Der Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg über Probleme im Journalismus, "ethische Unfälle" und Berichterstattung in einer Filterblase
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Über Jahrzehnte haben Medien vieles richtig gemacht, doch dann fiel plötzlich die Medienkritik vom Himmel und Bürger skandierten auf den Straßen gemeinsam: "Lügenpresse!" Wer das tatsächlich glaubt, hat nichts verstanden.
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Der Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg hat sich in seinem gerade veröffentlichten Buch "Medienkrise und Medienkrieg" intensiv mit den Verwerfungen im journalistischen Feld und den Medien auseinandergesetzt. Sein Befund ist eindeutig: Die Probleme, die heute von zahlreichen Medienkritikern angeprangert werden, existieren schon lange.
Unaufgeregt und präzise zeigt Weischenberg auf, welche Schieflagen in der Berichterstattung schon seit vielen Jahren zu beobachten sind. Damit hilft er, eine mehr als angebrachte Medienkritik, die bisweilen von vielen Emotionen geprägt ist, zu versachlichen.
Herr Weischenberg, in Ihrem Buch gibt es eine zentrale These: Die Medienkritik, die wir derzeit erleben, ist nicht vom Himmel gefallen. Woher kommt die Medienkritik denn?
Siegfried Weischenberg: Medienkritik gibt es, seit es den modernen Journalismus gibt. Durch das Internet und speziell die Sozialen Medien verfügt sie freilich über einen viel stärkeren Resonanzboden als früher. Ein zentraler Faktor dieser Medienkritik ist der Glaubwürdigkeitsverlust; man vertraut der Berichterstattung weniger denn je. Dazu gibt es zum Beispiel den in der Tat alarmierenden Befragungs-Befund, dass fast zwei Drittel der Deutschen Journalisten für manipulativ halten.
Sie beziehen sich dabei auf eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2010, also einer Zeit, in der noch nicht Lügenpresse auf der Straße gerufen wurde.
Siegfried Weischenberg: Womöglich würde ein aktuellerer Befund hier noch deutlicher ausfallen. Befragungen aus der jüngsten Vergangenheit zeigen jedenfalls, dass insbesondere das Vertrauen in die politische Berichterstattung noch weiter gesunken ist. Das Publikum ist hier gespalten: Großes Vertrauen und tiefe Enttäuschung halten sich - jedenfalls bei den politisch Interessierten - in etwa die Waage.
Dies alles ist aber nur das vorläufige Ende einer Entwicklung, die schon in den 1970er Jahren eingesetzt hat. In den zwei Jahrzehnten danach verlor das bis dahin als überaus glaubwürdig geltende Medium Fernsehen (in Westdeutschland) mehr als die Hälfte der Leute, die zuvor geglaubt hatten, es berichte "wahrheitsgetreu". Diese Entwicklung korrespondierte mit der in den USA: Immer mehr Menschen misstrauten dort seit den 1990er Jahren den Journalisten oder hassten sie sogar - deutlich mehr als im Jahrzehnt davor.
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Ethische Unfälle
Können Sie für unsere Leser die Probleme in den Medien, die schon seit vielen Jahren bestehen, stichpunktartig anführen?
Siegfried Weischenberg: Probleme in den Medien und mit den Medien betreffen die Inhalte und die Strukturen. Gravierend waren insbesondere "ethische Unfälle" wie z. B. seit Ende der 1980er Jahre die Barschel- und die Gladbecker Geiselaffäre, Geschmacklosigkeiten der Darstellung nach Flugzeugabstürzen (Concorde, Ramstein) sowie Fälschungen (Born, Kummer). Des Weiteren gab es zum Beispiel die Kreierung von Pseudo-Promis (Feldbusch, Elvers) und völlig falsche Gewichtungen von Relevanz wie bei der Entscheidung, einen harmlosen Verkehrsunfall wie den des "Superstars" Küblböck zur Tagessschau-Nachricht zu machen.
Sie führen hier eine "Berichterstattung" an, die man als unterirdisch bezeichnen kann.
Siegfried Weischenberg: Man könnte noch diverse andere Beispiele nennen, aus denen seit Jahren die Tendenz zur Boulevardisierung - übrigens auch in sonst als seriös geltenden Medien - deutlich wird. Auf diese Weise wird das Publikum chronisch unterschätzt. Doch die Menschen sind nicht so doof, dass ihnen "Doof-Berichterstattung" (ein Begriff der "heute-show") nicht auffällt. Bemerkenswerter Weise fordern viele von ihnen in den Foren und Kommentar-Bereichen der Online-Medien hartnäckig "Objektive Berichterstattung" - was auch immer sie darunter verstehen.
In den vergangenen Jahren haben dann Fehlleistungen wie die Verrenkungen von "Alpha-Journalisten" bei der Bundestagswahl 2005, fehlende Sensibilität bei der Finanzkrise 2008 und später bei der "Wulff-Affäre" und schließlich beim Germanwings-Absturz für Verstörungen gesorgt, weil so die alten Fehler aktualisiert wurden.
Und so hat sich dann die Wut von so manchem Mediennutzer auf die Medien über einen langen Zeitraum aufgebaut?
Siegfried Weischenberg: Davon ist auch angesichts der vorliegenden Langzeit-Beobachtungen zur Mediennutzung und Medienbewertung auszugehen. Unter den Fundamentalkritikern gibt es natürlich auch eine Menge Leute, die sich schon empören, wenn jemand eine andere Meinung vertritt als sie selbst. Für die sind alle Nachrichten, die ihnen nicht in den Kram passen, "Fake News".
Wie sieht es denn mit den ökonomischen Verwerfungen innerhalb der Medien aus?
Siegfried Weischenberg: Die sind wesentlicher Teil des Problems. Das "Jahrhundert des Journalismus" ist insofern vorbei, als das alte Geschäftsmodell jedenfalls der Printmedien, sich vor allem durch Reklame zu finanzieren, nicht mehr so trägt wie früher. Die ökonomischen Verwerfungen haben dann zu erheblichen Einsparungen im redaktionellen Bereich und damit zu einem Qualitätsverlust der Berichterstattung geführt.
Zudem gibt es das generelle Problem, dass die soziale Zusammensetzung der Journalistengruppe (Männer/Frauen, Deutsche/Personen mit Migrationshintergrund, Schichten-Rekrutierung) weit entfernt ist von den Verhältnissen in der Gesamtbevölkerung. Und da passiert es dann, dass dieser "Mainstream" nicht mitkriegt, wenn er die Wirklichkeit - zum Beispiel bei einem so heiklen Thema wie "Flüchtlinge" oder früher "Hartz 4" - ganz anders wahrnimmt als beispielsweise von den Folgen direkt Betroffene.
"Journalisten haben vor allem Journalisten als Freunde und braten im eigenen Saft"
Gehen wir doch einmal näher auf den Punkt der sozialen Zusammensetzung ein. Stimmen Sie der Aussage zu: Wir haben es mit einem sozial geschlossenen journalistischen Feld zu tun?
Siegfried Weischenberg: Das ist sicher so, aber ich füge gleich hinzu, dass sich diese Zusammensetzung quasi zwangsläufig daraus ergibt, dass es sich beim Journalismus (aus guten Gründen) um einen qualifizierten Beruf handelt, der bestimmte Bildungs- und Kompetenzanforderungen voraussetzt oder zumindest voraussetzen sollte.
Bei unseren Studien zum "Journalismus in Deutschland" haben wir - und das überraschte nur wenig - bestätigt bekommen, dass sich Journalistinnen und Journalisten vorwiegend aus der Mittelschicht rekrutieren. Das ist genauso bei vergleichbaren anderen Berufen - und das ist, soweit ich weiß, auch im Journalismus anderer Länder nicht anders; dies gilt insbesondere auch für die USA. Hier stellen sich Probleme der Repräsentanz und Chancengleichheit, die weit über den Journalismus hinausweisen.
Wir wollten eigentlich über Ihr neues Buch sprechen, aber mir erscheint es sinnvoll, auf Ihre sehr grundlegende Studie "Die Souffleure der Mediengesellschaft: Report über die Journalisten in Deutschland" aus dem Jahr 2006 einzugehen, da die Probleme, die Sie damals bereits sichtbar gemacht haben, auch heute noch vorhanden sind. Sagen Sie bitte unseren Lesern kurz: Was haben Sie damals herausgefunden?
Siegfried Weischenberg: Zu den zentralen Befunden der von Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Studie, die ich zusammen mit Maja Malik und Armin Scholl durchgeführt habe, gehörte neben der Mittelschicht-Rekrutierung die erneute Bestätigung einer - laut Angaben der Befragten - generell eher linksliberalen politischen Orientierung der Journalisten und eines höheren Frauenanteils gegenüber den Verhältnissen in den 1990er Jahren (allerdings weitgehend ohne Einfluss auf die Hierarchie-Situation in den Medien); die eingeforderte "Objektive Berichterstattung" wurde von den Journalistinnen und Journalisten durchweg als primäres Ziel ihrer Arbeit bezeichnet.
Frappierend waren insbesondere die Befunde zur Selbstreferenz der Medien und ihrer Journalisten: Medien beobachten Medien und beziehen sich auf Medien; Journalisten haben vor allem Journalisten als Freunde, braten im eigenen Saft. Heute würde man in diesem Zusammenhang die Begriffe "Filterblasen" und "Echokammern" verwenden. Man könnte das als "natürlichen Algorithmus" bezeichnen. Und hier scheinen mir die einflussreichen "Alphajournalisten" besonders gefährdet zu sein.
Nun sind einige Jahre vergangen. Auch wenn es keine aktuellen Daten gibt, was meinen Sie, wie dürfte die Situation heute sein?
Siegfried Weischenberg: Schon kurz nach dem Vorliegen unserer Daten (leider konnte die Studie bisher nicht mehr repliziert werden) bot - bei der Bundestagswahl 2005 - die Journalisten-Elite weitere Belege für Kumpanei, als sie, wie abgesprochen, auf neoliberalen Pfaden unterwegs war. Sie seien "aus der Rolle gefallen", warfen ihnen danach sogar Berufsvertreter wie der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo vor.
Seither sind wir alle - und insbesondere auch die Journalisten - immer mehr von den Sozialen Medien erfasst worden. Inzwischen befreunden sich immer mehr Journalisten, so hört man, bei Facebook mit wichtigen Menschen, und sie tun das natürlich auch untereinander. Man muss deshalb vermuten, dass sich die Kollegenorientierung allein aufgrund der technischen Möglichkeiten weiter verstärkt hat.
"Medien kontrollieren bisweilen sehr eigene und sogar eigenwillige Wirklichkeiten"
Was bedeutet es denn, wenn die Akteure innerhalb des journalistischen Feldes hauptsächlich aus einer sozialen Schicht kommen?
Siegfried Weischenberg: Zweifellos bedeutet dies eine Begrenzung der Beobachtungsperspektive. Dies in Tateinheit mit dem Faktor "Selbstreferenz" liefert gute Gründe für den Vorwurf, dass die Medien bisweilen sehr eigene und sogar eigenwillige Wirklichkeiten konstruieren, dass ihre blinden Flecken zu groß sind. Dieser Befund ist sehr eindeutig - und er führt (das hat lange gedauert) inzwischen auch in den Medien selbst zur Nachdenklichkeit und zur intensiven Beschäftigung mit dem Problem der "Repräsentanz". Aber hier Lösungen zu finden, ist nicht so einfach.
Sind wir hier am Kern eines der großen Probleme, die es im Journalismus gibt, angekommen? Wie soll Journalismus eine echte Perspektivenvielfalt abbilden, wenn - ich spitze jetzt etwas zu - quasi alle Journalisten durch eine sehr ähnliche Brille ihrer Sozialisation blicken? Und: Derzeit werfen Vertreter großer Medien ganz gerne so manchem Internetnutzer vor, seine Auffassung von der Wirklichkeit basiere auf den Wahrnehmungen in einer Filterblase. Wie groß ist die Gefahr, dass ein sehr homogen zusammengesetztes journalistisches Feld selbst zu einer Filterblase wird?
Siegfried Weischenberg: Dies ist nicht nur eine Gefahr, sondern im Lichte unserer Erkenntnisse eine Tatsache. Im Übrigen gibt es das Problem der "Filterblase", in der viele Menschen leben, im Grunde schon, seit Kabel- und Satelliten-TV mit Hunderten von Kanälen und Tausenden von speziellen Programmen aufwarten können und seit es an den Kiosken für jedes seltsame Hobby diverse Zeitschriften gibt. Wer will, kann schon seit langem in einer völlig eigenen Medienwelt leben - und das große Ganze der Zeitläufte außen vor lassen.
Aber natürlich droht durch die Soziale Medien die gesellschaftliche Kohäsion, soweit Medien daran beteiligt sind, vollständig verloren zu gehen; die wissenschaftlichen Befunde hierzu sind allerdings nicht eindeutig.
Barbara Hans, die Chefredakteurin von Spiegel Online hat in einem bemerkenswerten Beitrag das Problem Journalismus und Filterblasen angesprochen. Sie schreibt: "Die vergangenen Monate haben uns gezeigt, dass wir uns entfernt haben von unseren Lesern. Dass unsere Wahrnehmung eingeschränkt ist. Unsere blinden Flecken sind zu groß geworden. Wir haben uns geirrt, und alle haben es mitbekommen. Wir halten den Nutzern ihre Filterblasen vor. Und verkennen unsere eigenen." Wie lassen sich denn die Filterblasen im journalistischen Feld zum Platzen bringen?
Siegfried Weischenberg: Der Ansatz, durch mehr Vielfalt bei der Zusammensetzung von Redaktionen Vertrauen in die Berichterstattung zurückzugewinnen, ist prinzipiell gewiss richtig. So ist die Forderung, nicht nur mehr Frauen in den Journalismus zu holen, sondern ihnen auch verstärkt redaktionelle Verantwortung zu übertragen, von mir und anderen schon vor vielen Jahren erhoben worden. Hier hat sich (gerade auch beim Spiegel) einiges verbessert, aber es bleibt noch viel zu tun. Dasselbe gilt für die Repräsentanz von Menschen mit "Migrationshintergrund".
Insgesamt ist die Rekrutierung des Personals im Journalismus immer noch allenfalls semiprofessionell: Chefs holen immer noch am liebsten Mitarbeiter, die so ähnlich sind, wie sie selber. Grundsätzlich halte ich das "Backstage-Projekt" von Spiegel Online, in dessen Rahmen der Beitrag erschienen ist, für interessant - und offenbar stößt es, so zeigen die Kommentare, bei einem Teil der Leserinnen und Leser auch auf Wohlwollen.
Das Problem scheint mir: In Sonntagsreden weiß jeder irgendwie immer, was richtig und falsch ist, was man tun müsste, um einen Missstand zu beheben. Und dann erntet man viel Beifall für die wohlgesetzten Worte, aber diese sind selten von langer Lebensdauer. Spätestens in der Realität zeigt sich dann das Gegenteil von dem, was in den Sonntagsreden gesagt wird.
Um den Gedanken mal konkret zu machen ein konstruiertes Beispiel: Nehmen wir eine Person, sagen wir, sie ist 35 Jahre alt, männlich. Sie hat nach der Mittleren Reife eine Ausbildung zum Mechatroniker gemacht, mehrere Jahre in dem Beruf gearbeitet, dann auf einer Abendschule das Abitur nachgeholt, ein politikwissenschaftliches Studium absolviert, während des Studiums als freier Mitarbeiter bei einer Lokalzeitung praktische journalistische Erfahrung gesammelt und schließlich zwei, drei Jahre als Autor für eine linke Tageszeitung gearbeitet.
Nun möchte diese Person sich bei einem der Leitmedien um ein Volontariat bewerben. Ihre Chance, ein "Volo" dort zu erhalten, dürften bei null liegen. Zu alt, eine zu krumme Biographie, dann auch noch vermutlich politisch nicht "auf Linie". So sieht die Realität aus. Oder?
Siegfried Weischenberg: Ich habe in meinem Buch ausführlich eine hübsche Glosse zur Rekrutierung von redaktionellem Personal im Internetzeitalter zitiert, die zu Beginn des Millenniums in der SZ erschienen war. Sie hieß "Border Online" und wirkt immer noch sehr aktuell. Ihr Thema ist, dass heutzutage jemand nur irgendwas Digitales gemacht haben muss, und schon kriegt er einen Job im Journalismus - auch, wenn er nicht einmal weiß, was "recherchieren" ist.
Hier scheinen mir aktuell die größten Gefahren der Rekrutierung zu liegen: Technische Fertigkeit dominiert gegenüber Funktionsbewusstsein und Sachkompetenz. Ansonsten zahlen wir - abgesehen davon, dass der Personalauswahl zu häufig unklare Kriterien zugrunde liegen - einen Preis für den verfassungsrechtlich gebotenen "offenen Berufszugang". Tatsächlich kann in Deutschland Jeder und Jede Journalist werden, und dabei geht es oft sehr ungerecht zu. Da der Beruf trotz aller Warnungen und negativen Nachrichten offenbar an Attraktion nicht verloren hat, gibt es außerdem viel mehr Kandidaten als Stellen. In den USA sorgt immerhin der Weg über die vielen durchweg praxisorientierten, ähnlich ausgerichteten Journalism Schools für gewisse Formen von Regulierung.
Verstehe ich das richtig: Sie halten es für problematisch, dass es in Deutschland einen "offenen Zugang" zum Beruf des Journalisten gibt.
Siegfried Weischenberg: Der offene Berufszugang wirft Probleme auf, die zum Beispiel auch das Image von Journalisten betreffen. Anders als bei "Professionen" wie z. B. Ärzten können sich die Leute, die Berufsprestige zuweisen, hier auf keinerlei formalisierte Kompetenzkontrolle verlassen. Doch dafür gibt es in der Logik des Artikels 5 - insbesondere nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus mit dem "Schriftleitergesetz - auch gute Gründe. Zudem wirkt das Beispiel Italien - wo es in der Tradition des Faschismus immer noch ein "Berufsregister" gibt, ein singulärer Fall - nicht gerade aufmunternd, wenn man über Veränderungen nachdenkt.
Immerhin: Die Bereitschaft zur Selbstkritik in den Medien scheint gewachsen zu sein, oder?
Siegfried Weischenberg: Ja, es ist nicht zu übersehen, dass - etwa seit Mitte der "Nullerjahre" - die Bereitschaft der Journalisten zur (auch: öffentlichen) Fehlerdebatte und Selbstkritik zugenommen hat. Manchmal hat diese Selbstkritik sogar schon fast etwas Masochistisches, während Medienkritik früher nicht ernst genommen und Krisensymptome nicht wahrgenommen wurden. Man lässt sich auch viel stärker als früher auf das Publikum und seine Reaktionen ein.
Dies ist natürlich vor allem das Verdienst der neuen Feedback-Möglichkeiten, welche das Internet schafft. Durch "Interaktivität" hofft man nun, die Leute "bei der Stange" zu halten, damit die ökonomische Basis nicht noch mehr wegbricht. Die ansonsten zur Krisenbewältigung präsentierten Rezepte halte ich aber zum Teil für untauglich. So glauben einige zum Beispiel, mit Hilfe des Internet (Stichwort "Multimedia") einen völlig neuen Journalismus kreieren zu können, der besonders "sexy" daher kommt und die Leute vor allem: unterhält. Das hat schon beim "Zeitgeist-Journalismus" früherer Tage auf Dauer nicht funktioniert.
Derzeit ist auch viel von einem "Storytelling" die Rede.
Siegfried Weischenberg: Ja, darauf setzen gerade alle, doch ich glaube, die Basis des Journalismus ist und bleibt die sauber recherchierte und verständlich präsentierte Nachricht - und nicht die knackige Geschichte. Auch das, was ich "Ich-Journalismus" nenne, das Hochjubeln (vor allem von TV-) Journalisten zu Stars, zu "Marken", wird meines Erachtens auf Dauer nicht funktionieren.
Kurios ist: Das Publikum bleibt heute anonym, versteckt sich hinter Nicknames, während die journalistischen Akteure immer mehr Persönliches preisgeben. Damit handeln sie sich wohl eher emotionale Reaktionen in den Sozialen Medien ein, die zum Teil verletzend sind. Und Social Media - insbesondere Facebook und Twitter - als enge Partner zu gewinnen, führt eher dazu, dass man von ihnen gefressen wird und der eigenen Marke schadet.
"Manchmal müssen sich Journalisten 'mit einer guten Sache' gemein machen"
Lassen Sie uns nun näher auf Ihr aktuelles Buch eingehen. Es heißt Medienkrise und Medienkrieg. Warum dieser Titel?
Siegfried Weischenberg: Ich dachte, dass er selbst erklärend ist. So etwas wie "Lügenpresse" kam nicht in Frage, denn dieses Etikett beschreibt ja nur in polemischer Weise die Oberfläche (und zum Glück scheint der Begriff allmählich schon wieder zu verschwinden). "Medienkrise" ist das, was - ökonomisch, aber auch in Hinblick auf den öffentlichen Diskurs - die Existenz des Journalismus seit langem gefährdet.
Ihr Ziel war es also ...
Siegfried Weischenberg: ... die Ursachen für diese Medienkrise zu rekonstruieren und dabei deutlich zu machen, welche Funktion Journalismus hat und vor allem: Was man von ihm erwarten kann und was nicht. Dies kann auch als Diskursangebot für Leute verstanden werden, die inzwischen voller Empörung auf die Berichterstattung reagieren, und zwar auch deshalb, weil sie vielleicht überzogene Erwartungen haben.
"Wutbürger", die inzwischen Krieg gegen die Medien führen und Journalisten mit Beschimpfungen einschüchtern, wird man auf diese Weise zwar nicht erreichen können. Der "Fall Trump" und im Zusammenhang damit der aktuelle Quoten- und Auflagenerfolg anspruchsvoller Medien in den USA zeigt freilich, dass es wieder mehr Leute gibt, welche die Leistungen des professionellen Journalismus zu schätzen wissen.
Wie meinen Sie das?
Siegfried Weischenberg: Seit uns Trump vorführt, dass er ernst macht mit dem, was er im Wahlkampf angekündigt hatte, beziehen Moderatoren und Reporter wie Wolf Blitzer, Christiane Amanpour, Don Lemon oder Chris Cuomo von CNN sowie Redakteure von New York Times und Washington Post deutlich Stellung. Trump hasst deshalb diese Medien am Meisten. Ihre besten Leute glänzen im Moment als Vorbilder - auch für Journalisten in anderen Ländern. Manchmal müssen sich Journalisten wohl doch "mit einer guten Sache gemein machen". Der Kampf gegen einen Politiker, der alle Grenzen überschreitet, gehört für meine Begriffe dazu.
In Ihrem Buch gibt es ein Kapitel mit der Überschrift: "Wie Medienkriege Journalismus vorführen". Wie führen Medienkriege den Journalismus denn vor?
Siegfried Weischenberg: "Medienkrieg" im Titel meines Buchs zielt primär auf den "Krieg gegen die Medien", der von bestimmter Seite geführt wird. In dem angesprochenen Kapitel geht es um die Darstellung von "Krieg in den Medien", also Kriegsberichterstattung, und zwar konkret am Beispiel der beiden Irak-Kriege, die Vater und Sohn Bush geführt haben. Da wurde der Journalismus insofern vorgeführt, als es nicht einmal in Ansätzen die Chance für unabhängige Beobachtungen gab. Wir erfuhren nicht, was der Fall war, sondern wurden zum Opfer äußerst eigenwilliger Wirklichkeitskonstruktionen.
Ich habe diese Beispiele gewählt, um am Extrem zu zeigen, wie die "Wirklichkeit der Medien" oft zustande kommt. "Alternative Fakten" sind, so zeigen (auch) diese Fälle, kein neues Phänomen; George W. Bush präsentierte sie bekanntlich, als er mit Hilfe von erfundenen "Massenvernichtungswaffen" das Regime des Saddam Hussein vernichten wollte. Sein Nach-Nachfolger Trump ist auf diesem Gebiet freilich ein Meister aller Klassen - und das schon seit Jahrzehnten.
Wagen Sie doch bitte mal einen Ausblick: Wie wird es mit dem Journalismus weitergehen?
Siegfried Weischenberg: Zu den Paradoxien gehört ja in diesen Wochen, dass Trumps "War against the media" dem Journalismus - jedenfalls in den USA - zu neuem Schwung verhilft. Und die besten Nachrichtenmedien und ihre Journalisten machen ja auch wirklich einen guten Job.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir einen solchen qualifizierten Journalismus auch in Zukunft brauchen, und dass ein großer Teil der Bevölkerung dessen Qualität auch zu schätzen weiß. Wir brauchen weiter eine Instanz, die Orientierung bietet - insbesondere gegen solche Personen und Institutionen, die glauben, uns jeden Bullshit andrehen zu können. Doch um diese Zukunftssicherung müssen wir uns wohl alle kümmern und dafür auch zu Investitionen bereit sein. Dabei geht es insbesondere um eine sichere ökonomische Basis für die Medien, aber auch um eine qualifizierte Ausbildung der journalistischen Akteure.
Auf die Politiker können wir dabei wohl nicht so sehr zählen, denn sie scheinen sich zunehmend in den Gedanken zu verlieben, dass Kommunikationsverhältnisse, bei denen der Filter durch ungeliebte Medien wegfällt, ihnen und ihrer Karriere zu Gute kommt. Aber dies ist ein Irrtum.
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