Martin Lemke: Ficken und foltern im syrischen Dschihad
Das Mitglied des "IS"-Sicherheitsdienstes Amniyat will aus einem kurdischen Gefängnis zurück nach Deutschland
Eigentlich war Martin Lemke Schweißer im Braunkohlerevier in Sachsen-Anhalt. Aber er ist einer von mindestens 1050 Personen aus Deutschland, die in den letzten neun Jahren nach Syrien bzw. den Irak gingen, um sich dort dem "Dschihad" anzuschließen. Zwei Frauen aus Deutschland nahm er mit, eine weitere Fünfzehnjährige heiratete er in Raqqa, außerdem hielt er sich noch eine jesidische Sklavin.
Innerhalb der Terrororganisation "Islamischer Staat" machte er eine zweifelhafte Karriere: Er ist neben Thomas M.-C. einer der beiden Deutschen, die nachweislich Mitglied des "IS"-Sicherheitsdienstes Amniyat wurden. Weitere Deutsche, wie z. B. Nils D., wurden Mitglied der "IS"-Religionspolizei. In welchem Umfang Lemke an Morden, Hinrichtungen und Folterungen beteiligt war, müssen die polizeilichen Ermittlungen ergeben. Z. Zt. sitzt Martin Lemke in einem kurdischen Gefängnis bei Qamischli in Nordsyrien. Nun möchte er zurück zu den Ungläubigen in Deutschland.
Radikalisierung
"Abu Yasir al-Almani" (andere Schreibweise: "Abu Yassir al-Almani") alias "Nihad" alias Martin Lemke wurde Ende Dezember 1990 im Süden Sachsen-Anhalts geboren. Er wohnte zunächst am Neumarkt in Zeitz (Sachsen-Anhalt). Hier machte er eine Ausbildung zum Industriemechaniker in einer Braunkohlegesellschaft und arbeitete danach sechs Jahre lang als Schweißer bei der Mitteldeutschen Braunkohle AG (MIBRAG). Er gehörte einer arabisch-armenischen Jugendgang an, konsumierte Drogen und beging kleinere Diebstähle. Außerdem war er Mitglied in einem Box-Sportverein und Torwart beim Fußballclub "SV Motor Zeitz".
Im Jahr 2010 kam Martin Lemke über einen kurdischen Freund zum ersten Mal mit dem Islam in Kontakt. Er wurde im ersten Halbjahr 2012 in Leipzig in der Al-Rahman-Moschee (Roscherstraße 33A) radikalisiert. Im Mai 2012 beteiligte er sich an der "Lies!"-Kampagne. Ende 2012 schrieb er bereits auf "Facebook": "Muslime werden siegen, denn die Kuffar (Ungläubige) lieben ihr Leben…. Wir schauen in den Lauf der Waffe und sehen das Paradies."
Im Frühjahr oder Frühsommer 2014 zieht er mit seiner damaligen Frau Julie Maninchedda und dem gemeinsamen Sohn nach Hildesheim. Hier nimmt er an einem dreimonatigen Islam-Seminar in der Masjid-Moschee des Deutschsprachigen Islamkreises e. V. (DIK) in Hildesheim-Nordstadt (Martin-Luther-Str. 41a) teil und kam so in Kontakt mit "Abu Walaa" alias Ahmad Abdulaziz Abdullah Abdullah.
Am 2. November 2014 flog Martin Lemke mit seinen beiden Frauen Julie Maninchedda und Sabina Lemke sowie dem gemeinsamen Sohn Shahir über Hannover und Istanbul nach Syrien, wo er sich dem "Islamischen Staat" anschloss.
Polygame Großfamilie
Martin Lemke ist der Ehemann von mehreren Frauen: Zunächst war Martin Lemke mit einer deutschen Ehefrau verheiratet, nachdem er diese dazu überredet hatte, zum Islam zu konvertieren. Das Paar heiratete - nach islamischem Ritus - in der Al-Rahman-Moschee in Leipzig (Roscherstraße 31A), wo Hassan Dabbagh predigte.
Das Paar lebte zunächst in Zeitz, hier arbeitete seine Ehefrau als Kellnerin im Cafe "Millenium", bis Martin Lemke ihr das verbat. Im Februar 2013 zog Martin Lemke mit seiner damaligen ersten Ehefrau von Zeitz nach Leipzig (Eisenbahnstraße). Als sich Martin Lemke eine "Zweitfrau" zulegen wollte, trennte sich das Paar. Später lernte er die Französin Julie Maninchedda aus Libercourt kennen. Die Muslima studierte am Lyzeum Faidherbe in Lille (9 Rue Armand Carrel) deutsche und französische Literatur und war für ein oder zwei Semester an die Uni Leipzig gekommen. Sie wurde noch in Leipzig - nach islamischem Ritus - seine neue "Erstfrau". Maninchedda gebar im Januar 2014 einen gemeinsamen Sohn Shahir und später noch dreimal einen Jungen.
Zwischen den Eheleuten kam es ständig zum Streit und Martin Lemke schlug dann seine "Erstfrau". Hinzu kam als "Zweitfrau" Sabina Lemke, eine Deutsche dagestanischer Abstammung, die er noch in Deutschland kennenlernte und amtlich heiratete. Im März 2015 heiratete er in Syrien die fünfzehnjährige Deutsche Leonora Lemke (geb. Messing) aus Sangerhausen als "Drittfrau", obwohl er sie gerademal drei Tage kannte, nach islamischem Ritus. Leonora Lemke bekam in Syrien zwei Kinder: Habiba und Maria. Es ist unklar, warum sowohl Sabina als auch Leonora den Nachnamen "Lemke" führen, da nach deutschem Recht Polygamie verboten ist. Außerdem kaufte Martin Lemke für 800 Dollar eine jesidische Sklavin mit ihren zwei Kindern von einem afrikanischen IS-Kämpfer ab. Ob diese Jesidin noch lebt und wo sie sich befindet, wurde nicht bekannt. Jedenfalls gilt die Versklavung eines Menschen als "Kriegsverbrechen gegen Personen" gemäß § 8 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB).
Über das "Eheleben" wusste die "Bild"-Zeitung zu berichten:
Als schließlich auch Leonora in Syrien ankam, musste sie sich mit Lemkes "Erstfrau" Julie in Raqqa eine Wohnung teilen. Das Familienoberhaupt ist selten daheim und das Klima zwischen Julie und Leonora - wohl auch aus Eifersucht - ausgesprochen schlecht.
"Die beiden haben sich ständig gestritten und in die Haare bekommen. Sie haben sich gegenseitig regelrecht tyrannisiert", sagt ein deutsches ISIS-Mitglied aus Raqqa zu BILD. "Leonora hat Julies Klamotten zerschnitten, die wiederum hat sich gerächt und Leonoras Sachen kaputtgemacht."
Die Streitereien zwischen Leonora und der deutlich älteren Julie nahmen irgendwann derart überhand, dass Lemke nach einigen Wochen seine zerstrittenen "Ehefrauen" schließlich trennte und ihnen unterschiedliche Wohnungen zuwies. Neben Julie M. und Leonora M. war Lemke noch mit weiteren Frauen "verheiratet" - unter anderem hielt er eine Jesidin als Sklavin.
Bild
Martin Lemke entschied sich schließlich dazu, die Ehefrauen auf drei Häuser in Raqqa zu verteilen. Die jesidische Sklavin wurde im Haus der "Zweitfrau" Sabina Lemke untergebracht. Eine Wohnung wurde vom "IS" gestellt, die beiden anderen Quartiere musste Lemke anmieten. Über seinen Umgang mit Frauen berichtete Lemke in einem Interview mit dem Stern vom 28. Februar 2019:
Man muss der Frau ihre Rechte geben. Das heißt: Ich schlafe eine Nacht bei dieser Frau, eine Nacht bei dieser Frau, eine Nacht bei dieser Frau. Und die Frau möchte sich schön machen. Und wenn sie das vor der anderen Frau macht, bekommt die andere Frau vielleicht Eifersucht. (…)
Um Probleme zu vermeiden, ist es besser, einzelne Wohnungen zu beziehen. Es macht es einfacher. Man ist beruhigter. Weil jede Frau ihren eigenen Lebensstil hat. Ihre eigene Art und Weise zu kochen, zu putzen, der Umgang mit Kindern.
Stern
Während der gesamten Ehejahre hat Martin Lemke seine "Erstfrau" Maninchedda geschlagen, auch als sie hochschwanger war. Mindestens einmal hat er ihr einen Revolver an die Schläfe gehalten, berichtete ihre Mutter. Im Jahr 2018 kam zur Trennung zwischen Martin Lemke und Julie Maninchedda. Anfang Januar 2018 lief sie weg, wurde aber von Lemke nach mehreren Tagen aufgespürt und in ein "IS"-Frauenhaus gesteckt. Nachdem sie die Scheidung eingereicht hat, entzog er ihr die beiden ältesten Söhne. Um diese musste sich fortan seine "Zweitfrau" kümmern. "Ich habe Angst, dass er mich umbringt, wenn ich hingehe, um sie zu besuchen", berichtete Maninchedda ihren Eltern. Eine andere Darstellung der Problematik stammte von Leonora Lemke:
Leonora besteht darauf, dass Julies neuer Mann die Kinder nicht haben wollte. Er habe im Ehevertrag festschreiben lassen, dass er sich scheiden lasse, wenn die Jungen bei Julie bleiben würden: "Wir hatten eine Vereinbarung, drei Tage sind die Kinder bei uns, drei Tage bei ihr. Und dann ist sie nicht mehr gekommen."
Julie Maninchedda gebar schließlich - wenige Tage nach der Trennung von Lemke - am 5. Februar 2018 einen dritten Sohn Dschaffar (andere Schreibweise: Dschafar) im halbzerstörten Krankenhaus von Al-Soussa. Im Frühjahr 2018 lernte sie einen weiteren IS-Kämpfer aus Marokko kennen und heiratete diesen. Bereits neun Monate später kam ein viertes Kind auf die Welt, das nach wenigen Tagen im Oktober 2018 bei einem Luftangriff in dem Dorf Al-Shaafa (andere Schreibweise: Schafa'a) in Ostsyrien mit seiner Mutter und seinem Stiefvater ums Leben kam. Dschaffar, gerade neun Monate alt, wurde schwer verwundet, wie Martin Lemke später berichtete: "Sein rechtes Bein war gebrochen, oben und unten. Sein halbes Gesicht war offen, wurde genäht. An der linken Seite am Brustkorb ist ein Splitter reingekommen, wurde auch operiert."
Wenige Tage später nach dem Luftangriff übergab Martin Lemke seine beiden Kinder Shakir und Dschaffar einer syrisch-usbekischen Familie, wie der "Stern" am 27. Februar 2019 berichtete:
Lemkes Frau Julie stirbt bei einem Bombenangriff, Sohn Dschaffar, neun Monate alt, wird schwer verletzt. Lemke übergibt das verwundete Baby zusammen mit dem drei Jahre alten Bruder Shakir einer fremden usbekisch-syrischen Familie. "Babysitting" nennt er das. Und verliert den Kontakt. "Ich war 18, ich hatte auf einmal vier Kinder. Und ich war schwanger. Das hab ich nicht geschafft. Und dann ging die Hungerperiode beim IS los", sagt Leonora auf die Frage, warum die Familie die Jungen einfach weggab.
Stern
Der Vater rechtfertigte die Weitergabe seiner Kinder mit den damaligen Umständen auf der Flucht: "Zu diesem Zeitpunkt waren meine deutsche und meine dagestanische Frau schwanger. Es war schwer mit einem verletzten Kind. Die Verbände müssen immer gewechselt werden. Es war schwer."
Außer den vier Kindern mit Julie Maninchedda kommen noch die beiden Kinder mit Leonora Lemke und mindestens ein gemeinsames Kind mit Sabina Lemke hinzu, so dass Martin Lemke in den 58 Monaten von Januar 2014 bis Oktober 2018 mindestens siebenmal Vater wurde. Dies war nur durch seine muslimische Polygamie möglich. Von den sieben Kindern kamen sechs in Syrien zur Welt. Hier stellt sich die Frage, ob Martin Lemke in Syrien mehr Menschen gezeugt oder ermordet hat.
Die Unterbringung seiner Frauen in mehreren Häusern könnte nun Martin Lemke zum Verhängnis werden: Wenn man unterstellt, dass die vom "IS" gestellte Wohnung vorher einer Familie gehörte, die geflüchtet ist oder vertrieben wurde, dann stellt die "Islamisierung" dieser Wohnung ein Kriegsverbrechen gemäß Artikel 9 des Völkerstrafrechts (VStGB) dar.
Dienst beim IS
Martin Lemke wohnte mit seiner Großfamilie von November 2014 bis Herbst 2017 in Raqqa. Damals "verdiente" er beim "Islamischen Staat" 50 Dollar pro Person und erhielt noch für jedes Kind 35 Dollar extra. Danach musste die Familie angesichts der militärischen Niederlagen mehrfach flüchten.
Beim "IS" diente er zunächst bei der Religionspolizei Rijaal al-hisbah (Kurzname: Hisbah), später beim Sicherheitsdienst Amniyat in Raqqa mit engen Kontakten zu Abu Muhammad al-Adnani. Der Amniyat ist neben dem Diwan al-Amn und der Shurta Askeriya einer der drei Sicherheitsdienste des "IS". Nach Angaben von Leonora Lemke kümmerte sich ihr Ehemann um das IT-System des IS: "Es gibt keinen Beweis, dass ich irgendjemanden getötet habe, ich habe niemanden bekämpft. (…) Meine Abteilung war das Technische Büro, nichts anderes", behauptet er heute.
Der Journalist Björn Stritzel fasste die "Karriere" des Martin Lemke in der Bild-Zeitung so zusammen:
In Syrien war Lemke dank der Fürsprache seines Mentors Abu Walaa (steht derzeit in Celle vor Gericht) im internen Sicherheitsapparat der Terrorgruppe rasch aufgestiegen: Kontrollierte er anfangs noch als Religionspolizist die Einhaltung der ISIS-Gesetzgebung, gelangte er bald in den ISIS-Geheimdienst. Hier arbeitete er nach BILD-Informationen zunächst als Übersetzer und kontrollierte andere deutsche Dschihadisten. (…) Nach BILD-Informationen soll Lemke aber an Hinrichtungen beteiligt gewesen sein.
Björn Stritzel
Der Stern-Journalist Steffen Gassel berichtete nach einem Gespräch mit Marin Lemke am 28. Februar 2019 über dessen Terroraktivitäten:
Als Mitglied des Geheimdienstes "Amnijat", einer Art IS-Stasi für Spionageabwehr, soll es seine Aufgabe gewesen sein, Abweichler und Verräter im IS aufzuspüren, zu foltern und zu töten. Zeugen haben ausgesagt, er habe Verhöre inhaftierter Deutscher geleitet. Im zum IS-Gefängnis umfunktionierten Stadion der IS-Hauptstadt Raqqa, wo Lemke mit seiner Familie jahrelang lebte, soll er Häftlinge bis zum Tod gefoltert haben. (…)
"Ich habe niemals einem Menschen den Kopf abgeschlagen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das gepostet habe. Er wurden Menschen die Köpfe abgeschlagen, aber nicht ich." Kurz darauf fällt ein bemerkenswerter Satz: "Es wird viel geredet, aber niemand weiß die Wahrheit." (…)
Ja, er sei ab Mitte 2015 eineinhalb Jahre lang Amnijat-Mitglied gewesen. Und zwar als einziger Deutscher im "Wilyat ar-Raqqa", dem Verwaltungsbezirk Raqqa des Kalifats. Dort aber habe er nur in einem "technischen Büro" gearbeitet. "Ich habe Laptops formatiert, Handys formatiert, Reparaturen gemacht. Ich habe Verschlüsselungen gemacht für Festplatten, USB-Sticks. Solche Sachen.
Steffen Gassel
Im IS-Gefängnis von Raqqa verhörte er u. a. Anil O., der verdächtigt wurde, ein Deserteur zu sein. Dazu berichtete die Wochenzeitung Die Zeit:
O. zufolge brüstete sich Lemke damit, zum Geheimdienst des IS zu gehören und für die Deutschen zuständig zu sein. Normalerweise, so Lemke, stehe auf Fluchtversuche die Hinrichtung. Aber wenn O. über seinen Fluchtplan und Kontakte zu Schleusern auspacke, werde er versuchen, die Todesstrafe abzuwenden. Lemke sagte O. zufolge auch, dass der Hildesheimer Prediger Abu Walaa ihn zum IS gebracht habe. Am Ende ist es diese Verbindung, die O. das Leben rettet: Auch O. war von Abu Walaa geschickt worden; Lemke befürchtete offenbar schlechte Publicity für den Scheich von Hildesheim, wenn einer seiner Schützlinge als Verräter hingerichtet würde.
Das Verhör, sein Detailwissen und die Behauptung, er rede regelmäßig mit dem IS-Vize Al-Adnani, lassen den Schluss zu, dass Lemke zu diesem Zeitpunkt tatsächlich beim IS-Geheimdienst angekommen war. Unter den deutschen Kämpfern in Rakka kursierte O. zufolge die Geschichte, dass Lemke vor seiner Beförderung einen Spionagering habe hochgehen lassen. Das habe seinen Aufstieg bewirkt. Ein europäischer Ex-Geheimdienstler, der viele Akten von foreign fighters kennt, hält das für plausibel: Dies sei ein klassischer Einstieg in die Amnijat. (…)
Anil O. kommt glimpflich davon, denn Abu Walaa setzt sich offenbar aus der Ferne für ihn ein. Andere haben weniger Glück: Europäischen Sicherheitsbehörden liegen Aussagen vor, denen zufolge Lemke ein Folterer und Mörder ist. Im Stadion von Rakka, das zum Sicherheitskomplex des IS gehörte, soll er mehrere Personen zu Tode gequält haben, mutmaßlich des Verrats verdächtige IS-Kämpfer. Und Lemke selbst schickte einem Bekannten Facebook-Nachrichten, die die ZEIT einsehen konnte. Darin heißt es: "Ich habe Menschen die Köpfe abgeschlagen.
Die Zeit
Das passt zu dem, was ein junger Mann aus dem Nordirak im August 2015 der Polizei in Naumburg erzählte: Es existiere ein Video, gab er zu Protokoll, auf dem zu sehen sei, wie Lemke eine Enthauptung vornehme und anschließend mehrere Menschen nacheinander erschieße. Er habe Lemke, den er aus Zeitz vom Sehen kenne, darauf wiedererkannt. Das Video liegt den Behörden allerdings nicht vor.
Wie andere zum V-Mann mutierte Ex-Terroristen wird Anil O. in verschiedenen Strafverfahren als Kronzeuge instrumentalisiert. Dabei zeigte sich, dass seine Ausführungen nicht immer glaubwürdig sind, so im Prozess gegen Sven Lau, wo er nach einer zähen Befragung einräumen musste, mögliche Beweise gegen Lau nur vom Hörensagen zu kennen. Martin Lemke kündigte an, er werde juristisch gegen die Darstellung von Anil O. vorgehen.
Ein namentlich nicht genannter Zeuge sagte aus, Martin Lemke habe seinen Bruder geköpft. Auch der "Mitteldeutsche Rundfunk" in Leipzig berichtete Anfang März 2019: "Es soll sogar Zeugen geben, die ihn bei Folterungen und Hinrichtungen gesehen haben wollen."
In mehreren Interviews nach seiner Gefangennahme bestritt Martin Lemke, an der Ermordung von Gegnern beteiligt gewesen zu sein. Gegenüber dem "MDR" erklärt er: "Ich war nie an Hinrichtungen beteiligt, noch war ich dort. Ich war in einem technischen Büro, habe Laptops, Handys und Festplatten formatiert - ganz normale Arbeit." Zur Frage, ob er andere gefoltert hat, äußerte er sich explizit nicht. In klassischer deutscher Manier erklärte Lemke, er habe von all den Gräueltaten nichts gewusst: "Ich bin von meinem Arbeitsplatz nach Hause, von zu Hause zu meinem Arbeitsplatz. Ich habe weder was gehört, noch was gesehen. Keine Nachrichten, kein Fernsehen, nichts."
Flucht
Eineinhalb Jahre war die Familie innerhalb von Syrien auf der Flucht. Im Jahr 2017 sollen sie in Majadin an der syrisch-irakischen Grenze gelebt haben. Anfang 2018 hielt er sich anscheinend in Al-Soussa auf. Zur Jahreswende 2018/19 war er im letzten IS-Zufluchtsort al-Bāġūz Fawqānī (dt.: al-Baghus) im unteren Euphrat-Tal an der Grenze zum Irak.
Anfang 2018 trennten sich Martin Lemke und Julie Maninchedda. Diese kam im Oktober 2018 bei einem Luftangriff ums Leben. Ihre beiden Kinder wurden einer anderen Familie übergeben, berichtete der "Stern" am 27. Februar 2019:
"Lemkes Frau Julie stirbt bei einem Bombenangriff, Sohn Dschaffar, neun Monate alt, wird schwer verletzt. Lemke übergibt das verwundete Baby zusammen mit dem drei Jahre alten Bruder Shakir einer fremden usbekisch-syrischen Familie. "Babysitting" nennt er das. Und verliert den Kontakt. "Ich war 18, ich hatte auf einmal vier Kinder. Und ich war schwanger. Das hab ich nicht geschafft. Und dann ging die Hungerperiode beim IS los", sagt Leonora auf die Frage, warum die Familie die Jungen einfach weggab."
Über das Ende des "Islamischen Staates" weiß Lemke folgendes zu berichten: "Horror. (…) Viele Kinder gestorben, viele Frauen gestorben. Hunger. Kein Essen, kein Wasser. Regen. Kälte. Kein Haus. Man kann das nicht mit Worten erklären."
Gefangenschaft
Am 31. Januar 2019 floh er mit zwei Ehefrauen und sechs Kindern aus al-Bāġūz Fawqānī. Er wurde - zusammen mit Leonora Lemke und Sabina Lemke - in der Nähe des letzten IS-Dorfes an der syrisch-irakischen Grenze von der kurdischen Miliz Yekîneyên Parastina Gel (YPG) gefangen genommen. Er lebt heute in einem Gefängnis des kurdischen Nachrichtendienstes der Hêzên Sûriya Demokratîk (int.: Syrian Defense Forces - SDF) bei Qamischli in Nordsyrien. Seine beiden überlebenden Ehefrauen und die überlebenden Kinder trafen sich zufälliger Weise im Gefangenenlager al-Hol (Nordsyrien) wieder.
In der Gefangenschaft wurde Martin Lemke von dem "Stern"-Journalisten Steffen Gassel aufgesucht, der über dessen "Zukunftspläne" zu berichten weiß:
Unter den Dutzenden deutschen IS-Kämpfern in den Gefängnissen der kurdisch geführten SDF-Miliz in Nordostsyrien ist er einer der berüchtigsten. Kein Deutscher hat es im "Islamischen Staat" so weit gebracht wie er. Diesen Umstand möchte er sich nun zunutze machen. "Ich habe vor, nach meiner Strafe in Antiterrororganisationen zu arbeiten, im Anti-Terrorkampf", sagt der mutmaßliche Top-Terrorist. Vor seiner Flucht hat er sich über eine Vertraute den deutschen Behörden als Kronzeuge angeboten. Seine Ausreise in den Islamischen Staat sei "ein Fehler" gewesen, sagt er heute, "eine Kurzschlussreaktion". Nun wolle er "die deutsche Regierung und den Verfassungsschutz unterstützen". (…)
Martin Lemke ist trotz aller körperlichen Schwäche wach und bedacht in allem, was er sagt. Er verfolgt eine klare Strategie. Bereitwillig räumt er ein, wovon er glaubt, dass es ihn als Kronzeugen interessant machen könnte. Vorwürfe, die ihn als Täter belasten, streitet er konsequent ab.
Steffen Gassel
In einem Interview mit den "ZDF"-Journalisten Armin Coerper und Syara Kareb ("frontal-21") Anfang 2019 wippte er mit dem Oberkörper ständig vor und zurück. Er erklärte, dass er eine Lungenentzündung habe; außerdem leide er seit einem halben Jahr an Diarrhö.
In Deutschland betreibt der Generalbundesanwalt in Karlsruhe ein Ermittlungsverfahren gegen Martin Lemke. Ein Haftbefehl wurde ausgestellt. Angesichts der Kriegsgräuel in Syrien/Irak war das Bundeskriminalamt in Wiesbaden vor Jahren gut beraten, dass es mit dem Referat Staatsschutz 24 (ST 24) eine eigene Dienststelle schuf, die unter Leitung von Klaus Zorn für Kriegsverbrechen und Völkermord zuständig ist. Dazu leitete das Referat zunächst ein Strukturverfahren ein und ermittelt nun gegen einzelne Tatverdächtige. Je nach der Beweislage droht Martin Lemke zumindest eine Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß § 129b (StGB); dann droht ihm lediglich eine Höchststrafe von fünf Jahren.
Auch nach neun Jahren Aufklärung im syrischen Bürgerkrieg und trotz der internationalen Unterstützung durch die amerikanischen, britischen, französischen, spanischen, russischen, türkischen, libanesischen, israelischen, jordanischen und irakischen Geheimdienste etc. tun sich die deutschen Sicherheitsdienste BKA, BfV und BND immer noch schwer, deutschen Dschihadisten ihre Verbrechen gerichtsfest nachzuweisen.
Von den 1.050 amtlich bekannt gewordenen Syrienkämpfern sind 350 nach Deutschland zurückgekehrt, 200 kamen bei Selbstmordanschlägen oder US-Luftangriffen ums Leben, 30 bis 100 befinden sich in Gefangenschaft. Somit verbleibt ein Rest von rund 450 Personen (ca. 42 Prozent), über dessen Verbleib den deutschen Nachrichtendiensten offensichtlich keine Informationen vorliegen. Hinzu kommen noch die "1050-plus-x"-Syrienkämpfer, die den deutschen Sicherheitsbehörden nie bekannt wurden. Wie hoch diese Dunkelziffer ist, ob 1, 10, 100 oder 1000, liegt im Dunkeln. Insgesamt eine erbärmliche "Intelligence" und eine miese Ausgangslage für einen rechtstaatlichen Strafprozess.