Medien schaffen Tatsachen: Wie der Gaza-Krieg einseitig dargestellt wird
Medien ergreifen im Gaza-Krieg Partei: Darstellungen einer Kriegspartei werden leitmedial als Tatsachen präsentiert. Wie das geschieht und was das bedeutet.
Die App der ARD-Tagesschau meldete dieser Tage zur aktuellen Eskalation im Nahost-Krieg:
Laut der Hilfsorganisation Roter Halbmond sollen bei einen (sic!) Angriff auf Zelte geflüchteter Zivilisten in Rafah mindestens 22 Menschen gestorben (sic!) sein. Israel bestätigt Luftangriffe auf Hamas-Terroristen in Rafah.
Da sich die zitierte Stelle im Netz bei der Tagesschau im Netz nicht mehr finden lässt, hier der entsprechende Screenshot eingefügt, mit dortigem Stand vom 27.5.2024, 01:02 Uhr.
Es fällt auf, dass mit den beiden Kriegsparteien sehr unterschiedlich umgegangen wird, was das grundlegende journalistische Handwerk angeht. Dabei sei hier abgesehen von banalen Schreibfehlern und auch von inhaltlichen Fragen wie jener, warum diese Menschen an der Stelle einfach so "gestorben" sein sollten und nicht tatsächlich "getötet" wurden, von anderen Menschen und mit Waffen in diesem Krieg.
Die Perspektive der Hilfsorganisation "Roter Halbmond" wird von der Redaktion von ARD-aktuell in Hamburg relativ korrekt vermittelt: Mit Quellenangabe und damit ausdrücklichem Bezug auf jene Organisation und zudem mit der Wiedergabe einer realen Möglichkeit durch ein Modalverb: Die Opfer "sollen" bei jenem Angriff ums Leben gekommen sein.
Warum aber scheinen diese basalen Normen journalistischer Arbeit nicht zu gelten, gerade wenn es um die Sichtweise einer Kriegspartei geht, in diesem Falle um die der politischen und militärischen Führung von Israel? Dort wird das positiv konnotierte Verb "bestätigen" verwendet (wer sieht sich nicht gerne bestätigt?), und es wird ohne nähere Quellenangabe oder entsprechendes Zitieren diese offizielle Perspektive übernommen und damit direkt in den Rang einer unbestreitbaren Tatsache erhoben, in etwa wie: "Derzeit läuft das Jahr 2024". Die berichteten Angriffe galten Hamas-Terroristen. Punkt. Dazu kann es offenbar keinerlei Fragen und auch keine zwei Meinungen geben.
Dieses Beispiel kann und soll natürlich nicht belegen, dass im Falle des Bezuges auf offizielle israelische Quellen nie dieser Rahmen explizit erwähnt würde in wichtigen Medien hierzulande. Aber es kann beobachtet werden, dass das Nichterwähnen doch vergleichsweise häufig geschieht. Womöglich gerade in Zeiten besonderer Zuspitzung jenes Krieges wie hier aus Anlass dieser Angriffe auf Menschen in Zelten nördlich der palästinensischen Stadt Rafah.
Zwei weitere Beispiele zu diesem Thema:
Bei ZDF-Heute hieß es aus gleichem Anlass:
Israels Militär führt weiterhin eine Offensive gegen dort versteckte Kämpfer der Hamas durch.
Dort steht wiederum nicht: "Israels Militär führt nach eigenen Angaben weiterhin eine Offensive (…)" oder Ähnliches. Auch hier als Beleg ein Screenshot eingefügt.
Diese Erscheinungen lassen sich als ein Muster der Rahmensetzung rekonstruieren, also als Framing, das den Interpretationshorizont und den Meinungskorridor zum Thema zumindest mitbestimmt.
Im Sinne von Definitionsmacht und Deutungshoheit: Der auf Staatsebene verbündeten Kriegspartei, hier also der Führung des Staates Israel, möge nicht nur politisch, sondern auch in vieler Hinsicht medial und damit öffentlich sowie insgesamt in der Gesellschaft vertraut werden.
Diese Perspektive soll offenbar hohe Glaubwürdigkeit genießen. In diesem Sinne auch der aktuelle Tenor in einem weiteren öffentlich-rechtlichen Medium, beim rbb; auch hier als Beleg der entsprechende Screenshot.
"Israel bombardiert Stellungen der Hamas aus der Luft und geht mit einer Bodenoffensive gegen die Hamas vor"
Auch hier keinerlei Quellenangabe und damit keinerlei journalistisch-professionelle Kontextualisierung. Die behaupteten Sätze wären so jedem vernünftigen Zweifel entzogen, in etwa derart deutlich, wie die Erde eben keine Scheibengestalt hat, sondern wie eine Kugel aussieht.
Dabei sollten im Journalismus tätige Medienschaffende wissen, dass – wie es u.a. Michael Haller verschiedentlich forderte – Versionen immer als solche gekennzeichnet werden sollten, also als ausgewählte Sichtweisen interessierter Instanzen. Um dem Publikum informationelle Einordnung und eigenständige Meinungsbildung überhaupt erst zu ermöglichen.