Merkel-Gesundheit zwischen Ressentiment und Hofberichterstattung
- Merkel-Gesundheit zwischen Ressentiment und Hofberichterstattung
- Gesundheit und Krankheit sind gesellschaftliche Begriffe
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Die beste Waffe gegen Spekulationen ist die Offenlegung der Gesundheitsdaten sämtlicher Politiker
Das Ungeheuer von Loch Ness macht im Sommerloch schon lange keine Schlagzeilen mehr. Dafür widmet man sich mehr den Leben von sogenannten Prominenten der unterschiedlichen Couleur. In diesem Jahr ist die Gesundheit der Kanzlerin das vermeintliche Aufregerthema, an dem sich scheinbar die Geister scheiden. Auslöser waren körperliche Unpässlichkeiten von Merkel, die hier aber weder politisch noch laienmedizinisch weiter vertieft werden sollen.
Natürlich haben die Merkel-Hasser der Republik das Thema sofort aufgegriffen und wollen jetzt eine vermeintliche Krankheit zum Schüren von Ressentiments heranziehen, um ihr Hassobjekt weiter zu beleidigen. Bei ihnen spielt sicher auch eine spezielle Verachtung für Frauen in Verantwortung eine Rolle. Ein Mann, der gesundheitliche Schwächen zeigt, würde eher dafür geehrt oder gar hochgelobt, dass er trotzdem seinen Job macht.
Aus allen Ländern sind Politiker bekannt, die trotz Krankheiten - mit Medikamenten vollgepumpt - ihre Auftritte vollziehen. Den rechten Versuchen, eine Unpässlichkeit als Ressentiment gegen Merkel zu nutzen, zu widersprechen, ist die eine Sache.
Hofberichterstattung gegen rechtes Ressentiment?
Doch wenn dann daraus eine reine Merkel-Hofberichterstattung wird, geht man genau den rechten Merkel-Hasser auf den Leim. Da fordert in der Taz Franziska Seyboldt mehr Empathie für Merkel. Mit den ersten Sätzen beschreibt die Autorin sehr gut den Stand der Sommerloch-Debatte:
Die Kanzlerin zittert, und alle drehen durch. Nein, das ist kein Titel einer Punkband, sondern die Kurzfassung der Ereignisse aus den letzten Wochen. Nachdem Angela Merkel am Mittwoch beim Empfang des finnischen Ministerpräsidenten Antti Rinne den dritten öffentlichen Zitteranfall innerhalb von gut drei Wochen hatte, werden die Spekulationen über ihren Gesundheitszustand immer wilder - bis hin zu einer Lippenleserin, die entziffert haben will, was Merkel währenddessen vor sich hinmurmelte.
Franziska Seyboldt, Taz
Doch die Autorin belässt es nicht bei der berechtigten Zurückweisung eines rechten Ressentiments. Denn sie unternimmt es selbst, aus der Ferne Merkel zu analysieren und diagnostizieren. Die Frage nach Merkels Gesundheit ist für Seyboldt keine mehr:
Das beantwortete sie bei einer öffentlichen Pressekonferenz selbst: "Mir geht es gut. Ich hab neulich schon einmal gesagt, dass ich in einer Verarbeitungsphase der letzten militärischen Ehren mit dem Präsidenten Selenski bin. Die ist offensichtlich noch nicht ganz abgeschlossen, aber es gibt Fortschritte und ich muss damit jetzt eine Weile leben. Aber mir geht es sehr gut und man muss sich keine Sorgen machen."
Angela Merkel war ja schon immer gut darin, etwas zu sagen und dabei nichts zu sagen, aber hier ist sie doch recht deutlich: Sie hat den ersten Zitteranfall noch nicht verarbeitet. Da gibt es eigentlich nicht viel Raum für Spekulationen, selbst der Duden erklärt das Verb "verarbeiten" damit, etwas geistig oder psychisch zu bewältigen. Kennt doch auch jeder: Wenn einem etwas Unangenehmes in einer bestimmten Situation passiert, man also zum Beispiel einen Vortrag hält und ein Blackout bekommt, dann lässt der nächste Vortrag die Erinnerung daran wieder aufleben, entweder bereits im Vorfeld oder währenddessen. Und genau das, was man unbedingt vermeiden möchte, passiert erneut. Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie sind zudem noch die Bundeskanzlerin und ständig unter Beobachtung. Na, spüren Sie schon den Druck?
Franziska Seyboldt, taz
Die Autorin begibt sich hier selber auf den Pfad der Spekulationen und interpretiert in eine kryptische Merkel-Äußerung Dinge hinein, die da gar nicht drinstehen. Zudem wirft diese Interpretation neue Fragen auf und treibt also die Spekulationen weiter.
Gesundheitliche Daten von Politikern öffentlich machen
Gerade, wenn man sich, wie der Autor dieser Zeilen, daran nicht beteiligen will, sollte man die Forderung stellen, dass die Gesundheitsdaten von Politikern generell veröffentlicht werden sollen, wenn sie sich um Ämter bewerben. Das sollte ausnahmslos für alle Politiker gelten und wäre ein Akt der Transparenz. Nur so würde Spekulationen und Ressentiments die Basis entzogen.
Sicher wird es auch nach ärztlichen Veröffentlichungen Menschen geben, die daran nur Fälschungen sehen. Aber das wäre wohl eine Minderheit. Es gab in den letzten Jahren Beispiele von Sportlern oder bekannten Künstlern, die freiwillig schwere Krankheiten bekannt gemacht haben. Damit haben sie auch mit dazu beigetragen, dass in der Gesellschaft ein unverkrampfterer Umgang mit diesen Krankheiten möglich war.
Das war vor allem bei stigmatisierten Krankheiten wie Aids, Alkoholismus etc. sehr wichtig. Aber auch bei Krebserkrankungen haben öffentlich bekannte Menschen mit ihrem Outing, von der Krankheit betroffen zu sein, dazu beigetragen, dass Menschen er bereit sind, sich untersuchen zu lassen.
Zudem haben auch andere Patienten dadurch Mut geschöpft, mit ihrer Krankheit besser zu leben und nicht nur unter ihnen zu leiden. Für eine solche Herangehensweise ist es zentral, wenn nicht bei Politikern auf einmal wieder ein Geheimnis aus der Gesundheit gemacht wird, wie es der Politikpsychologe Thomas Kliche im Deutschlandfunk empfiehlt:
"Es ist ein bisschen wie Royals in der Politik: Man kriegt vermeintliche Nähe, man schaut vermeintlich hinter die Kulissen. Es ist eine Enthüllungsdramatik dabei und es ist einfach auch ein schlechtes Beispiel, wie man sich für die Gesundheit fremder Menschen interessieren soll: nämlich nicht einfühlend, sondern kontrollierend, im Grunde in einer Form von Tratsch als sozialer Kontrolle", sagte der Wissenschaftler der Hochschule Magdeburg-Stendal. Anhand der bisherigen Berichterstattung über Merkel habe man "nichts über ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit gelernt".Thomas Kliche, Deutschlandfunk
So recht Kliche mit der Bemerkung hat, dass es Wichtiges als die Gesundheit der Kanzlerin gibt, so bedient er mit seiner Auffassung, der Gesundheitszustand der Kanzlerin ist deren Privatsache, eine neoliberale Agenda.
Schon längst wird den Menschen ja von Krankenkassen und Politikern eingeredet, sie seien persönlich für ihre Gesundheit verantwortlich. Wenn Gesundheit kein gesellschaftliches Problem ist, müssen auch alle selbst dafür sorgen, dass sie gesund, sprich für die Lohnarbeit verwertbar bleiben.