Marx und Natur: Problem ungelöst

Kannte das Problem, rechnete aber mit Revolution, bevor es zum drängendsten aller Probleme wird. Karl Marx auf einem Street-Art-Plakat in Santiago de Chile. Foto: Felvalen / CC-BY-SA-4.0

Die Kollateralschäden des Kapitalismus bedrohen heute auch dessen eigene Grundlagen. Dank Sozialpartnerschaft hat er so lange überlebt. (Teil 2)

Heute muss man feststellen: Die proletarische Weltrevolution, auf die die Kämpfe der marxistischen Arbeiterbewegung hinführen sollten, ist ausgeblieben. Grund dafür ist die – zu Marx’ Zeiten nicht vorhersehbare – sozialpartnerschaftliche Einhegung des Klassengegensatzes, die diesem zwar nicht seine Härte nimmt, ihn aber haltbar macht, indem sie die Arbeitskämpfe in staatlich genehmigte und regulierte Formen verweist.

Das bescherte dem Kapitalismus eine ungeahnt lange Lebensdauer, während der die Naturzerstörung zu einer Bedrohung bisher ungeahnten Ausmaßes anwachsen konnte - so sehr, dass sie nun als Grund für die Überwindung des Kapitalismus in den Vordergrund rücken muss. Die Wirkungen der Naturgesetze sind nicht verhandelbar – und so bleibt heute nur noch wenig Zeit, um mit dem Kapitalismus auch die Ursachen der Zerstörung der menschlichen Lebensbedingungen aus der Welt zu schaffen.

Sehen wir uns an, was es bedeutet, dass die Natur eine Seite im Grundwiderspruchs des Kapitalismus darstellt.

Was heißt "Zerstörung der Natur"?

Naturzerstörung heißt letztendlich Zerstörung ihrer Nützlichkeit für den Menschen. Wollte man Naturzerstörung anders fassen, so müsste man zu einem von zwei wenig überzeugenden Standpunkten kommen:

Entweder man würde jede Änderung durch den Menschen als Naturzerstörung auffassen. In unserer Kulturlandschaft ist jedoch – auch schon vor dem Siegeszug der industriellen Landwirtschaft – außer vielleicht in den Felsregionen der Alpen nichts mehr so, wie es "von Natur aus" gewesen wäre. Gleichwohl ist es aber gerade diese Kulturlandschaft, die gemeint ist, wenn zum Beispiel von der "Erholung in der Natur" die Rede ist.

Oder man müsste sich im Gegenteil auf den Standpunkt stellen, dass Natur überhaupt nicht zerstört werden könnte, denn was immer nach irgendwelchen Eingriffen zurückbleibt (zum Beispiel umgekippte Gewässer) wäre dennoch Natur.

Als einziges Kriterium, ob Naturzerstörung vorliegt, kommt demnach nur die Brauchbarkeit für menschliche Bedürfnisse in Betracht. Worin besteht diese? So wie der Gebrauchswert einer Ware durch ihre Beschaffenheit als Naturgegenstand bestimmt ist, so können natürliche Gegenstände auch ohne Umgestaltung durch menschliche Arbeit Gebrauchswert sein, indem sie ein menschliches Bedürfnis befriedigen.

Dabei ist es, ganz so, wie im "Kapital" bei der Erklärung des Begriffs "Gebrauchswert" gesagt wird, gleichgültig, ob die Bedürfnisse "dem Magen oder der Fantasie entspringen" und auch, "wie die Sache das menschliche Bedürfnis befriedigt, ob unmittelbar als Lebensmittel, das heißt als Gegenstand des Genusses, oder auf einem Umweg, das heißt als Produktionsmittel".

Die Luft zum Atmen ist ein Bestandteil der Natur, der unmittelbar ein elementares Lebensbedürfnis befriedigt, und kann in ihrer Nützlichkeit durch Verschmutzung beeinträchtigt werden. Unmittelbare Nützlichkeit der Natur umfasst jedoch auch alle Formen von Naturgenuss, also die Befriedigung von Bedürfnissen, die der Fantasie entspringen, wie die Freude an ihrer Vielfalt und Schönheit oder das Erlebnis der freien Bewegung in der Natur. Die Zerstörung, also Unbrauchbarmachung der Natur kann auch zu Gesundheitsschädigungen führen.

Naturzerstörung bedeutet demnach Zerstörung der Eignung der Natur als menschliche Lebensgrundlage im weitesten Sinn. Die unterschiedlichen Nutzungen der Natur treten allerdings ständig zueinander in Konflikt. Was die eine Nutzung als Resultat hinterlässt, kann manche andere beeinträchtigen oder gar unmöglich machen.

Es kommt also auf die gesellschaftliche Organisation der Produktion an, ob und in welcher Form die Brauchbarkeit der Natur insgesamt erhalten bleiben, wenn nicht verbessert werden kann. Der kapitalistischen Produktionsweise jedenfalls muss hier ein miserables Zeugnis ausgestellt werden.

Kann man von "Ausbeutung der Natur" sprechen?

In der ökosozialistischen Debatte ist vielfach von "Ausbeutung von Mensch und Natur" die Rede. Hier ist Vorsicht geboten, denn es handelt sich bei der Ausbeutung von Menschen um etwas anderes als bei der Ausbeutung der Natur. In einem geläufigen Sinn wird oft von der Ausbeutung natürlicher Gegebenheiten, zum Beispiel von Bodenschätzen, Wasserkraft, Ackerland etc. gesprochen.

Hier bedeutet "Ausbeutung" also weiter nichts als "Verwendung" oder "Zugriff", und das kann nicht per se als etwas Schlechtes betrachtet werden, denn ohne es wäre menschliches Leben überhaupt nicht möglich. Dem Begriff "Ausbeutung von Menschen", wurde dagegen von Marx eine sehr viel präzisere Bedeutung beigelegt, nämlich sich auf Kosten der Arbeit anderer ein bequemes Leben zu machen.

Im Kapitalismus handelt es sich um die Ausbeutung der Arbeitenden, das heißt darum, dass die Kapitalisten sich den Mehrwert aneignen, also den Anteil am neugeschaffenen Wert des Arbeitsprodukts, das den als Lohn gezahlten Wert der Arbeitskraft übersteigt. Das ist nicht weniger als die Quintessenz der Klassenherrschaft:

So kann von einer Naturbasis des Mehrwerts gesprochen werden, aber nur in dem ganz allgemeinen Sinn, dass kein absolutes Naturhindernis den einen abhält, die zu seiner eigenen Existenz nötige Arbeit von sich selbst ab- und einem anderen aufzuwälzen, zum Beispiel ebensowenig wie absolute Naturhindernisse die einen abhalten, das Fleisch der anderen als Nahrung zu verwenden.

Das Kapital, Bd.1, S. 534

Von Ausbeutung der Natur im gleichen Sinn zu sprechen wie von Ausbeutung von Menschen würde die Gefahr einer Versubjektivierung der Natur implizieren. Richtig wäre, von Naturzerstörung zu reden, im dem Sinne, wie das oben dargestellt wurde.

Ausbeutung der Arbeiter ist Grund für zweierlei Zerstörung

Freilich, das eingangs angeführte Marx-Zitat von den beiden "Springquellen des Reichtums" verleitet dazu, eine Ausbeutung der Natur gleichberechtigt neben die Ausbeutung der Arbeit zu stellen. Betrachten wir den angeführten Satz näher, so bemerken wir, dass darin von Ausbeutung gar nicht gesprochen wird. Es ist davon die Rede, dass die "Springquellen allen Reichtums untergraben" werden, was wir hier der Kürze halber als Zerstörung von Natur und Arbeitskraft bezeichnen.

Die Zerstörung der Arbeitskraft geschieht in mehrfacher Weise (in der nachfolgenden Auflistung sind in Klammern Stichworte zu den einzelnen Themen beigefügt, um verbreiteten Auffassungen, wonach Zerstörung der Arbeitskraft vergangenen Zeiten angehöre, zuvorzukommen):

Erstens, indem die Ausdehnung und Intensivierung der Arbeit krank macht (Überstunden, Stress, Schichtarbeit).

Zweitens, indem der Arbeitsplatz gesundheitsschädlich gestaltet ist (Gift, Lärm, Hitze, Unfallgefahr, Berufskrankheiten).

Drittens, indem der Lohn auf ein Niveau gedrückt wird, bei welchem keine gesunden Wohn- und Lebensverhältnisse für die Familien mehr bezahlbar sind (wie in den "sozialen Brennpunkten" sichtbar) und schließlich durch Erwerbsarbeitslosigkeit, welche erst recht zu ungesunden Verhältnissen führt. (Zu erwähnen ist auch, dass die Naturzerstörung, wenn sie zu gesundheitlichen Schäden führt, ebenfalls zur Zerstörung der Arbeitskraft beiträgt.)

Ein enger Zusammenhang

Die Zerstörung der Arbeitskraft ist nach all dem jedoch keineswegs begrifflich dasselbe wie die Ausbeutung: Letzteres heißt bei Marx, wie oben zitiert, "die zu seiner eigenen Existenz nötige Arbeit von sich selbst ab- und einem anderen aufzuwälzen"; das kann in Form von Sklaverei und Leibeigenschaft geschehen, oder eben wie im Kapitalismus in Form von Lohnarbeit.

Dagegen liegt Zerstörung der Arbeitskraft vor, wenn die Umstände, unter denen gearbeitet und gelebt werden muss, medizinisch unverträglich sind. Es geht also um zwei disparate Kriterien. Allerdings besteht ein enger Zusammenhang. Alle aufgezählten Formen von Zerstörung der Arbeitskraft im Kapitalismus haben einen gemeinsamen Grund:

Es geht darum, die Stückkosten zu senken, um dadurch mit jeder verkauften Wareneinheit einen Extra-Mehrwert zu erzielen; setzt sich die jeweilige Methode der Stückkostensenkung gesamtgesellschaftlich durch, so ergibt sich auf dem Weg über die Senkung des Werts der Arbeitskraft eine allgemeine Erhöhung der Ausbeutungsrate.

Eine ausführliche Darstellung dieser Zusammenhänge findet sich im "Kapital": Dort geht es um die Stückkostensenkung durch technische Effektivierung des Produktionsprozesses. Für andere Methoden der Stückkostensenkung gilt das dort gesagte ganz entsprechend.

Bei den Gründen, die zur Naturzerstörung führen, verhält es sich nicht anders: handle es sich um die Plünderung von Waldungen und Fischbeständen, um billige, wenn nicht gar kostenlose Schadstoff- und Abfallentsorgung oder um umweltschädliche Methoden zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge – es geht in allen Fällen darum, die jeweiligen Stückkosten zu verringern.

Demnach erfolgt auch die Umweltzerstörung wegen des immanenten Drangs des Kapitals zur Einsaugung von möglichst viel Mehrarbeit, also zur Steigerung der Ausbeutung – und zwar der Ausbeutung der Arbeiter. Die Zerstörung der Natur hat mithin denselben ökonomischen Grund wie die Zerstörung der Arbeitskraft: den grenzenlosen Drang des Kapitals zur größtmöglichen Ausbeutung der Arbeiter.

Anmerkung: Wer hat den Nutzen?

Bei der Ausbeutung (der Arbeiter) sind Vor- und Nachteil klar verteilt: Die Kapitalistenklasse hat den Nutzen, indem sie sich Mehrwert aneignet, die Arbeiter den Schaden, indem sie Lebenszeit und ‑kraft für das Wohl der Kapitalistenklasse zu verschwenden gezwungen sind.

Bei der Zerstörung von Natur und Arbeitskraft verhält es sich anders: Es ist so etwas wie ein Kollateralschaden, das heißt: Für den Verursacher ist es nicht Ziel und Zweck seiner Handlungen, sondern etwas, das er billigend in Kauf nimmt. Diese Zerstörung ist, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maß, für alle nachteilig: auch für die Kapitalisten, denn was da untergraben wird, sind die Grundlagen der kapitalistischen Produktion.

Was speziell die Naturzerstörung betrifft, so hängt viel von Zufälligkeiten insbesondere der topografischen Lage ab: Wer zum Beispiel auf einer Anhöhe wohnt, braucht kein Hochwasser zu fürchten. Davon abgesehen ist es wie stets in dieser Gesellschaft: Geld hilft, sich vor Schäden zu schützen, sich in den Umständen einzurichten; warum sollte auch in der auf Ungleichheit beruhenden Klassengesellschaft gerade in diesem Punkt Gleichheit bestehen?

Was ist Naturbeherrschung?

Allgemein ist zu sagen, dass "wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht", sondern dass "unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können", wie Friedrich Engels in "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" bemerkte. Der Mensch macht demnach die Natur "seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie", indem er die Naturgesetze erkennt und gezielt wirken lässt.

Deshalb sind die Naturgesetze nicht nur Grundlage der Naturbeherrschung, sondern zugleich auch deren Schranke; der Mensch kann sich nicht über sie hinwegsetzen. Jeder menschliche Sieg über die Natur hat laut Engels "in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andere, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben".

Allerdings bedarf der Ausdruck "Jeder menschliche Sieg über die Natur" aus jenem Engels-Werk einer genaueren Klärung: Wie ist diese Allgemeinheit zu begründen? Gibt es sozusagen ein Meta-Naturgesetz, nach dem sich die Natur "für jeden solchen Sieg rächt"?

Wohl nicht. Nehmen wir es als rhetorischen Ausdruck für die Häufigkeit solcher Erfahrungen. Es stellt sich damit die Frage nach der Vorhersehbarkeit der Folgen von Eingriffen in die Natur.

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