Meinungsfreiheit futsch und alles kann in Spanien nun Terrorismus sein
In Spanien trat ein Gesetz in Kraft, dass allseits als "Knebelgesetz" bezeichnet wird
In luftiger Höhe hing gestern ein großes Transparent an einem Baukran über dem spanischen Parlament in Madrid. Es trug die Aufschrift: "Protest ist ein Recht". Aktivisten der Umweltschutzorganisation Greenpeace hatten es am Morgen aufgehängt. Bei mehr als 40 Grad im Schatten harrten sie in praller Sonne bis zum Mittag aus, um gegen das "Gesetz zur Sicherheit der Bürger" - allgemein als "Knebelgesetz" (ley mordaza) bezeichnet - und die Strafrechtsverschärfungen zu protestieren, die beide heute in Kraft getreten sind. Die Kletterer stiegen vom Kran, wurden von der Polizei festgenommen, kündigten aber an, sich an der Demonstration am Abend zu beteiligen.
Wie in Madrid gab es in etlichen Städten erneut Demonstrationen gegen die Verschärfungen. In Madrid warteten zahlreiche Menschen um Mitternacht am Parlament darauf, dass die Verschärfungen in Kraft treten, um kollektiv mit einem Sitzstreik gegen das Knebelgesetz zu verstoßen. "Die Geschichte wird mit zivilem Ungehorsam geschrieben", riefen sie oder auch: "Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine". Gefordert wurde auch die Freilassung des jungen Antifaschisten, der gerade zu vier Jahren Haft verurteilt wurde (Vier Jahre Haft für Streikposten in Spanien).
Wie Greenpeace lehnt auch die gesamte Opposition das Gesetz der rechten Volkspartei (PP) ab. Seit dem Entwurf habe man dafür gekämpft, "dass das Vorhaben nicht umgesetzt wird". Greenpeace verweist auf das breite Bündnis mit Richter- und Polizeivereinigungen, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien: "Es gibt eine Verpflichtung der wichtigsten politischen Kräfte, dieses Gesetz zu schleifen, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ändern." Gehofft wird, dass das Verfallsdatum spätestens im November erreicht ist, wenn Parlamentswahlen stattfinden. Der Absturz der PP bei den Regional- und Kommunalwahlen lässt viele hoffen. Die PP büßte die Macht in fast allen Regional- und vielen Stadtparlamenten ein. Sie kann einige Regionen und Städte nur noch mit Unterstützung der rechten Ciudadanos-Partei regieren.
Gegen die Verschärfungen gab es eine Protestwoche, an der sich auch viele Persönlichkeiten wie der bekannte Sänger Sabina beteiligt Mit einem Knebel im Mund hielt auch er ein Schild hoch. Darauf stand: "Auf Wiedersehen Demokratie". In Spanien wird zusehends der Rückwärtsgang in Richtung Diktatur eingelegt, von der sich die regierende PP ohnehin nie distanziert hat, die von Mitgliedern der Franco-Regierung gegründet wurde. Dass für friedliche Proteste nun drakonische Geldstrafen von bis zu 600.000 Euro drohen, sei "autoritär und unnötig". Dass erinnere "an Zeiten der Franco-Diktatur", meint auch die Richtervereinigung "Richter für Demokratie". Für sie ist es untragbar, dass die bestraft werden, "die ihren Unmut äußern".
Für den früheren Chef der Vereinten Linken (IU) befindet sich Spanien wieder im "Vorzimmer des Faschismus". Für Julio Anguita wohne man einem "Staatsstreich in Zeitlupe" bei. Und das ist nicht nur die Einschätzung eines Kommunisten. Sogar die New York Times spricht in einem Leitartikel vom "ominösen Knebelgesetz" und kommt nach seiner Analyse zu folgendem Ergebnis: "Das Knebelgesetz wirft Spanien in die dunklen Tage des Franco-Regimes zurück." Die Zeitung resümiert, dass ein solches Gesetz in einer Demokratie nichts zu suchen habe.
Sie bezieht sich dabei auch auf Analysen der UNO. Denn auch dort kritisiert man nicht nur, dass Spanien weiterhin nichts gegen die Folterpraxis unternimmt, sondern Sonderberichterstatter für Grundrechte sind auch besorgt über die "beiden Reformen". Maina Kiai sagt, dass Knebelgesetz sei zum Beispiel so schwammig formuliert, dass Tür und Tor für eine "unverhältnismäßige" Anwendung geöffnet würden. Damit werde nun die Kriminalisierung friedlicher Proteste möglich. Es schränke Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung unnötig und unverhältnismäßig ein. Spanien verstoße damit auch gegen internationale Vereinbarungen. "This is contrary to international law since it could have a chilling effect on the exercise of freedom of peaceful assembly."
Bleibt man im Fall des Knebelgesetzes bei Greenpeace, wird schon die Tragweite deutlich. Denn das Besteigen eines Atommeilers aus Protest, wie es die Organisation zuletzt 2011 in Cofrentes machte (Greenpeace besetzt spanisches Atomkraftwerk), kann nun auf administrativer Ebene, ohne Entscheidung eines Richters, 600.000 Euro kosten. Man könnte, dazu später, solche Vorgänge aber nun sogar als Terrorismus werten und die Aktivisten für lange Zeit hinter Gitter verschwinden lassen. Ein Einspruch bei Gericht gegen die Geldbuße im Vorfeld ist ausgeschlossen. Erst nach Zahlung der Strafe kann sie angefochten werden. Doch viele Kläger können sie sich die wohl selten noch leisten, deren Existenz vernichtet wäre. Die Polizei und die Behörden wurden nun praktisch mit richterlichen Kompetenzen ausgestattet, auch die Gewaltenteilung wird damit ausgehebelt.
Solch harte Strafen drohen wegen der bewusst schwammigen Formulierungen insgesamt für "wichtige Einrichtungen" und sogar für Verkehrsknotenpunkte. Damit kann praktisch jeder Teilnehmer einer nicht genehmigten, spontanen oder verbotenen Demonstration ökonomisch vernichtet werden. Sogar für das Stören von Sportveranstaltungen und spontane Sitzstreiks gegen Zwangsräumungen oder das Fotografieren/Filmen der Polizei bei Übergriffen drohen nun schon Geldstrafen von bis zu 30.000 Euro. Die gesamte Palette friedlicher Proteste der Empörten-Bewegung wird damit unter Strafe gestellt.
Gegen das Gesetz haben Oppositionsparteien Verfassungsklage eingelegt, die gerade von dem Gericht zur Verhandlung angenommen wurde. Viel erwarten muss man sich von einem politisierten Gericht aber nicht, denn es hat sogar auf Antrag der Regierung eine unverbindliche Volksbefragung in Katalonien verboten. Es nickte verfassungswidrige Vorgehen ab, mit denen Haftstrafen sogar nachträglich verlängert wurden, auch in Fragen von illegalen Zwangsräumungen, Folter und anderen dramatischen Vorgängen, schreitet oft erst der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ein.
eklagt wird auch gegen einen später eingefügten Abschnitt, der sogenannte "heiße Abschiebungen" an den Grenzen der Exklaven Ceuta und Melilla legalisieren soll. Sogar die EU-Kommission kritisiert sie, wie das bisweilen tödliche Vorgehen Spaniens an seinen Grenzen. Weil die Praxis der "heißen Abschiebungen" bisher schon illegal umgesetzt wurden (Spanien werden illegale Abschiebungen vorgeworfen), wird gegen etliche Polizisten ermittelt. Dieses Vorgehen wird über das neue Gesetz ausgehebelt. Immer wieder wurden Flüchtlinge, zum Teil sogar schwer verletzt, wieder nach Marokko zurückgebracht, die die mit scharfem Klingendraht bewehrten hohen Grenzzäune überwunden hatten.
Die im Mai für Podemos (Wir können es) ins Madrider Regionalparlament gewählte Sprecherin der Gruppe "Wir sind kein Delikt" erklärte gegenüber Telepolis im vergangenen Dezember, dass dieses Gesetz nur ein Teil eines repressiven Pakets ist, und sie meinte, die UNO müsste eigentlich längst "Blauhelmtruppen nach Spanien" schicken. Auch die Strafrechtsexpertin Lorena Ruiz-Huerta verwies auf die Strafrechtsreform und die darin nun enthaltene neue Terrorismusdefinition. Demnach drohen nun schon bis zu fünf Jahre Haft, wenn "kriminelle" Webseiten im Internet besucht werden. Aufrufe zu Protesten in sozialen Netzwerken können ebenfalls zu hohen Geldstrafen und zu einer einjährigen Haftstrafe führen.
Durch den Besuch von Internet-Seiten kann man schon zum Terroristen werden
Die Reform wurde im Eiltempo nach den Anschlägen gegen Charlie Hebdo abgenickt. Zugestimmt haben auch die Sozialdemokraten (PSOE), auch der darin enthaltenen lebenslänglichen Haftstrafe, die sie angeblich wieder beseitigen wollen, wenn sich die Machtverhältnisse ändern. Die Formulierungen in dieser Gesetzesverschärfung haben es in sich, weshalb auch sie von UN-Sonderberichterstattern scharf kritisiert werden. "As drafted, the anti-terror law could criminalise behaviours that would not otherwise constitute terrorism and could result in disproportionate restrictions on the exercise of freedom of expression, amongst other limitations." Auch der Sonderberichterstatter David Kaye kritisiert, dass man nun durch den Besuch von Internet-Seiten zum Terroristen werden kann. "The project of law could also allow for misuse in the oversight and removal of information available online."
Terrorismus kann nach dem Gesetz nun praktisch jedes "schwere Delikt" sein. Dabei muss man sich nicht "gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit" richten, sondern das gilt auch, wer sich gegen "die moralische Integrität, die sexuelle Freiheit, den Besitz, die natürlichen Rohstoffe, die Umwelt, die öffentliche Gesundheit (…), gegen die Monarchie" richtet. Neben Waffenbesitz und Handel mit Waffen und Munition oder Sprengstoffen, kann es Terrorismus sein, irgendein öffentliches Verkehr- oder Transportmittel in Besitz zu nehmen. Ja sogar die "Störung der öffentlichen Ordnung" kann ab heute Terrorismus sein. Dazu braucht es in Zukunft nicht einmal mehr eine Vereinigung oder Organisation, der der Beschuldigte angehören muss.
Terror kann es nun sein, wenn die "verfassungsmäßige Ordnung" angegriffen wird, das "Funktionieren der Institutionen" oder "ökonomischen Strukturen" destabilisiert werden oder der "öffentliche Frieden" schwer beeinträchtigt wird. Es ist klar, dass sich das vor allem gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien und im Baskenland richtet. Wird der katalanische Regierungschef schon jetzt für die Volksbefragung zur Unabhängigkeit im vergangenen November strafrechtlich belangt, wird er demnächst wohl zum Terrorist. Schließlich hat er die Wahlen auf September vorgezogen und die will er und andere Parteien in eine plebiszitäre Abstimmung über die Unabhängigkeit verwandeln.