Maskenpflicht oder willkommen in der Irrationalität

Seite 2: Für eine Präzisierung des Verschwörungsbegriffs

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Der Linkenpolitiker Daniel Schwerd kritisiert in einer Kolumne in der Tageszeitung Neues Deutschland prägnant, dass das Rechts-Denken in der Corona-Krise wieder zunimmt. Er bezieht sich weitgehend auf die Kritiker der staatlichen Corona-Politik und er verwendet einen weit gefassten Begriff der Verschwörungstheorien.

Die Coronakrise befeuert den Markt der Verschwörungstheorien. Während sich ein Teil daran abarbeitet, die Existenz des Virus zu leugnen oder Corona im Reich harmloser Erkältungskrankheiten zu verorten, glaubt ein anderer Teil, die Urheber der Krankheit gefunden zu haben: wahlweise die USA, Russland, China oder Israel. Warum haben Menschen so eine Lust an Verschwörungen?

Daniel Schwerd, Neues Deutschland

Tatsächlich ist es ein verschwörungstheoretischer Ansatz, wenn behauptet wird, dass es das Corona-Virus gar nicht gibt oder dass es gezielt von irgendwelchen Staaten oder Eliten in die Welt gesetzt wird, um eine bestimmte Politik durchzusetzen. Dass mit einer solchen Welterklärung auch sehr häufig antisemitische und rassistische Vorstellungen verbunden sind, ist richtig.

Daher ist es auch verständlich, wenn die bei vielen Linken die Alarmglocken klingeln, wenn sich an den verschiedenen Kundgebungen von Gegnern der Corona-Politik Menschen beteiligen, die zumindest keine Probleme haben, auch mit "offenen Rechten" auf die Straße zu gehen.

Trotzdem ist es falsch, den Begriff Verschwörungstheoretiker zu weit zu ziehen. Er wird dadurch unscharf und beliebig. Zudem wird er von allen Seiten benutzt. Die Verteidiger der Corona-Politik der Regierung wenden ihn gegen die Kritiker und diese kehren den Vorwurf zurück.

Zudem werden oft noch ausländische Regierungen bzw. Agenturen dieser Regierungen für die Verbreitung dieser "Verschwörungstheorien" verantwortlich gemacht. In Deutschland wird dies vorzugsweise Russland vorgeworfen, aber auch Trump-Unterstützern in den USA.

Kritik des Irrationalismus

Sinnvoller wäre es, sich einen Begriff wieder anzueignen, der sowohl in der progressiven Phase des Bürgertums als auch in der linken Arbeiterbewegung verwendet wurde. Es handelt sich um die Kritik am "Irrationalismus" und am irrationalen Denken. Dafür könnte man auf Schriften des marxistischen Theoretikers und Philosophen Georg Lukacs verweisen, die allerdings nicht einfach zu lesen sind.

In der tradionalistischen Linken wurde schon vor der Corona-Krise verstärkt über irrationales Denken im Spätkapitalismus diskutiert. Doch gerade dieses Spektrum muss sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass in den nominalsozialistischen Systemen der Begriff Irrationalismus auch zum Kampfbegriff gegen dissidente Strömungen in Politik und Wissenschaft wurde.

Er hatte damit die Funktion, die heute der Begriff der Verschwörungstheorie gelegentlich annimmt. Dagegen steht ein Vorgehen in den ersten Jahren der Sowjetunion, in dem ein Streit über verschiedene Wissenschaftstheorien propagiert wurde. So setzte sich Lenin 1922 vehement dafür ein, dass mit dem russischen Physiker Arkadi Tirmrjasews ein erklärter Gegner der Relativitätstheorie von Einstein für die Mitarbeit für eine philosophische Zeitschrift gewonnen werden konnte, die in der jungen Sowjetunion herausgegeben wurde.

Dieser streitbare Materialismus ist das Gegenteil einer Herangehensweise, wo Positionen, die dem aktuellen Wissenschaftsparadigma widersprechen, ausgegrenzt werden.

Irrationalismus bei Gegnern und Befürwortern der Corona-Politik

Es sollte an eine linke Diskussion angeknüpft werden, die diese Denkform aus der Irrationalität der kapitalistischen Verhältnisse erklärt. Gerade in einer Zeit, in der nicht nur in der Coronakrise deutlich wird, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht überlebensfähig ist, aber es nicht gelingt, dass ein emanzipatorisches Modell hegemonial wird, dominiert der Irrationalismus.

Aktuell in der Corona-Krise wird das auf beiden Seiten deutlich. Die offizielle Corona-Politik ist ebenso davon geprägt, wie allein das Beispiel der Masken zeigt, die noch vor wenigen Wochen als unwirksam und nun zur Staatspolitik wurde.

Wie stark irrationales Denken auch bei den Gegnern der Corona-Politik verbreitet ist, zeigte sich darin, dass dort öffentlichkeitswirksam für eine Welt ohne Corona meditiert wird.

Ebenfalls irrational ist es, wenn die Forderung nach Abgrenzung von bekannten Personen der organisierten Rechten mit der Begründung abgelehnt wird: "Ich habe ihm in die Augen geschaut und gespürt, dass er zu uns gehört."

Solche Argumente kamen gleich von mehreren der Menschen, die in den letzten Wochen am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz gegen die offizielle Corona-Politik demonstrieren.

Gefühl statt Politik und Denunzierung von theoretischer Praxis sind seit jeher ein Kennzeichen des Irrationalismus. Das ist aber auch das Kennzeichen auch der offiziellen Politik seit mehreren Jahrzehnten. Theoretische Erkenntnisse aus der progressiven Phase des Bürgertums, die von der Arbeiterbewegung übernommen wurden, werden ignoriert oder als für heute irrational abgetan.

Der grassierende Irrationalismus ist dann die logische Folge und sie entspringt der Ausweglosigkeit des Spätkapitalismus.