Macrons Brief an die Nation: "Lasst uns über alles reden"
Welche Steuern sollten prioritär gekürzt werden? Soll es neue staatliche Leistungen geben? Soll das Parlament eine Obergrenze für Asylgesuche festlegen?
Dem langen Schweigen folgt ein langer Brief. Nachdem sich der französische Präsident lange Zeit gesträubt hatte, auf die Proteste der Gilets Jaunes einzugehen, hat er nun einen ungewöhnlich langen Brief an die französische Bevölkerung veröffentlicht, der den Auftakt zu einer großen landesweiten Debatte geben soll.
Bis zum 15. März soll der grand débat gehen. Innerhalb des darauf folgenden Monats will er dann einen Rechenschaftsbericht dazu vorstellen, verspricht Emmanuel Macron. Die Wut soll in Lösungen umgewandelt werden, schreibt er. Im Original ist von "les colères" die Rede, also von "la colère - zu Deutsch: die Wut - in der Mehrzahl; die Pluralform gibt es im Französischen ebenso wenig wie im Deutschen, sagen die Wörterbücher.
Man kann dies so lesen, dass es, wie man im Präsidentenpalast festgestellt hat, mehrere Auslöser zur Wut gibt und verschiedene Formen des Zorns und der Verärgerung, und man sich auf eine neue politische Kommunikation einzustellen versucht.
Immerhin - das als kurzer kommentierender Einschub - der Elysée-Präsident redet, während die Berliner Kanzlerin im September 2015 schwieg und schwieg über ihre folgenreiche politische Entscheidungen, als das Land in einer völlig ungewohnten Situation auf eine Erklärung wartete.
Macron hatte zunächst auch lange geschwiegen, als der Protest der Gilets Jaunes (Gelbwesten) längst schon eine Dimension angenommen hatte, wo das Schweigen zum Problem wurde. Dann hatte er versucht, mit der Rücknahme der umstrittenen Steuer und einer Erhöhung der staatlichen Leistungen der Protestbewegung die Wucht zu nehmen, in der Hoffnung, dass ihr à la longue die Luft ausgeht. Dies ist nicht so gekommen.
Brainstorming und Desillusionierung
Bei seiner Rede im Dezember hatte er mit den erwähnten Maßnahmen auch eine landesweite Debatte angekündigt, die sich mit den Gründen der Unzufriedenheit beschäftigen und in einer "gemeinsamen Anstrengung nach Lösungen suchen" soll. In der alltäglich gewordenen Desillusionierung oder einem zynischen Reaktionsreflex, der auf Erfahrungen baut, wird von solchen Leerformel-Ankündigungen nicht sonderlich viel erwartet.
Macron erweckte bislang nicht den Eindruck, dass er große Versprechen, von denen er eine ganze Menge hat, unbedingt erfüllen kann. Auch sein Brief bezeugt, dass ihm beziehungsweise seinem Team zwar viele Anregungen einfallen. Die Umsetzung ist eine andere Sparte.
Der Autor dieses Beitrags zählt über 30 Fragen, die im langen Brief zu ganz konkreten politischen Problemstellungen als Diskussionsanstöße aufgeworfen werden. Man merkt, das Macron-Team hat Übung in solchen Schreibtischarbeiten zum Sammeln von Ideen. Es sind zielgenaue Fragen dabei. Ein Ausschnitt:
Welche Steuern sollten prioritär gekürzt werden? Wo soll gespart werden? Welche Staatsaufgaben sollen gekürzt werden? Soll es neue staatliche Leistungen geben? Wer soll die Energiewende bezahlen? Was soll mit den alten Heizungen und den alten Autos geschehen? Soll man abgegebene nicht ausgefüllte Stimmzettel bei den Wahlen anerkennen? Soll die Stimmabgabe verpflichtend sein? Soll man die Zahl der Abgeordneten begrenzen? Soll das Wahlrecht geändert werden? Wie soll die Teilhabe der Bürger an der Demokratie weiterentwickelt werden? Sollen zufällig ausgewählte Bürger, etwa über die Lotterie, an der politischen Entscheidungsfindung teilnehmen? Sollen die Möglichkeiten eines Referendums erweitert werden?
Und: Soll das Parlament eine Obergrenze für Asylgesuche festlegen? Wie sollen die Prinzip der Laizität ausgebaut werden?Brief von Präsident Macron
Macron hat das Projekt der großen Debatte in vier große Felder unterteilt: "Steuern" (die in Frankreichs Geschichte eine große Rolle spielten, siehe die Vorgeschichte zur Revolution Ende des 18. Jahrhunderts), dann "die Organisation des Staates und der Behörden", der "ökologische Übergang" als drittes Großthema und Demokratie und Bürgerschaft (citoyenneté) als viertes Thema, bei dem, wie oben gezeigt, auch Fragen zur Integration und Migration behandelt werden sollen.
Deutlicher Abstand zu den Gilets Jaunes
Vergleicht man die Fragen, die vom Präsidenten als Anregung beigegeben werden, mit dem Katalog der Forderungen, die vonseiten der Gilets Jaunes an die Öffentlichkeit gekommen sind, so gibt es sehr große Unterschiede.
Das fängt damit an, dass Macron seine Reform der Vermögenssteuer nicht zur Debatte stellt. Die Rücknahme dieser Reform gehört zu den meist geäußerten der Proteste, ebenso wie die Forderung nach einem Plebiszit mit Kompetenzen, die Gesetzesinitiativen und Abstimmungen über Gesetze umfassen. Hier hält sich Macron merklich zurück.
Dass er die Vermögenssteuer in der reformierten Form, in der sie sich auf Immobilien, nicht aber auf finanzielles Vermögen bezieht, nicht antasten will, hat er bereits mehrfach deutlich gemacht. Ähnlich dürfte es ihm mit Forderungen der Gelbwesten-Proteste gehen, die auf weitaus mehr politische Partizipation drängen. (Einfügung: Auch auf die Lohnforderungen, die dort erhoben werden, etwa für soziale Berufe, wird er kaum eingehen oder nur auf großen Druck. In seinem Schreiben machte er klar, dass er seine einmal eingeschlagene wirtschaftspolitische Richtung nicht verändern werde).
Dass Macron weder über seinen Rücktritt, der ja auch zu den großen Forderungen der Gilets Jaunes gehört, noch über einen Austritt aus der EU reden will, muss nicht weiter erklärt werden.
Ideal und Wirklichkeit
Zwar fordert Macron in seinem Brief an die Nation dazu auf, dass man im großen Gespräch mutig über alles reden soll, weil das zu einem Gespräch dazu gehöre, "auch wenn man nicht mit allem einverstanden sein wird", aber er markiert in seinem Brief deutliche Grenzen und setzt eigene Schwerpunkte.
Der Brief geht von einem meritokratischen Ideal aus: "Die Gesellschaft, die wir uns wünschen, ist eine Gesellschaft, wo man zum Erfolg keine Beziehungen oder Vermögen braucht, sondern Anstrengung und Arbeit" und davon, dass eine Politik für mehr Beschäftigung bei den Unternehmern ansetzen muss. "Man muss ihnen die Möglichkeiten geben, sich zu entwickeln."
Ob sich Wirklichkeit und Idealvorstellungen, auch solche, die beim Protest geäußert werden, annähern? Ob sich aus dem grand débat überhaupt etwas entwickelt, das einen echten Einfluss auf die politischen Verhältnisse in Frankreich hat?
Die Bürgermeister werden von Macron als Vermittler genannt. In den Rathäusern sollen Vorschläge und Anregungen deponiert werden, aber, wie Macron erwähnt, sie können auch ins Netz gestellt werden. Wie die Auswertung dann genau geschieht, ist noch nicht ganz klar. Die Medien haben erste Themen aufgegriffen, aber es soll ja ein Gespräch der Bevölkerung sein - mit dem Ziel der "Klarstellung unseres nationalen und(!) europäischen Projekts".
Es handelt sich bei der Debatte weder um eine Stimmabgabe noch um ein Referendum, schreibt Macron am Ende seines Briefes. Heißt, die Verbindlichkeit des Gesprächs ist begrenzt, der Präsident definiert sie.
Einen Teil der Antwort geben die Samstags-Proteste der Gelbwesten. Bis zum 15. März sind das einige "Actes".