Mad Max im Zweistromland
Seite 4: Produktion einer "überflüssigen Menschheit"
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Der Krisenprozess, der die Staaten der Peripherie des kapitalistischen Systems ihrer Finanzbasis beraubte, treibt auch die Massen der marginalisierten und verelendeten Menschen in die Rebellion gegen diese unerträglichen Zustände, bei denen sich prekäre Gemüseverkäufer lieber selbst verbrennen, anstatt sich immer wieder von korrupten Polizisten schikanieren zu lassen. Die Menschen sind im Kapitalismus gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch die Lohnarbeit, den Verkauf ihrer Arbeitskraft, zu bestreiten. Zugleich nimmt die eskalierende kapitalistische Systemkrise - bei der es sich im Kern um einer Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft handelt - immer mehr Menschen die Möglichkeit, überhaupt Lohnarbeit zu verrichten.
In den meisten arabischen Krisenländern herrschte unter den jungen Männern, die nun zu den Waffen gegriffen haben und sich den nächstbesten Finanzier als Söldner andienen, eine reale Arbeitslosenquote weit oberhalb der 50-Prozent markte. Derselbe Kollaps der nachholenden kapitalistischen Modernisierung in der "Dritten Welt", der zu einer Deindustrialisierung der meisten, ehemals als "Entwicklungsländer" bezeichneten Volkswirtschaften führte, ließ auch eine breite Schicht an marginalisierten und absolut perspektivlosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen entstehen, die sich den Rebellionen einfach deswegen anschlossen, weil die Lebensumstände für sie einfach unerträglich wurden: "Wenn ich einen Job hätte, wäre ich nicht mal auf diesen Platz hier. Es gibt keine Chancen für uns", so beschrieb ein jugendlicher Demonstrant gegenüber der Los Angeles Times seine Motivation, täglich auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen die Sicherheitskräfte zu kämpfen. Viele Demonstranten würden "protestieren, weil sie sonst nichts anderes hätten", titelte die LATimes. Die Widersprüche des kapitalistischen Kreisprozesses, bei dem die Menschen mit der Lohnarbeit der einzigen Möglichkeit verlustig gehen, ihren Lebensunterhalt systemimmanent zu bestreiten, treiben somit die Menschen in die Rebellion.
Der Krisenprozess deligitimierte auch die jahrzehntelang herrschenden Regime in diesen Staaten, die sich bei der Dekolonisierung gerade die Industrialisierung und Modernisierung ihrer Gesellschaften auf die Fahnen geschrieben haben. Je stärker der Anspruch und die Realität auseinanderklaffen, je weiter die Staatsapparate sich zu einem Selbstbedienungsladen der herrschenden Seilschaften wandelten, desto stärker schwoll auch die Unzufriedenheit und Verbitterung in der ausgeschlossenen Mehrheit der Bevölkerung an. Das Chaos, das derzeit den Nahen Osten erfasst, ist somit eine Folge des Zerfalls des Kapitalismus. In einem jahrzehntelangen Krisenprozess, der von der Peripherie in die Zentren des kapitalistischen Weltsystems voranschreitet, produziert das spätkapitalistische System eine ökonomisch "überflüssige" Menschheit, die sich aus blinder Wut und Verzweiflung gegen die bestehenden und erodierenden Machtstrukturen auflehnt, während zugleich irre Krisenideologien wie der Islamismus oder der Rechtsextremismus an Boden gewinnen.
Die mit dem Krisenprozess einhergehende politische Destabilisierung hat ja schon längst auch Europa erreicht. Griechenland, Spanien, Portugal und weite Teile Italiens weisen bereits ähnlich hohe Arbeitslosenraten auf, wie sie in den arabischen Staaten zu finden sind. Die "Dritte Welt" hat im Gefolge der Eurokrise Einzug gehalten in Südeuropa. Längst bilden sich auch in der EU ganze Stadtteile oder Regionen aus, in denen die "Überflüssigen" vermittels Gentrifizierung abgeschoben werden. Mittels der Riots, die Großbritannien 2011 erschütterten, der regelmäßig in den französischen Vororten ausbrechenden Aufstände, und aktuell der Unruhen in Stockholm artikuliert eine beständig anwachsende, aus dem gesellschaftlichen Leben größtenteils ausgeschlossene Bevölkerungsgruppe auch in Europa ihre wachsende Wut und Verzweiflung über ein prekäres Leben, das sie in den wuchernden Gettos führen muss, die als menschliche Abfallhalden der kriselnden Kapitalmaschinerie fungieren.
Die Krise der Kapitalismus ist somit auch eine Krise der Staaten, der spezifischen politischen Machtstrukturen, die dieses System hervorbrachte. Mit dem Wegfall einer nennenswerten wirtschaftlichen Verwertungstätigkeit von Kapital, die zumindest einem größeren Teil der Bevölkerung ein Auskommen vermittels Lohnarbeit garantieren würde, geraten derzeit die zu leeren Hüllen verkommenen Staatsapparate im arabischen Raum ins Wanken, sie stürzen aufgrund innerer Zersetzung und äußerer Rebellionen oder Interventionen wie Kartenhäuser zusammen - so wie es den Staaten Afrikas erging und wie es denen Europas ergehen könnte. Da, wo es keine kapitalistischen Nationalökonomien mehr gibt, stirbt auch der kapitalistische Staat ab. Was bleibt, ist die anomische Barbarei einer kollabierenden kapitalistischen Welt, in der alle Versuche, den Kapitalismus zu überwinden, in Blut erstickt wurden.
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