"Man muss die Flüchtlinge mit allem Respekt als menschliche Wesen behandeln"
Ein Gespräch mit Frederico Barroela, dem Leiter des Büros der Ärzte ohne Grenzen in Tanger, über die Situation der Flüchtlinge in Marokko
Seit zwei Jahren arbeitet die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in verschiedenen Regionen Marokkos ausschließlich mit Immigranten aus Ländern südlich der Sahara. Neben dem Zentralbüro in der Hauptstadt Rabat werden Projekte in Nador, nahe der spanischen Enklave Melilla, in Oujda an der algerischen Grenze und schließlich in Tanger unterhalten. Vor kurzem veröffentlichte die Organisation einen Bericht über Gewalt und Immigration, der für große Aufmerksamkeit sorgte. Ein Hauptteil der medizinischen Behandlungen von Immigranten war verursacht durch Gewaltanwendungen, begangen von der marokkanischen (52%) und spanischen Polizei (15%). Ein Gespräch mit Frederico Barroela, dem Leiter des Büros der „Ärzte ohne Grenzen“ in Tanger.
Am vergangenen Wochenende waren Sie im Süden von Marokko, um die Lebensbedingungen von Immigranten zu überprüfen, die man in einer Militärkaserne internierte.
Frederico Barroela: Drei Tage haben wir vergeblich vor dem Kasernentor gewartet. Es ist einfach unglaublich, wir bekamen keinen Zugang zu den rund 1.500 Flüchtlingen, die drei Tage lang in Bussen unterwegs waren. Wir wollten doch nur den Gesundheitszustand und die Unterbringung überprüfen. Wir sind als professionelle Organisation bekannt, haben uns um diese Menschen seit zwei Jahren gekümmert und haben ein Recht, sie zu sehen. Aber objektive Beobachter wollen die Behörden nicht.
Marokko hat wahrscheinlich genug nach all den negativen Meldungen von inhumaner Behandlung und Gewalt gegen Immigranten.
Frederico Barroela: Das kann gut möglich sein, aber am Ende machen sie alles nur noch schlimmer.
Woher kamen die Immigranten in diesem Internierungslager?
Frederico Barroela: Das waren Immigranten, die Spanien nach Marokko zurück deportierte und dann alle, die Marokko in den letzten Wochen an der Grenze und in der Umgebung von Ceuta und Melilla verhaftet hatte. Es gab eine Art Sammeltransport, den man in der Militärkaserne zwischenlagerte.
Was macht mit den Immigranten dort?
Frederico Barroela: Sie wurden in die Heimatländer ausgeflogen.
Was nicht so einfach sein dürfte, weil man erst alle Nationalitäten herausfinden muss.
Frederico Barroela: Bestimmt sind es fünf oder sechs verschiedene Nationalitäten. Aber es kamen diplomatische Vertreter der betroffenen Länder und sortierten ihre Staatsangehörigen aus. Dann ging es offensichtlich per Flugzeuge zurück nach Mali, Nigeria, Senegal oder Guinea. Jedenfalls wurden laufend Leute in Bussen weggebracht.
Ich nehme an, die Botschaftsvertreter sind notwendig, weil viele Immigranten gerne ihre Pässe verlieren, um dadurch zu vermeiden, zurückgeschickt zu werden.
Frederico Barroela: Wissen Sie, wir fragen nicht nach dem Pass. Wir behandeln unsere Patienten und damit hat es sich. Wir bieten den Immigranten aus den Ländern südlich der Sahara medizinische Versorgung, da sie als Illegale keinen Zugang zum marokkanischen Gesundheitswesen haben. Der Rest ist uns egal.
Gib es denn so viele Flüchtlinge im Raum Tanger, dass hier ein Behandlungszentrum erforderlich ist?
Frederico Barroela: Es dürften so zwischen 1.000 und 1.500 Menschen sein. Das schwankt und ist saisonal bedingt. Im Sommer sind es mehr als im Winter, wo das Meer stürmisch ist und nur sehr, sehr wenige Boote die Überfahrt nach Spanien wagen. Aber im letzten Jahr wurden es mehr und mehr. Durch die verstärkten Kontrollen auf beiden Seiten ist es immer schwieriger, die Meerenge zu überqueren. Die Immigranten sitzen fest und werden dadurch immer mehr. Die Zahlen hängen auch von den Polizeirazzien ab, wie viele verhaftet und nach Oujda deportiert werden und wie viele wann wieder nach Tanger zurückkommen.
Arbeiten „Ärzte ohne Grenzen“ auch auf der algerischen Seite? Dort soll es ja mittlerweile auch Camps mit rund 3000 Immigranten geben, die von der marokkanischen Polizei unbehelligt darauf warten, dass sich die Lage beruhigt.
Frederico Barroela: Nein, bisher haben wir auf algerischer Seite nicht gearbeitet. Die Probleme gab es ausschließlich in Marokko.
In der medizinischen Praxis können Sie in der Regel nur Erste Hilfe leisten. Was machen Sie mit schwierigeren Fällen?
Frederico Barroela: Die Patienten, die wir nicht behandeln können, bringen wir in marokkanischen Krankenhäusern unter.
Gelingt das ohne Probleme? Marokkaner haben oft sehr große Schwierigkeiten ohne Geld die entsprechende Behandlung zu bekommen.
Frederico Barroela: Erstens ist das eine Frage der medizinischen Ethik. Jeder Arzt muss einen Patienten, der verwundet ist, behandeln. Außerdem liefern wir die Medikamente und das Material.
"Das ist jetzt ein europäisches Problem"
Sie haben auch die Immigranten betreut, die sich in den Wäldern in der Nähe von Ceuta versteckt haben.
Frederico Barroela: Das waren katastrophale Zustände. Die Leute hausen da unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ohne ausreichend Wasser und Verpflegung. Hauptnahrungsmittel ist Reis und viele sind daher schlecht ernährt. Mitten im Wald kommen auch viele Kinder zur Welt. In meiner Zeit dürften das rund 40 Babys gewesen sein.
Welchen Einfluss haben die Ereignisse in Ceuta und Melilla, wo 11 Menschen beim Sturm auf die Grenze getötet wurden?
Frederico Barroela: Das hat viel verändert. Früher standen die Immigranten hin und wieder im Rampenlicht und dann ging alles wie gehabt weiter. Jetzt ist es damit vorbei. Niemand kann sich mehr verstecken und darauf warten, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.
Hat das etwas mit den verbesserten Beziehungen zwischen Marokko und Spanien zu tun? Früher konnte die marokkanische Polizei einfach wegsehen.
Frederico Barroela: Sicherlich richtig, aber jetzt ist es nicht mehr ein Problem von Spanien und Marokko. Das ist jetzt ein europäisches Problem. Ceuta und Melilla sind ein Schengen-Territorium.
Warum haben die Immigranten erst jetzt dies beiden spanischen Enklaven als Fluchtmöglichkeit entdeckt?
Frederico Barroela: Der Druck hat sich erhöht. Es gibt weniger Chancen mit dem Boot rüber zu kommen und gleichzeitig vermehrte Polizeikontrollen in Marokko. Die Flüchtlinge sind monatelang nicht zur Ruhe gekommen, Opfer von Gewalt und polizeilicher Willkür, was in unserem neuesten Bericht ausführlich dargestellt ist. Die Gewalt gegen Immigranten stieg im letzten Jahr deutlich an. Der Hauptanteil aller medizinischen Konsultationen resultierte aus Gewalteinwirkungen.
"Die Menschen sehen in ihrem Land keine Zukunft"
Ein Zeichen der Zuspitzung von Gewalt sind die Toten an der Grenze der letzten Wochen.
Frederico Barroela: Vier wurden ganz sicher von der marokkanischen Polizei erschossen. In einem Akt der Selbstverteidigung, sagte man.
Was verlangen Sie, dass die marokkanischen Behörden tun sollten? Marokko ist kein reiches Industrieland, so dass die Aufnahme von Tausenden von Flüchtlingen eine große Belastung ist.
Frederico Barroela: Ich kann nicht sagen, was die marokkanische Regierung zu tun hat oder nicht. Aber man muss die Flüchtlinge als menschliche Wesen behandeln und zwar mit allem Respekt. Wir haben es hier mit einem menschlichen Drama zu tun.
Die Wenigsten der Flüchtlinge sind politisch Verfolgte oder kommen aus Kriegszonen. Die Meisten haben in ihrer Heimat Jobs, Wohnung und Familie zurückgelassen und sich entschlossen, ihr Leben auf dem langen Weg nach Europa aufs Spiel zu setzen. Viele werden von Zuhause unterstützt, oft mit mehr Geld, als ein normaler marokkanischer Arbeiter im Monat verdienen kann. Kann man zwischen wirtschaftlichen und politischen Flüchtlingen unterscheiden?
Frederico Barroela: Weder Sie noch ich können uns anmaßen, über diese Leute zu urteilen. Wir müssen nur die Fakten beachten. Die Menschen sitzen hier fest, sind Opfer von Gewalt und führen ein miserables Leben. Das muss man vor Augen haben. Sie sehen in ihrem Land keine Zukunft, deshalb sind sie hier. Das ist eben das Bezeichnende an Immigration, die Menschen gehen in andere Länder, um ein besseres Leben zu haben.
Vor einer Woche hat ein Team von Ihrer Organisation rund 500 Flüchtlinge in der Wüste gefunden, die von der marokkanischen Polizei ausgesetzt wurden.
Frederico Barroela: Ja, man hat sie in Oujda in Busse verfrachtet und nach neun Stunden Fahrt in die Wüste in der Nähe der algerischen Grenze einfach ausgesetzt. So etwa ist unakzeptabel. Darunter waren viele Verletzte vom Sturm auf den Grenzzaun in Ceuta oder Melilla, und auch Frauen, Kinder. Das geht nicht. Wenn man diese Menschen deportiert, dann wenigstens in ihre Heimatländer.