Michael Klundt über Kinder in Gaza: "Sie werden kollektiv bestraft"

Kinder mit leeren Essensschalen in Gaza

Kinder in Gaza: NGOs und Forscher mahnen Verstöße gegen die Kinderrechtskonvention

(Bild: Anas-Mohammed/Shutterstock.com)

Kinder in Gaza leiden unter Krieg und Entbehrung. Experte Michael Klundt kritisiert die deutsche Unterstützung für Israels Politik scharf. Ein Telepolis-Interview.

Über eine Million Minderjährige sind im Gaza-Streifen vom Krieg betroffen. In einem offenen Brief fordern Kindheitswissenschaftler einen Waffenstillstand und die Wiederherstellung humanitärer Hilfen. Auch der Kindheitswissenschaftler Michael Klundt meldete sich jüngst in einem Brief an Rainer Forst zu Wort. Im Telepolis-Interview sprach er über Kinderrechtsverletzungen, Schwarz-Weiß-Denken, Kollektivbestrafung, Verharmlosung der NS-Zeit und die Treue der Bundesregierung gegenüber der US-Regierung.

Gaza: Kinderrechte schwer verletzt

Portrait von Michael Klundt
Prof. Dr. Michael Klundt
(Bild: Privat)

Sie erforschen als Kindheitswissenschaftler vor allem Armut und soziale Ungleichheit in Deutschland. Wieso nehmen Sie nun zu einem internationalen Konflikt Stellung?

Klundt: Kinderrechte sind ein Teil der Universalität der Menschenrechte. Der Kampf gegen Kinderarmut und für Kinderrechte darf niemals nur national betrachtet werden. Bei der Katastrophe im Gaza-Streifen sehen wir die schlimmsten Formen von Kinderarmut und Kinderrechtsverletzungen durch Hunger, Durst, fehlendes Obdach, Vertreibung, Medikamentenentzug und Bombardierungen gegenüber mehr als einer Million Kindern. Ich halte es für nötig, als Kindheitswissenschaftler dagegen die Stimme zu erheben. Weltweit haben schon tausende Kindheitswissenschaftler dazu gesprochen: in öffentlichen Briefen, Statements und auch in Studien.

In einem offenen Brief vom 20.09.2024 kritisieren Sie Jürgen Habermas, Nicole Deitelhoff, Klaus Günther und Rainer Forst, die sich in einer Stellungnahme vom 13.11.2023 prinzipiell solidarisch mit Israel im Gazakrieg äußern. Was kritisieren Sie daran?

Klundt: Der von ihnen "prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag" Israels in Gaza hat inzwischen selbst die Adorno-Preisträgerin Seyla Benhabib überzeugt, dass "es von israelischer Seite genozidale Kriegsverbrechen gegeben hat." In meinem Brief halte ich Forst vor, dass er in seiner Antwort auf einen offenen Brief von Adam Tooze, Samuel Moyn und Amia Srinivasan ausgerechnet Theodor W. Adorno bemüht, der sich dem Schwarz-Weiß-Denken verweigern wollte. Aber genau das haben Forst und die anderen doch getan, als sie Israels Gegenschlag "prinzipiell" rechtfertigten und nur die Annahme genozidaler Absichten als "abwegig" bezeichneten. Es hilft der Staatsräson und dem Kampf gegen Antisemitismus nicht, Freunde zu ermuntern, statt ihnen mit helfender Kritik in die Arme zu fallen, wenn sie im Begriff sind, ein furchtbares Verbrechen durch ein noch furchtbareres zu beantworten! Der "prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag" hat die Sicherheit Israels, der Zivilbevölkerung, der Kinder und Geiseln nicht verbessert. Ich hoffe, dass es bei Forst und vielen anderen bald einen Lernprozess wie bei Benhabib gibt.

Die Sprengkraft von zwei Atombomben

Welche Kennzahlen sind aus Ihrer Perspektive wichtig, um den Gazakrieg zu beleuchten?

Klundt: In Gaza lebten Anfang 2024 noch etwa 335.000 Kinder unter fünf Jahren. Die Sprengkraft der auf Gaza abgeworfenen Bomben entsprach bereits Anfang November 2023 dem Äquivalent von zwei Atombomben. Inzwischen sind ja die UN-Generalversammlung, der Internationale Gerichtshof sowie der Internationale Strafgerichtshof auf Basis von Beweisen schon weiter. Sogar Staatspräsident Jitzchak Herzog sagte: "Es ist eine ganze Nation da draußen dafür verantwortlich". Demnach sind alle schuldig, alle zu bestrafen. Auch die Kinder, die eine Million Minderjährigen ohne Hamas-Mittäterschaft. Das ist alles nachlesbar und beweisbar, unter anderem in der südafrikanischen Anklageschrift vor dem IGH. Die Bewohner Gazas, auch die Kinder, werden für die Angriffe vom 7. Oktober kollektiv bestraft: Mit Hunger, Durst, Wasser- und Medikamentenmangel, Bomben und Raketen, Tod und Massenvertreibung. Das wird hierzulande in Debatten um Kinderarmut und -rechte kaum thematisiert.

Welche Rolle messen Sie den Vereinten Nationen, vor allem der Kinderrechtskonvention und der UNICEF bei, einen Anteil an einer Friedenslösung in diesem Krieg zu haben?

Klundt: Wie alle Staaten, außer den USA, hat auch Israel die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, sich gesetzlich zur Umsetzung verpflichtet. Das geschieht im Gaza-Streifen, im Westjordanland und nun auch im Libanon nicht. Es ist problematisch, dass Israel UN-Generalsekretär Guterres zur Persona non grata erklärt und ihm die Einreise verweigert hat. Premierminister Netanjahu hat den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes als einen "der großen Antisemiten der Moderne" bezeichnet, während der israelische UN-Botschafter mit seinem Schreddern der UN-Charta die gesamte UN-Generalversammlung aller Staaten als einen Haufen von Judenhassern hingestellt hat. Das blockiert internationale Lösungs- und Hilfsversuche und verharmlost den Holocaust sowie den historischen und aktuellen Antisemitismus. Neben Zehntausenden Frauen und Kindern wurden hunderte UN-Mitarbeiter, Ärzte und Journalisten getötet. Dass von 13.000 UNWRA-Mitarbeitern angeblich zwölf Personen unter Folter eine Beteiligung an den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 gestanden haben sollen, rechtfertigt in keiner Weise systematische Bombardierungen von UN-Institutionen und UNICEF-Nahrungskonvois.

Menschenrechte einfordern, UN-Beschlüsse einhalten

Was fordern Sie als Kindheitswissenschaftler von der deutschen Politik und Wissenschaft?

Klundt: Die UN-Beschlüsse zum Waffenstillstand und zur Geiselbefreiung sind zu unterstützen. Mit ihren Vetos im UN-Sicherheitsrat und ihren Waffen haben die US-Administration – und in Nibelungentreue die deutsche Regierung – Netanjahus Kriege ermöglicht. Politik und Wissenschaft sollten das Schweigen brechen, Doppelstandards in den internationalen Beziehungen benennen, die Universalität der Menschen- und Kinderrechte einfordern, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete stoppen und die Abstreitung genozidaler Kriegsverbrechen beenden. Trotz geringer Lichtblicke – wie dem Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten zum zivilisierten Umgang mit pro-palästinensischen Protesten auf dem Campus und der Stellungnahme zum Vorgehen der Bundesbildungsministerin gegen besagte Lehrende – sieht es immer noch nach einer weitgehenden Komplizenschaft vorherrschender Wissenschaft und Politik aus, während Kriegskritiker mit Rufmord und scharfen Repressionen bedroht werden.

Benjamin Roth sprach mit Michael Klundt. Er arbeitet als Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zuletzt erschienen seine Bücher "Kinder in Armut" bei Herder und "Kinderrechte in Corona-Zeiten" bei Beltz. Ferner unterstützt er das Statement deutscher Sozialwissenschaftler: "Deutschlands Reaktionen auf den Gaza-Krieg entsprechen nicht seinen eigenen Prinzipien".