Majority Report

Die gute Nachricht: Im kommenden Jahr ist kein "Der Herr der Ringe"-Teil für den Oscar nominiert. Und: Mr. Tolkien und seine Fans - Überlegungen zu einer Erfolgsgeschichte

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Es durften sich bei der 76.Oscarverleihung in der Nacht zum Montag vor allem jene bestätigt fühlen, die schon immer der Meinung gewesen waren, dass der Teufel eben immer auf den größten Haufen scheißt, dass die Oscarverleihung eben wenig mit Filmkunst und alles mit Filmindustrie zu tun hat und dass die überraschenden Nominierungen für Arthouse-Filme eben nur Nominierungen waren (vgl. Jede gute Story braucht einen "Bad Guy"). Am Ende setzte sich mit Peter Jacksons "Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs" (vgl. Tolkien reloaded) das Industrieprodukt in allen Fällen durch. Dieses Ergebnis sagt vor allem etwas über Hollywood, über einen Ort, dem der Kassenerfolg letztlich der einzige Götze ist. Denn auch wenn man noch Zusatzoscars für "Hobbitbewegung" und "Rauschebartdesign" vergeben hätte, und auch wenn jetzt noch einmal allein in Deutschland zehn Millionen Zuschauer Peter Jacksons Film sehen würden, macht es den Film um keinen Deut besser. Dass der Film mit bisher ca. 975 Millionen US-Dollar Einspielergebnis zu den erfolgreichsten aller Zeiten gehört, stand sowieso bereits vor der Oscar-Verleihung fest. Und Millionen Zuschauer können schließlich nicht irren - oder?

Man muss trotzdem - auch, aber nicht nur angesichts des Erfolgs - noch mal nachfragen: Warum dieser Hype? Wie konnte eigentlich eine mit keltisch anmutender Mythologie versehene gewalttätige Geschichte vom Kampf der Grundguten gegen die Grundbösen zu einem derartigen Kultstück werden?

Schon da der Film vor dem Buch in dem Sinn völlig kapituliert, dass er im Gegensatz zu anderen Literaturverfilmungen größere Eingriffe scheut und stattdessen bemüht ist, dem Geist eines Werkes gerecht zu werden, das als Historienstück über eine fiktive Epoche und einen fiktiven Ort funktioniert - als "rückwärtsgewandte Utopie" (Friedrich Schlegel) im Wortsinn -, muss man hier auch noch einmal nach diesem Werk und seinem Verfasser fragen.

J.R.R. Tolkien war nicht der Einzige, der die Erfahrung der Stahlgewitter der Massenschlachten des Ersten Weltkriegs in eine neue, antimoderne Mythologie verwandelte. Das Massensterben in den Ebenen von Flandern, das er selbst erlebte, seine harte Kindheit im industriellen Birmingham spiegeln sich im Buch wieder. Peter Jacksons Film macht sie in mancher Hinsicht noch genauer, jedenfalls sinnlicher erfahrbar. "The Lord of the Rings" ist in den Augen seines Verfassers keine Fantasy, sondern Mythos, "true myth", um Tolkien hier direkt zu zitieren, für eine an Mythen desinteressierte, mythenvergessene Zeit. Noch mehr als irgendein anderer jener modernen Neomythenschöpfer - auch Richard Wagners "Der Ring des Nibelungen" knüpfte an die romantische Idee einer "Neuen Mythologie" an, an den Versuch, einen kollektiven Glauben durch künstliche Ideenbilder ahistorisch herzustellen -, hat Tolkien mit dem "Herrn der Ringe" eine der ersten virtuellen Welten geschaffen.

Neo-Mythos als Wunschmaschine

Das Ergebnis ist dabei nicht so sehr Gegenentwurf, sondern Wunschmaschine, ein Raum, der nur auf Wünsche und Gefühle der Leser reagiert. Angelehnt an nordische Sagen und mittelalterliche Ästhetik, stilistisch die Epen des Mittelalter wie z.B. Lancelot du Lac imitierend, inhaltlich aber genuin im 20.Jahrhundert verwurzelt, handelt es sich künstlerisch um den bewussten Gegenentwurf eines Konservativen gegen die moderne Literatur, deren Komplexität eine neue Einfachheit entgegengestellt wird. Von der Infragestellung, gar Dekonstruktion von geschlossenen Weltbildern in der Kunst des 20.Jahrhunderts scheint Tolkien unberührt. Ebenso fehlen Ironie und Satire, "Der Herr der Ringe" ist prüde und humorlos.

Statt formaler Innovation gibt es Berge von Erläuterungen und selbst geschaffener Sekundärliteratur - auch ein Einzelfall in der Literaturgeschichte. Ein nicht geringer Teil von Tolkiens Erfolgsgeheimnis ist dieser Perfektionismus und die philologische Strenge, mit der eine eigene (und halbwegs stimmige) Zeitrechnung, eine eigene Kosmologie und eigene Sprachen geschaffen wurden, mit der das ganze Werk mit seitenlangen Anmerkungen durchsetzt ist. Die Art, wie Tolkien eine "epische Landkarte des Sternenhimmels", eine Ordnung im Reich des Imaginären herstellt, ist nicht nur verschroben, sie hat etwas Zwanghaftes. So entsteht Mittelerde, ein geschlossenes System, das von nichts etwas wissen will, außer von sich selbst.

Wenn schon kein Wissen und keine Einigkeit über die reale Welt möglich ist, dann vielleicht doch die über eine andere? Natürlich hat auch solche Literatur, solches Kino trotzdem Bezüge zur Wirklichkeit. In vieler Hinsicht ist es eine Illustration von antimodernen Ideologien: Inhaltlich dominiert die Flucht aus der Gegenwart und die Sehnsucht nach Idylle, die Verklärung eines weit zurückliegenden, verlorenen Goldenen Zeitalters, überhaupt ein Hohes Lied auf das Verlorene: auf Geschichten und auf Hierarchien. Dafür bleiben andere "große" Themen im Gegensatz zu anderen Neomythen seltsam tabu: Sexualität, Geburt, Selbsterkenntnis, Tod. "Der Herr der Ringe" ist eine Odyssee ohne Odysseus - Frodo bleibt im Kern der naive, aber gutherzige Zwerg, als der er seine Reise begann. Das Böse ist dehumanisiert, die Perspektive rassistisch. Vermischung von Rassen, von Gut und Böse gar, ist ausgeschlossen.

All dies übernimmt Jacksons Film, der darin eine adäquate Bebilderung des Werkes ist. Noch perfekter eignet es sich zur Flucht aus Gegenwart. In Filmen wie "Der Herr der Ringe" siegt ein Kino, das möglichst perfekte Illusionen erzeugen möchte, über ein Kino, das daran glaubt, dass es eine tatsächliche "reale" Welt gibt, über die man - zutreffende, anregende, möglicherweise kritische - Aussagen machen kann. Das Kino des Scheins siegt über ein Kino der Phänomene oder Geschichten. Allein darin treffen sie sich noch, dass es ein Kino der Archetypen ist.

Apokalypse vielleicht - aber bitte mit Happy End

Buch und nun Film funktionieren in erster Linie als Themenpark, als Disneyland für esoterisch Interessierte. Wer die Fans auf ihren Chatforen und bei öffentlichen Auftritten beobachtet, erlebt eine geschlossene Gemeinde, die täglich ihren privaten heidnischen Kirchentag feiert, über Buch und Film diskutiert, mal wie im Kindergarten Plastikmasken und handbemalte Plastikfiguren von Frodo tauscht, aber dann auch wieder über elbische Dialekte mit einer Inbrunst räsoniert, wie einst mittelalterliche Theologen über die Frage, ob Jesus gelacht hat. Auch hier gibt es einen Urtext, der interpretierbar ist, und auch hier gibt es Dogmatiker und Abweichler. So wird zum Beispiel in der Gemeinde ernsthaft debattiert, ob es sich bei Gollum am Ende um die Fortsetzung des jüdischen Golem mit schleimigen Mitteln handle.

Wenn man diesen Spaß nicht teilen mag, hagelt es Kritik. Auch davon geben manche Internetseiten wie die der "Deutschen Tolkien-Gesellschaft e.V." oder viele Beiträge im Telepolis-Forum ein beredtes Zeugnis ab. Zu stark ist offenbar die Identifikation bei der Fangemeinde. Vor Selbstreflexion und -Infragestellung hat die Neue Mythologie selbst mythische Angst und errichtet ein universales Tabu.

"Der Herr der Ringe" entspricht der historistischen Gegenwartsstimmung im Westen. In einer Gesellschaft, die zunehmend depressiv wird und sich neue Religiositäten verschiedenster Art herbeisehnt, befriedigt er die Sehnsucht nach einer runden, nichtfragmentierten Welt, nach einer guten Unfreiheit, in der alles seine seinsgeschichtliche Bestimmung hat. Apokalypse vielleicht - aber bitte mit Happy End.

Zugleich tut das Werk dies in massenkonsumtauglicher, mehrheitskonformer Weise. "Der Herr der Ringe" funktionierte trotz seiner xenophoben und sexistischen Züge als Kultbuch der Gegenkultur um 1968, und zugleich ebenso als Referenzpol für die Campi Hobbit der italienischen Rechtsextremisten. Was Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes" für die deutsche Gesellschaft in den Jahrzehnten nach 1918 war, das ist Tolkien für den Westen in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts: Ein Majority-Report des Bewusstseins.

Die Oscar-Verleihung ist nur ein weiterer Beleg: Der Verächter des Massenzeitalters wird zum Schöpfer eines der finanziell und ideologisch erfolgreichsten Produkte der Kulturindustrie. Zumindest dieser Widerspruch sollte die Nachdenklicheren unter den Tolkinisten zum Grübeln bringen.