Menschenkette zwischen Vilnius und Minsk - eine riskante Aktion?
Der litauische Journalist Andrius Tapinas will die Geschichte wiederholen: Eine Menschenkette soll am Sonntag die litauische Hauptstadt Vilnius mit der belarussischen Hauptstadt Minsk verbinden
Genauso wie vor 31 Jahren: Am 23. August 1989 bildeten zwei Millionen Menschen eine Kette zwischen den drei baltischen Hauptstädten Vilnius, Riga und Tallinn, um für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu demonstrieren.
Diesmal steht der Nachbar Belarus vor einer politischen Zäsur. Seit den Präsidentschaftswahlen am 9. August, bei welcher der seit 1994 wirkende Amtsinhaber Aleksander Lukaschenko rund 80 Prozent bekam, reißen die Proteste nicht ab. Vier Demonstranten sind bereits durch Staatskräfte zu Tode gekommen, die EU-Außenminister haben sich am Freitag in Brüssel zur Situation der ehemaligen Sowjetrepublik getroffen. "Der heutige Kampf für die Freiheit in Belarus wird von uns besser als von sonst jemandem verstanden, wir waren schließlich vor über 30 Jahren in der gleichen Situation", sagte Tapinas, der den Online-Nachrichtensender Laisves TV (Freiheitsfernsehen) leitet, in der mittlerweile auf Russisch ein Satireprogramm mit Lukaschenko-Witzen eingerichtet wurde.
Die Menschenkette soll auf dem zentralen Kathedralen-Platz in Vilnius beginnen, der amtierende Präsident Gitanas Nausėda sowie die vormalige Präsidentin Dalia Grybauskaitė werden teilnehmen, Behörden. Kommunen und öffentlich-rechtliche Medien unterstützen die Solidaritätsaktion, welche um 19 Uhr beginnen soll. Die Pressechefin der "Laisves Media Group", Zivile Tiskeviciute, geht auf Anfrage von 50.000 litauischen Teilnehmer aus.
Solidaritätsketten sollen auch in Paris und London, auch in Berlin, München und Hamburg stattfinden. Die Aktion passt zu dem 43-jährigen Medienmacher. Tapinas gilt als Tausendsassa und prowestlicher Aktivist. Noch in der Sowjetunion war er als Kind ein Tennis-Ass, von 1992 bis 1994 übertrug er als Schüler "Der Herr der Ringe" ins Litauische und gilt weltweit als jüngster Übersetzer des Werkes. Schon mit Anfang zwanzig arbeitete er als Journalist für das öffentlich-rechtliche Fernsehen LRT. Als sein Vertrag 2016 nicht verlängert wurde, gründete er das Online-Sender, in der schon US-Politiker auftraten, wie etwa der Russlandkritiker John McCain.
Lukaschenko sieht sich von Polen und Litauen bedroht
Vor allem Litauen ist in der Belarus-Frage engagiert. Das NATO- und EU-Mitglied hat sich stets für Sanktionen gegen den Kreml stark gemacht, von welchem wiederum Belarus wirtschaftlich abhängig ist. Auch nahm Litauen die Oppositionskandidatin Svetlana Tichanowskaja bei sich auf. "Unser gemeinsames Ziel ist einfach - wir wollen nicht mehr in Angst und mit der Lüge leben", erklärte die Weißrussin in ihrer ersten Presseerklärung seit der Flucht am Freitag in Vilnius und verlangte eine Wiederholung der Wahlen. Sie will erst nach Belarus zurück, wenn sie Sicherheitsgarantien hat.
Bezeichnenderweise sieht sich Aleksander Lukaschenko derzeit vor allem von den beiden Nachbarn Polen und Litauen bedroht und hat im Westen die Militärpräsenz verstärken lassen.
Wie empfindlich der Präsident derzeit auf jede mögliche Gefährdung seiner Macht reagiert, zeigt der Fall Grodno. Auch um die Großstadt im Westen ließ das Staatsoberhaupt Panzer mit der Begründung auffahren: "Dort hängen polnische Fahnen." Es finden "taktische Manöver" statt.
Jakub Biernat, Redakteur des in Warschau ansässigen TV-Senders Belsat, korrigiert auf Anfrage diese Aussage: "Die dortige polnische Minderheit habe bei einer Solidaritätsaktion mit der Opposition polnische Fahnen geschwungen." Es würden jedoch keine Fahnen von Gebäuden hängen. Die polnische Minderheit werde seit Jahren von den Behörden drangsaliert und hat keinen offiziellen Status mehr. Mittlerweile finden in Belarus Pro-Lukaschenko-Umzüge statt, bei der seine Anhänger die von der Opposition abgelehnte rotgrüne Fahne zeigen. Vor allem im agrarischen Osten des Landes hat der ehemalige Kolchose-Leiter Rückhalt.
Es bleibt offen, wie die Staatsmacht in Minsk auf eine von Litauen initiierte Menschenkette reagiert. Bislang gab es kein offizielles Statement. "Nach den Drohungen von Lukaschenko kann es gefährlich für die Weißrussen werden, sich direkt an der Grenze der Kette anzuschließen", räumte die Pressechefin der "Laisves Media Group" gegenüber dem Autor ein. Tiskeviciute glaubt, dass es in Minsk entsprechende Aktionen geben werde, ohne jedoch ins Detail zu gehen.
Der russische Außenminister Sergej Lavrov betrachtet jedenfalls die bisherigen Aktivitäten Litauens als "Geopolitik". Dazu wird auch die Aktion von Andrius Tapinas zu rechnen sein. Die Menschenkette vor 31 Jahren, welche über 600 Kilometer lang war, wirkte und wirkt noch heute für den Kreml als Provokation - denn das Ereignis fand auf den Tag genau 50 Jahre nach der Unterzeichnung des sogenannten "Molotov-Ribbentrop-Pakts" statt, mit dem NS-Deutschland und die Sowjetunion die Aufteilung Polens und die sowjetische Einverleibung der damals unabhängigen baltischen Staaten beschlossen.