Mali in Aufruhr

Seite 2: Auslöser des Unmuts

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Ein wichtiger Auslöser für das Lautwerden von Unmut bildeten die Parlamentswahlen, die die Staatsführung unter "IBK " am 29. März dieses Jahres im ersten und am 19. April im zweiten Wahlgang, also mitten in der Coronavirus-Krise, abhalten ließ - während zugleich Maßnahmen ergriffen wurden, die weitgehend eine Kopie der bei der Ex-Kolonialmacht Frankreich verfügten Ausgangsbeschränkungen darstellten und auch nahezu zeitgleich mit dem französischen Lock-down gelockert wurden.

Entsprechend gering fiel der Enthusiasmus in der Bevölkerung aus, wo vielfach spöttisch von der Wahl von "Corona-Abgeordneten" gesprochen wurde. Die reale Wahlbeteiligung dürfte die Zwanzig-Prozent-Marke kaum überschritten haben; ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Beobachtergruppen bezifferte sie am 19. April seinerseits mit 23 Prozent.

Hinzu kam noch, dass der parlamentarische Oppositionsführer, der 2013 und 2018 gegen "IBK " gescheiterte Präsidentschaftskandidat Soumaïla Cissé am 25. März, also vier Tage vor dem Wahltermin, mutmaßlich durch Dschihadisten entführt wurde. Die Regierung entschied sich unbeirrt dazu, die Wahlen einfach trotzdem abhalten zu lassen, obwohl der Chef der URD (Union für die Republik und die Demokratie) verschwunden blieb.

Bislang tauchte er auch nicht wieder nicht auf, doch die Entführer meldeten sich zwischenzeitlich zu Wort, um anzukündigen, Cissé werde gut behandelt; man werde ihn nicht freilassen, bevor sein Bart nicht in salafistischen Vorstellungen entsprechender, genügender Länge gewachsen sei.

Seit Anfang Juni setzen sich verstärkt auch Parlamentarier afrikanischer Länder für seine Freilassung ein; inzwischen tat dies im Juli auch das französische Außenministerium.

Cissé, der früher unter anderem in Frankreich bei Großunternehmen arbeitete - IBM und Pechiney und der Fluglinie Air Inter - und von 2004 bis 2011 Kommissionschef der ECOWAS war, steht sicherlich wohl kaum für eine soziale Alternative zur jetzigen Regierungspolitik, wobei ein Großteil der Bevölkerung innenpolitische Fronten aber ohnehin nicht durch das Raster einer etwaigen Klassenpolarisierung wahrnimmt. Doch immerhin ist er der Chef der stärksten parlamentarischen Oppositionspartei, und Wahlen einfach ohne ihn abzuhalten, wirkt, gelinde ausgedrückt, seltsam.

Als die offiziellen Wahlergebnisse vom 19. April verkündet wurden, wies die Präsidentenpartei RPM (Sammlung des malischen Volkes) plötzlich eine zweistellige Zahl von Sitzen zusätzlich zu den in ersten Prognosen des Innenministeriums angekündigten auf.

Die Sitzverteilung und die offiziellen Wahlresultate wurden beim - nicht unbedingt als regierungsunabhängig geltenden - Verfassungsgericht angefochten, jedoch ohne Erfolg. Prompt gründeten mehrere Kandidaten und durch den mutmaßlichen Wahlbetrug verhinderten Parlamentarier ein "Kollektiv der vom Volk gewählten und Verfassungsbericht bestohlenen Abgeordneten".

Daraufhin kam es zu ersten Protesten und ab dem 06. Mai 2020 in einer Reihe von Städten zur Explosion: von Kayes im Nordwesten bis zu Sikasso im Südosten des Landes. Dort, in Sikasso, spielte auch die erwähnte Linkspartei SADI eine Rolle bei den Demonstrationen.

In Kayes wurde dabei am 11. Mai dieses Jahres ein junger Mann durch die Polizei getötet, was den Zorn erst recht anschwellen ließ. In der Hauptstadt Bamako brannte es kurz darauf unter anderem in den Stadtteilen Banconi, Lafiabougou, Magnambougou, Ouzimbougou und Sébénikoro, wobei der Unmut über die Wahlresultate nur einen Katalysator für die allgemeine Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen darstellte.

Ausblick

Diese Proteste dürfen weitergehen, wobei die so genannte internationale Gemeinschaft manifest darauf zu setzen scheint, die Einbindung von jemanden wie Mahmoud Dicko könnte die Lage stabilisieren. Sollte er jedoch an die Macht kommen, dürfte er auf stärkere Distanz zur (politisch im Land ziemlich präsenten) früheren Kolonialmacht gehen, sich auf die Golfstaaten und eventuell auch direkt oder indirekt auf Wladimir Putin und Russland stützen.

Wie oft in solchen Fällen, versuchen Islamisten sich dabei zugleich als Protestkraft gegen das Bestehende, aber auch als Partei der (wenn auch nicht der jetzigen, dann der künftigen) Ordnung zu profilieren.

Vor diesem Hintergrund sind auch die Manöver von Mahmoud Dicko, bei denen er die übrigen Protestierenden eher bremst und sich "verantwortungsbewusst " zu zeigen versucht, zu analysieren. Auch am Sonntag, den 12. Juli rief er seine Anhänger erneut "zur Ruhe" auf. Sein Einfluss im Augenblick dürfte nicht zu unterschätzen sein, dennoch repräsentiert er sicherlich nicht alle Protestierenden, und ihre Forderungen könnten zum gegebenen Zeitpunkt auch in Widerspruch zu seiner Strategie oder seinen Machtambitionen geraten.

Derzeit ist es (noch?) nicht so weit. Dickos Popularität wächst durch die Repression gegen ihn und seine Anhänger eher. Am Wochenende versuchten die Sicherheitskräfte des bestehenden Regimes, ihn festzunehmen - sein Wohnsitz wurde umstellt, doch seine Festnahme misslang.

Unterdessen wurden jedoch andere prominente Protagonisten des Protests verhaftet. Zu ihnen zählt der oben erwähnte Clément Dembélé vom nicht-religiösen Flügel der Protestbewegung. Aber auch frühere Minister unter "IBK", darunter der ehemalige Hochschulminister (und vormalige Präsidentschaftskandidat) Mountaga Tall - er selbst versuchte sich in der Vergangenheit wiederholt auf islamistische Kräfte zu stützen - und der Telekommunikationsingenieur sowie zeitweilige Kommunikationsminister Choguel Maïga, wurden festgenommen.

Inzwischen kamen die am Wochenende inhaftierten politischen Anführer wieder frei.

Präsident Keïta seinerseits versucht, Ballast abzulassen und durch Zugeständnisse an die Proteste den Druck aus der Situation zu nehmen. In jüngster Zeit hatte "IBK " zunächst angeboten, jene Kandidaten, denen infolge des umstrittenen Wahlergebnisses - am Ausgang der Parlamentswahl vom 29. März und 19. April - ihr Mandat nicht anerkannt worden war, in Eigeninitiative in einen neu bildenden Senat aufzunehmen.

Ein solches parlamentarisches Oberhaus solle infolge einer Verfassungsänderung gebildet werden, es hätte jedoch geringere Vollmachten als die Nationalversammlung, die im Falle eines Konflikts zwischen beiden Parlamentskammern das letzte Wort behielte.

Doch mit dieser Lösung wollten sich die Protestierenden nicht zufrieden geben. Nunmehr verkündet "IBK" de facto die Auflösung des Verfassungsgerichts, das zunächst die offiziell verkündeten Wahlergebnisse abgesegnet hatte. Zugleich will sein amtierender Premierminister, Boubou Cissé, alsbald eine erweiterte "Regierung der Öffnung" einsetzen.

Auf diesem Wege versucht "IBK ", mittels Zugeständnissen und Kompromissen mit einigen Kräften doch noch das Heft der Initiative zurückzugewinnen. Derzeit ist jedoch fraglich, ob ihm dies noch gelingen wird. Denn längst ist auch die Korruption im Zusammenhang mit dem Gebaren seiner Familie, insbesondere seines höchst umstrittenes Sohns Karim Keïta - Geschäftsmann und Parlamentarier, und als möglicher Nachfolger seines Vaters gehandelt -, ins Visier der Öffentlichkeit geraten.

Als privat deklarierte Videos von Karïm Keïta, welche im Ausland aufgenommen wurden, begannen in Umlauf zu kommen.

Darin ist der Präsidentensohn unter anderem im Umgang mit europäischen Prostituierten zu sehen. Solches Auftreten bildet auch ein offenes Einfallstor für einen islamistischen Moralisierungsdiskurs. Aber nicht allein, so sind manche Kommentare zwar kritisch, insbesondere was den Umgang der Präsidentenfamilie mit öffentlichen Geldern betrifft - ohne von reaktionärem Moralismus geprägt zu sein. Ein ironischer Kommentar bei den sozialen Medien beginnt etwa mit der Feststellung: "Wenn es wenigstens Prostituierte aus Mali wären, dann hätte er das Bruttoinlandsprodukt gesteigert… "

Zum Opponieren gibt es also unterschiedliche Gründe, viele dafür liefern der Präsident und seine Familie selbst. Ob diese die Lage noch einmal in den Begriff bekommen, bleibt abzuwarten. Bis zur nächsten turnusmäßig anstehenden Präsidentschaftswahl, 2023, wäre es noch weit. Wahrscheinlich zu weit aus der Sicht einer wachsenden Zahl seiner Landsleute.