Mehrere Auswanderungswellen

Die Forscher verglichen verschiedene Schädelformen anhand von fast 500 Messpunkten. Bild: PNAS/Universität Wien/MPI EVA

Der frühe moderne Mensch war bereits ganz eigen

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Eine neue Studie zeigt, dass unsere Vorfahren schon vor 100.000 Jahren höchst unterschiedliche Köpfe hatten. Wahrscheinlich lebten sie schon damals in voneinander getrennten Gruppen und bewegten sich in verschiedenen Wellen in Richtung Eurasien.

Die große Mehrheit der Anthropologen ist davon überzeugt, dass der anatomisch moderne Mensch, Homo sapiens, vor ungefähr 200.000 Jahren in Afrika zur Welt kam und sich von dort aus aufmachte, die Welt zu erobern. Die „Out of Africa“-Theorie ist zwar inzwischen weitgehend akzeptiert, aber es wird noch viel darüber diskutiert, wie und wann genau unsere Vorfahren sich über die anderen Kontinente ausbreiteten (Out of Africa).

Der Siegeszug des modernen Menschen war unaufhaltsam. In Europa lebte er 10.000 Jahre lang Seite an Seite mit dem Neandertaler, aber Untersuchungen des Erbguts heutiger Menschen weisen daraufhin, dass dieser Früheuropäer keine genetischen Spuren in uns hinterlassen hat. Ein Forschungsprojekt hat es sich zum Ziel gesetzt, das Genom der Neandertalers zu rekonstruieren und zu entziffern – erste Erfolge bestätigen, dass er nur ein ausgestorbener Verwandter ist, aber kein direkter Vorfahr (Sex ja, Kinder nein).

Die Afrikaner, die sich vor maximal 100.000 Jahren auf ihren Weg machten, sind die Vorfahren aller heute auf der Erde lebenden Menschen. Homo sapiens erscheint im Spät-Pleistozän, vor 190.000-200.000 Jahren lebten die ersten uns bekannten anatomisch modernen Menschen in Südäthiopien (Echt alt). Auch andere Funde sprechen dafür, dass der Homo Sapiens in Ostafrika zum ersten Mal das Licht der Welt erblickte.

Aber wie ging es weiter? Was können uns die versteinerten Knochen darüber erzählen? Studien der Morphologie, der Gestalt, bzw. der Formen der Fossilien sind eine gängige Methode der Paläoanthropologie. In der Vergangenheit haben Vergleiche der Kopfform heutiger und längst verstorbener Menschen die Out-of-Africa-Theorie schon mehrfach bestätigt (Der moderne Mensch kam durch die Hintertür oder Wir sind alle Afrikaner).

In der Online-Ausgabe der Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlichten Philipp Gunz von der Universität Wien und Kollegen verschiedener anderer Forschungsinstitute ihre Untersuchungsergebnisse über die Schädelformen früher moderner Menschen (Early modern human diversity suggests subdivided population structure and a complex out of Africa scenario). Das Forscherteam hat die Methodik beträchtlich verfeinert und erweitert. Zunächst wurden mehr als 200 menschliche Schädel gescannt, darunter viele frühe Exemplare vom anatomisch modernen Menschen, aber auch Vergleichsstücke aus dem Holozän und solche des Neandertalers sowie archaischere Formen wie die des Homo erectus. Unvollständige Fossilien wurden mithilfe virtueller Rekonstruktionstechniken im Computer vervollständigt.

Co-Autor Gerhard W. Weber leitet das European Virtual Anthropology Network (EVAN), das die technischen Möglichkeiten des Computerzeitalters für das Fach ausschöpfen will:

Virtuelle Anthropologie ist das, wo von Anthropologen seit jeher träumen: Fossile Knochen werden standardisiert vermessen, zusammengesetzt, zurechtgebogen und ergänzt – am Schreibtisch, in 3D. Wissenschaftler rekonstruieren am Rechner frühere Menschenarten, simulieren Wachstumsprozesse und quantifizieren anatomische Merkmale. Modernste Computertomographen und die entsprechende Software machen weit mehr möglich, als physisch am realen Objekt denkbar ist. Der virtuelle Blick legt verborgene innere Strukturen frei, ohne sie zu zerstören, wenn etwa Gesteinsablagerungen aus Knochenhohlräumen elektronisch entfernt werden.

Gerhard Weber

Der Computer ermöglichte die 3D-Darstellung virtuell komplettierter Schädel, die für den Vergleich mit annähernd 500 Messpunkten versehen wurden. Philipp Gunz, der die Berechnungen durchführte, erklärt: "So eine komplexe Analyse ist nur mit numerischen Methoden machbar."

Der Abgleich der Daten zeigte, dass der frühe Homo sapiens die unterschiedlichsten Köpfe hatte – die zugleich oft heute lebenden Menschen aus unterschiedlichen Regionen ähnlich sind. Keine andere Menschenart in den letzten 1,8 Millionen Jahr war in sich so variabel. Und es gibt keine derartige Ähnlichkeit archaischerer Schädel mit heutigen Menschen.

Die Resultate weisen daraufhin, dass in Afrika vor 100.000 Jahren bereits voneinander getrennte Gruppen des Homo sapiens mit beträchtlichen Unterschieden im Aussehen lebten – und dass sie sich wohl auch getrennt auf ihren Weg in alle Welt machten.

Gerhard Weber erläutert:

Schnellere und weiterreichende Auswanderungsbewegungen fördern den genetischen Austausch. Wir nehmen deshalb an, dass eine erhöhte Mobilität der Populationen ein wesentlicher Faktor für diese große Gestaltvariabilität der Schädel sein könnte.

Anstatt einer einzelnen Auswanderungswelle aus Afrika nach Westasien, glauben wir, dass mehrere überlagernde Migrationswellen stattfanden. 'Frühe moderne Menschen' lebten in zahlreichen, zeitweise voneinander isolierten Populationen, bevor sie nach Eurasien einwanderten, und möglicherweise auch wieder zurückkehrten. Es ist wahrscheinlich, dass sie mehr als eine Route nahmen, zum Beispiel auch über die Straße von Gibraltar, die in Sichtweite von Europa liegt.