Marx und Natur: Problem erkannt
Der Autor des "Kapitals" wusste um das Zerstörungspotenzial des Kapitalismus betreffend natürliche Lebensgrundlagen. Er rechnete aber nicht mit dessen voller Entfaltung. (Teil 1)
Die kapitalistische Produktionsweise ist geprägt durch Rücksichtslosigkeit gegen ihre eigenen materiellen Grundlagen – und damit auch gegen die Lebensgrundlagen der gesamten Gesellschaft. Karl Marx hatte dies bereits vor mehr als 150 Jahren erkannt:
Die kapitalistische Produktion entwickelt nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.
Karl Marx: Das Kapital / Band 1 / S. 530
Dieser Grundwiderspruch existiert also in zwei Ausprägungen, nämlich bezogen auf die Natur und bezogen auf die Arbeiter. Für Marx war beides wichtig, auch wenn der weit überwiegende Teil der Ausführungen im "Kapital" auf die zweite Seite bezogen scheint.
In den vergangenen Jahren fanden sich bei der Sichtung von Marx‘ handschriftlichem Nachlass umfangreiche Auszüge aus agrarwissenschaftlichen Werken, die Marx zu der Zeit anfertigte, als er – gesundheitlich schwer angeschlagen - mit den Arbeiten an den unfertig gebliebenen Bänden zwei und drei des "Kapitals" vollauf beschäftigt war.
Man wird sicher nicht sagen können, er habe diese Studien betrieben, obwohl er mit den Arbeiten für das "Kapital" ausgelastet war, sondern im Gegenteil: es drängt sich der Schluss auf, dass er jene als notwendigen Teil dieser Arbeiten betrachtete.
Wenn Marx das Thema Naturzerstörung so wichtig erschien, so stellt sich die Frage, weshalb es dennoch im "Kapital" nicht mehr Raum einnimmt, sondern nur in verstreuten Hinweisen (wie dem oben zitierten) erwähnt wird. Dies geht meines Erachtens auf das Zusammenwirken von vier Gründen zurück:
1. Theoretisch: Grund für die Naturzerstörung ist der maßlose Drang des Kapitals zur Aneignung von Mehrwert (s.u.). Damit fallen die Gründe für die beiden Ausprägungen des Grundwiderspruchs weitgehend zusammen, die Darstellung des einen ist zugleich die Grundlage für die des anderen, die theoretische Arbeit bewegt sich daher zu großen Teilen auf Gebieten, die nicht per se dem Thema Natur zuzurechnen sind.
2. Praktisch-politisch: Karl Marx und Friedrich Engels erwarteten in nicht allzu ferner Zukunft die proletarische Weltrevolution. In "Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" sprach Engels im Jahr 1844 vom "großen Umschwung, dem das Jahrhundert entgegengeht, der Versöhnung der Menschen mit der Natur und mit sich selbst."
Da durch diese die Klassenherrschaft und damit auch die Gründe der Naturzerstörung beseitigt würden, war für sie klar, dass sich ihre politische Arbeit auf die Förderung der internationalen Arbeiterbewegung konzentrieren musste. Entsprechend standen auch in der theoretischen Arbeit die dafür unmittelbar relevanten Themen im Vordergrund.
3. Historisch: So manche Umweltschäden sind so alt wie die Industrie; ihre Anfänge waren also auch zu Marx‘ Zeiten schon erkennbar, beispielsweise in Form von Verpestung der Luft und Verschmutzung von Gewässern. Bereits in seiner frühen Schrift "Die Lage der arbeitenden Klasse in England", ließ es Engels nicht an diesbezüglichen Hinweisen fehlen.
Allerdings traten diese Schäden erst lokal begrenzt in Erscheinung, so dass der Gedanke fern lag, dass sie sich bis zur nahe erwarteten sozialistischen Revolution zu einem generellen, mit den sozialen Übeln des Kapitalismus vergleichbaren Problem auswachsen würden. Die Landwirtschaft war allerdings auch unter dieser Perspektive von Bedeutung, da es bei ihr sehr unmittelbar und grundsätzlich um die Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlagen geht, und die erkennbaren Missstände schon damals großflächig verbreitet waren.
4 Wissenschaftsgeschichtlich: Marx exzerpierte und kommentierte beispielsweise Werke von Justus v. Liebig und Carl Nicolaus Fraas im Hinblick auf die Auslaugung der Böden, was sich heute bei Carl-Erich Vollgraf (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung NF 2014/15) und Kohei Saito nachlesen lässt.
Vor allem die Darstellung von Saito in "Natur gegen Kapital" (2016) führt vor Augen, dass diese Exzerpte keinen konsolidierten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis wiedergeben, sondern vielmehr eine Szenerie der Kontroversen. Selbst zwischen den aufeinanderfolgenden von Marx eingesehenen Auflagen von Liebigs Hauptwerk "Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie" sind Brüche, ja Kehrtwendungen, zu registrieren. Zur Charakterisierung der damaligen wissenschaftsgeschichtlichen Situation schrieb John Desmond Bernal in den 1950er-Jahren:
Es war Liebig, der in seinen Arbeiten nachwies, welcher Art von Nahrung – Stickstoff, Phosphate und Salze – die Pflanzen dem Boden entnehmen. (…) Trotzdem war immer noch ein weiter Weg zum Verständnis der Funktionen dieser anorganischen Verbindungen im Organismus zurückzulegen.
Es ist eine Sache, die Eigenschaften (…) von Stoffen zu untersuchen, die aus einst lebendigen Quellen stammen, aber etwas ganz anderes, sie bei ihren Umwandlungen während des Stoffwechsels zu verfolgen. Aus diesem Grunde dauerte es auch so lange, bis aus der organischen Chemie die Biochemie entstand.
John Desmond Bernal "Science in History", London 1954 / Deutsche Ausgabe: "Wissenschaft", Hamburg 1970
Die biochemischen Grundlagen zum Verständnis der landwirtschaftlichen Fragen waren noch nicht bekannt, so dass keine fundierte Entscheidung zwischen den widerstreitenden "Schulen" getroffen werden konnte. So konnte Marx der Literatur zwar eindeutige Hinweise auf den destruktiven Charakter des kapitalistischen Umgangs mit dem Boden entnehmen, jedoch wenig Unumstrittenes über deren genaue Verlaufsformen.
Insofern hätte Marx hierzu auch nicht viel mehr als die wenigen Bemerkungen, die im von Engels herausgegebenen dritten Band enthalten sind, ins "Kapital" aufnehmen können.
Das beeinträchtigt jedoch keineswegs die Aktualität seiner Aussagen, denn vergleicht man es mit den heutigen Zuständen, sind neben der Auslaugung und Erosion der Böden noch weitere Missstände dazu gekommen – wie etwa Gifteinsatz auf den Äckern, Verdichtung der Böden, Zerstörung der Bodenfauna, genetische Verarmung der Nutztier- und Nutzpflanzensorten - also mit einem Wort: Es ist noch schlimmer geworden.
Beide Ausprägungen des Grundwiderspruchs liefern Ansatzpunkte für antikapitalistische Kämpfe: auf der einen Seite die Kämpfe der Arbeiterbewegung, die sich an Lohnfragen, Arbeitsbedingungen, sozialer Absicherung entzünden - auf der andern Seite Kämpfe gegen Umweltzerstörung, Verschmutzung, Artensterben, Flächenfraß und schließlich vor allem gegen den Klimawandel.
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