Mad Max im Zweistromland

Seite 3: Ökonomien des Zusammenbruchs

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Die mit diesen Entstaatlichungskriegen einhergehende Zusammenbruchs-Ökonomie kann derzeit an den syrischen Erdöllagerstätten an der Grenze zum Irak studiert werden, die von der Nursa-Front übernommen wurden. Mit archaischen Methoden, wie sie zu Beginn des Ölzeitalters üblich waren, wird dort Öl gefördert und weiterverarbeitet, um damit die Kriegskasse der Islamisten aufzufüllen. Das von den Islamisten geförderte Rohöl wird an die lokale Bevölkerung verteilt, die es in einer Vielzahl provisorischer, kleiner Raffinerien zu Benzin und Kerosin weiterverarbeitet. In weiten Teilen Nordsyriens werden diese minderwertigen, aber noch benutzbaren Erdölprodukte wie "Früchte an Rastplätzen an vorbeifahrende Fahrer" verkauft, berichtete der Telegraph.

Das Zentrum dieser improvisierten Ölindustrie, ein Wüstenabschnitt westlich der Stadt Rappa, biete dem Betrachter ein postapokalyptisches Bild wie aus einem "Mad Max Film": "Hier ist der gesamte Horizont erfüllt von einer deprimierenden Szene aus wogenden Rauchwolken, aus denen sporadisch dunkle Figuren zu Fuß oder auf Motorrädern auftauchen." Das Letzte, worüber er bei seiner Arbeit nachdenke, sei seine Gesundheit, erklärte einer der in dieser Ölhölle schuftenden Arbeiter: "Wenn ich das hier nicht mache, wird meine Familie sterben."

Die mit Al-Qaida im Irak verbündeten Islamisten konnten sich - auch aufgrund ihrer großzügigen Finanzierung durch die Golf-Despotien - bei den Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Ölfelder gegen andere konkurrierende Gruppen rasch durchsetzen, so der Guardian. Hierbei seien konkurrierende sunnitische Stämme und kurdische Gruppen mitunter unter Gewaltanwendung ausgeschaltet worden. "Nachdem die Oppositionsgruppen ihre Waffen gegeneinender gewendet haben, um fortan hauptsächlich um die Kontrolle über Öl, Wasser und landwirtschaftliche Nutzflächen zu kämpfen", habe auch der militärische Druck auf das Assad-Regime im Nordosten Syriens nachgelassen.

Die Kämpfer der Nursa-Front würden "alles verkaufen, was in ihre Hände fällt", um ihre Position in Syrien und dem Irak zu stärken, klagte ein in der Muslimbruderschaft organisierter Rebell: "Weizen, archäologische Relikte, Fabrikinventar, Ölfördermaschinen, Autos und Rohöl." Mitunter gebe es lokale Kooperationen zwischen Assad-Regime und Nursa-Front, die den Abtransport des Rohöls über Pipelines bis zur syrischen Mittelmeerküste ermöglichten. Die Europäische Union fördert diese islamistische Mad-Max-Industrie übrigens nach Kräften, indem sie die Sanktionen gegen syrische Ölprodukte aufhob. Die EU trage somit zum "Aufschwung dschihadistischer Gruppen" in der Region bei, so der Guardian.

Dabei greift das Chaos in Syrien längst auch auf die Nachbarländer über. In der libanesischen Hafenstadt Tripoli liefern sich sunnitische und alawitische Gruppierungen seit Tagen sporadisch Gefechte, während sunnitische Rebellenfraktionen mit direkten Angriffen auf die schiitische Miliz Hisbollah im Libanon drohen, sollte sie ihre Unterstützung für das Assad-Regime fortsetzen. Im Irak versucht indessen die Armee, mittels einer Großoffensive die unruhige Grenzregion zu Syrien unter Kontrolle zu bringen. Rund 20.000 Mann setzt die Armee in dieser Operation ein. Im Endeffekt ist es den Islamisten um Al-Qaida im Irak und die Nursa-Front gelungen, die syrischen und irakischen Grenzregionen unter ihre Kontrolle zu bringen und dort einen "Islamischen Staat des Irak und der Levante" auszurufen.

Selbst zehn Jahre nach der Invasion durch die USA und die "Koalition der Willigen" stellt der Irak somit ein höchst instabiles Staatsgebilde dar, das von anschwellenden Zentrifugalkräften in seiner Existenz bedroht ist. Derzeit wird das Zweistromland von einer Welle von Anschlägen gegen sunnitische und schiitische Wohnviertel erschüttert, der Hunderte von Menschen zum Opfer fielen. Diese wechselseitigen Terroranschläge wecken Erinnerungen an den Beginn des brutalen Bürgerkriegs, der 2006 und 2007 im Irak tobte. Getragen wird diese neue Destabilisierungswelle von der unzufriedenen sunnitischen Minderheit, die sich nun unter der Herrschaft einer schiitischen Regierung benachteiligt fühlt und zunehmend eine "souveräne Region" fordert.

Jede Intervention brachte weiteres Chaos mit sich

Inzwischen dämmert es zumindest den intelligenteren westlichen Geopolitikern und Strategen, dass sie diesen chaotischen Umbruchs- und Zusammenbruchprozess, der weite Teile der arabischen Welt erfasst hat, trotz aller kostspieligen Interventionsbemühungen nicht kontrollieren und in ihrem Sinne lenken können. Es sei gerade das in Nordafrika ausgebrochene Chaos im Gefolge der Libyen-Intervention, das den Westen davon abhalte, in Syrien eine ähnliche Intervention zu wagen, vermutet die Jerusalem Post. Ein israelischer Geheimdienstmitarbeiter erklärte gegenüber der Londoner Times, Tel Aviv würde inzwischen wieder einen "geschwächten Assad" der drohenden Anomie in der Region vorziehen: "Der Teufel, den wir schon kennen, ist besser als die Dämonen, die wir uns nur vorstellen können, wenn Syrien ins Chaos stürzt und Extremisten aus der ganzen arabischen Welt hier an Einfluss gewinnen würden." Neben diesen aktuellen Beispielen ließe sich noch Afghanistan aufführen, wo der extremistische Islamismus in den 80ern mit westlicher Unterstützung seinen ersten großen Sieg erringen konnte.

Der Westen scheint somit bei seiner Nahostpolitik dem berüchtigten Zauberlehrling zu ähneln, der die Geister nicht mehr kontrollieren kann, die er vermittels seiner Interventionen ins Leben rief. Jede Intervention, jeder Regime Change, der vorgeblich der Demokratisierung und der Errichtung westfreundlicher Regime diente, bringt nur weiteres Chaos und zunehmende Instabilität hervor, die dann mit weiteren Interventionen (wie etwa in Mail) eingedämmt werden sollen.

Wieso entsteht nun keine "neue" Ordnung aus diesem Chaos? Wieso kollabieren die bestehenden Staatsstrukturen in der arabischen Welt so leicht, ohne dass sich hieraus neue Staatsgebilde - selbst bei milliardenschweren Finanzspritzen des Westens - bilden würden? Um dieser Fragestellung auf den Grund gehen zu können, muss man sich zuerst vergegenwärtigen, dass der moderne Staat nicht etwa ein Gegenmodell zu Kapital und Markt darstellt, sondern deren notwendiges Korrektiv und Produkt bildet. Der Staat ist ein Produkt des Kapitalismus, und nicht etwa sein Gegenteil.

Eine nationale Staatsmaschinerie kann nur dann funktionsfähig bleiben, wenn eine einigermaßen funktionsfähige Nationalökonomie existiert, die mittels Steuerausgaben den Staatsapparat finanziert. Sobald dieses wirtschaftliche Fundament des Staates wegbricht, geht auch der Staatsapparat in Desintegration über; er "verwildert", wird selbst zur Beute einiger Rackets, die ihn zur Erringung ihrer partikularen Interessen gebrauchen - bei Exklusion konkurrierender Gruppen. Geradezu paradigmatisch wird dies an den Verhältnissen im "vorrevolutionären" Libyen oder Syrien deutlich, wo einzelne Machtcliquen oder religiös-enthnische Gruppierungen (Alewiten, Ghaddafis Clan) die Schaltstellen der Macht besetzt hielten, um so ihre Klientel zu bedienen.

Die Herrschaft der Rackets etablierte sich in diesen Ländern somit schon vermittels der Usurpierung des Staatsapparates durch einzelne Gruppierungen, lange bevor im Zuge der "Revolutionen" - in denen die Benachteiligten und ausgeschlossenen Bevölkerungsmehrheiten rebellierten - die offene anomische Milizherrschaft erreichtet wurde. Ein Paradebeispiel für die "Verwilderung" des Staatsapparates in der Frühphase staatlicher Zerfallsprozesse bildet natürlich das brutalste mexikanische Kartell, die Zetas, dessen Führungskaste sich aus ehemaligen Sondereinheiten der Armee rekrutierte, die ursprünglich für die Aufstandsbekämpfung aufgestellt wurden - um dann einfach die Seiten zu wechseln. Je prekärer die wirtschaftliche Basis, auf der ein Staatsgebilde fußt, desto stärker nehmen die nepotistischen, willkürlichen und kleptokratischen Tendenzen innerhalb der Staatsmaschinerie zu. Mitunter - hier vor allem im subsaharischen Afrika - bilden die Einnahmen aus Schmiergeldern oder willkürlichen "Gebühren" und Schutzgeldern den Großteil der Einnahmen von Staatsbediensteten.

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