht hat, wird man dann sehen.