Mehr Asylanträge in Deutschland und in der EU
Knapp über 100.000 wurden hierzulande in den ersten drei Quartalen gestellt. Besonders viele Asylsuchende kommen aus Syrien
Die Zahl ist hoch. "Mehr als 100.000 Asyl-Erstanträge" hat die Welt am Sonntag heute als Aufmacher. Die findigen Journalisten der Springer-Zeitung haben als erste die Statistik des Bamf von Ende September entdeckt. Heute wird die Meldung von mehreren Medien übernommen. Auf Twitter sorgt sie genretypisch für besonders herausgemeißelte Empörung. Unter #migration wird festgestellt, dass der Klimaschutz ein "Peanutproblem" gegenüber zuviel falscher Migration sei.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) weist in seiner Antrags-, Entscheidungs- und Bestandsstatistik für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis 30.09.2021 insgesamt 100.278 Erstanträge auf Asyl und 31.454 Folgeanträge.
Das sind 35,2 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, informiert die dpa. Erklärt wird, dass die Zahlen von 2016 bis 2020 stetig gesunken waren. Im vergangenen Jahr spielten Grenzschließungen und Einstellungen des Reiseverkehrs eine Rolle. Nimmt man die Gesamtzahl der Anträge, also Erstanträge plus Folgeanträge zum Vergleichsmaßstab zum Vorjahr, so ergibt sich eine bemerkenswerte Zunahme von 52,9 Prozent. Das ist schon eine Zahl zum Nachdenken.
Lukaschenko
Der Bericht der WamS in der Printausgabe stellt dazu einerseits eine Kontinuität heraus - das neunte Jahr in Folge über der 100.000er Marke - und rückt eine neue Route in den Vordergrund: die über Belarus. Sie wird auch von anderen Zeitungen als eine Art Racheakt von Lukaschenko an die EU dargestellt. Der Machthaber in Minsk lasse Flüchtlinge in sein Land kommen, um sie "dann an die Grenze zu Polen zu bringen".
"Achtzig Prozent von ihnen übertreten die Grenze nach Brandenburg, die anderen verteilen sich auf Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern", berichtet die FAZ. Das Land Brandenburg rechne im Oktober mit 3.000 Flüchtlingen. Die Welt am Sonntag steuert eine Aussage der Bundespolizei bei, wonach seit August allein an der deutsch-polnischen Grenze 4.900 Personen festgestellt worden seien, "die über Belarus und Polen unerlaubt nach Deutschland eingereist waren". Die Tendenz sei weiterhin steigend.
Neu sei nach Aussagen aus Europol-Kreisen, dass eine Privatairline nun direkte Charterflüge von Damaskus nach Minsk anbiete.
Syrien und Afghanistan
Wer sich in der Bamf-Statistik zeigt, ist Syrien das Land, aus dem mit Abstand die meisten Asylsuchenden kommen. 40.472 Erstanträge und 14.886 Folgeanträge stammen aus der Arabischen Republik Syrien.
Aus Afghanistan, dem Land mit der zweithöchsten Zahl an Asylerstanträgen, werden 15.045 Erst- und 3.599 Folgeanträge im Zeitraum von Anfang Januar bis Ende September gemeldet. Die Tendenz soll, wenig verwunderlich nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August, auch hier steigen. "Allein Menschen aus Afghanistan hätten seit August in der EU etwa 10 000 Asylanträge gestellt", heißt es in der SZ.
Was die Asylanträge in Deutschland betrifft, so kommt an dritter Stelle der Irak, dessen politische Verhältnisse, auch nach den kürzlich abgehaltenen Wahlen, hierzulande nur auf wenig Aufmerksamkeit treffen, mit 8.531 Erst- und 897 Folgeanträgen.
Der Fall Syrien
Das ist ein deutlicher Abstand. Verfolgt man die Vorgänge in Syrien über den Beobachter Ehsani 2, der täglich eine Art Twitter-Polaroid beisteuert, so erfährt man zum einen, dass es Mitglieder der syrischen Herrscherfamilie im Ausland nicht schlecht gehen muss und dass die Lebensbedingungen in Syrien derart sind, dass erstens kaum jemand zurückkehren will, weil das Leben anderswo besser ist, und dass es zweitens besser erscheint, wenn möglich, das Land zu verlassen.
So könnte man politisch auch darüber nachdenken, ob sich denn die Lebensbedingungen in Syrien verbessern ließen.
Allerdings sieht es danach aus, dass sich der Westen auf die Politik versteift hat, keine "Normalisierung" mit Baschar al-Assad zu betreiben, sondern, wie es US-Außenminister Blinken neuerdings bekräftigt hat, die Sanktionen beizubehalten und damit den Wiederaufbau des Landes möglichst zu erschweren.
"Die Vereinigten Staaten haben keine einzige Sanktion gegen Syrien aufgehoben oder ihre Position geändert, sich gegen den Wiederaufbau Syriens zu stellen, solange es keine unumkehrbaren Fortschritte auf dem Weg zu einer politischen Lösung gibt, die wir für notwendig und unerlässlich halten", wird Blinken zitiert - ohne jeden konkreten Hinweis darauf, was sich die US-Regierung unter einem Fortschritt vorstellt. Gewiss ist nur, dass dies die Vorgabe für die europäischen Länder ist, die die Migration aus Syrien auffangen.
Nun gibt es gute Gründe, der syrischen Herrscherfamilie autoritäre und brutale Machtausübung vorzuwerfen. Das wird, wie im Fall der Rückkehr von Onkel Rifat al-Assad ersichtlich, der wahrlich eine blutige Geschichte der Aufstandsbekämpfung hinter sich hat, auch von Seiten berichtet, die nichts am Hut haben mit der "Propaganda des westlichen Mainstreams" (siehe dazu etwa Angry Arabs Hintergrundbericht). Gleichwohl eine Änderung der Verhältnisse in Syrien ist real wohl nur über Verhandlungen mit Assad möglich. Diesem Ansatz nähern sich gerade Ländern in der Region an.
Erdogan als Partner für Flüchtlingsdeals
Das Elend in Syrien allein an der Politik von Baschar al-Assad festzumachen und dabei die Rolle der Sanktionen der USA und der europäischen Länder mit keinem Wort zu erwähnen, wie das kürzlich zum Welternährungstag in einer Radio-News des BR noch einmal veranschaulicht wurde, zeigt einen selbstherrlichen und begrenzten Blick auf ein Problem, das mit Erdogan als Partner für Flüchtlingsdeals nicht zu lösen ist.
Weil man sich mit ihm auf die Seite der Dschihadisten stellt, deren autoritäre Herrschaft und brutale Vorgehensweisen notorisch sind. Sie tragen erheblich zu Fluchtbewegungen bei, während hierzulande meist nur der Fluchtimpuls "autoritäre Herrschaft al-Assad" voran- oder herausgestellt wird. So viele Flüchtlinge aus Religionsgemeinschaften wie zu Zeiten der Herrschaft der Islamisten, die von Erdogan unterstützt werden, gab es vor dem Krieg in Syrien nicht.
Dies ist nur ein Ausschnitt dessen, welche schwierigen Situationen und welche holzschnittartige Politik den Asylanträgen zugrunde liegt. Schaut man sich die Zahlen der Asylanträge im Vergleich an, so sieht man aber auch, dass die Zahl aus Syrien wirklich weit heraussticht. Für ganz Europa werden 16.372 Anträge (Erst- und Folgeanträge) gezählt, für ganz Afrika 16.121.
Übrigens sind auch die Zahlen der Asylanträge aus der Türkei bemerkenswert. Gezählt werden 4.679 Erstanträge. Damit liegt das Land unter der Herrschaft von Erdogan im vorderen Feld.
Die WamS hat als Extra auch Zahlen der europäischen Asylagentur EASO eingeholt. Demnach ist Deutschland mit weitem Abstand das Land mit den meisten Asylanträgen in den ersten drei Quartalen dieses Jahres. Es folgt Frankreich mit 54.105 Asylanträgen (die Zahl wird nicht nach Erst- und Folgeanträgen unterschieden), dann Spanien mit 41.799, Italien mit 37.492 und Österreich mit 22.928.