Migration: Macron will die "classes populaires" besser ansprechen
73 Prozent der Franzosen sind der Meinung, dass sich das Land im Niedergang befindet. Macron zielt nun auf die Wähler, die nicht zur bürgerlichen Komfortzone gehören
Frankreich ist, wie andere europäische Länder auch, auf der Suche nach einer politischen Idee, die ihm eine bessere Zukunft versprechen und die Gräben in der Gesellschaft überwinden kann. Das zeigt erneut das aktuelle Stimmungsbild von Ipsos Sopra-Steria. Zu den Auffälligkeiten gehört, dass fast drei Viertel der Befragten das Land im Niedergang sehen.
Ausgeprägtes Misstrauen
Das gegenseitige Misstrauen ist seit Jahren stark ausgebildet - nur jede(r) Fünfte meint, dass man Vertrauen in den Großteil der anderen haben kann. Das Vertrauen in Parlamentarier, politische Parteien, Gewerkschaften, Großunternehmen und Medien ist schwach. Sämtliche Befragungswerte zu diesen "Institutionen" liegen unterhalb der 50-Prozent-Marke.
Das heißt, das Misstrauen ist stärker ausgeprägt als die Glaubwürdigkeit. Am deutlichsten ist das bei den Parteien der Fall, die gerade mal auf 10 Prozent Vertrauen kommen. Bei den Medien gab es einen Vertrauensverlust von 7 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr. Es sank von 30 auf 23 Prozentpunkte.
Die Befragung findet jährlich statt, was sie beachtenswert macht, weil damit eine Entwicklung zu verfolgen ist. Und diese zeigt an mehreren Stellen, dass die Befragten (repräsentativ ausgewählte 996 Personen über 18 Jahren) ihren Glauben an eine gute Entwicklung nicht erst seit diesem Sommer eingebüßt haben.
Ein Beispiel: Im Januar 2014 waren 85 Prozent der Franzosen der Meinung, dass das Land im Niedergang ("en déclin") ist, im April 2016 waren es 86 Prozent. In französischen Medien wimmelt es traditionell von Kommentaren über den eigentümlichen Pessimismus der Landesbewohner. Auch Macron landete nach dem ersten Höhenflug infolge seiner Wahl beim "unkorrigierbaren Pessimismus" (La Croix) seiner Landsleute. Der Anteil derjenigen, die glaubten, dass es nun in eine bessere Richtung geht, sank von 40 Prozent im Frühjahr 2027 auf 29 Prozent Anfang Herbst.
Niedergangstimmung besonders unter Arbeitern und Le Pen-Wählern
Zu den Zickzack-Verläufen passt, dass laut der aktuellen Befragung die Hälfte der Franzosen der Meinung sind, dass der Abstieg Frankreichs "nicht irreversibel" ist. Bei Macron ist das Glas aber nicht mehr als "halbvoll" zu sehen. Mehr als die Hälfte (55 Prozent) stimmten nämlich der Ansicht zu, dass seine Wahl zum Präsidenten nichts zum besseren Funktionieren der Demokratie beigetragen hat, ein Drittel ist gar der Ansicht, dass sie nun noch schlechter funktioniert.
Wie sich die Auffassungen dazu nach dem jeweiligen politischen Lager aufschlüsseln, wird niemanden überraschen. Die Niedergangstimmung ist besonders unter den Arbeitern (89 Prozent) und mit dem gleich hohen Prozentsatz bei den Unterstützern von Le Pens Partei Rassemblement national (RN) ausgeprägt. Den Gegenpol bilden die Wähler der Macron-Partei La République en Marche. Sie sind zu mehr als zwei Drittel der Auffassung, dass sich "Frankreich nicht im Abstieg befindet".
Bei den RN-Wähler ist auch der Anteil am höchsten, die glauben, dass der Abstieg nicht mehr rückgängig zu machen ist (35 %). Bemerkenswert ist, dass die Linke (Mélenchons La France Insoumise und die kommunistische Partei) nach Macrons Partei die meisten Zuversichtlichen in ihren Reihen hat. 59 Prozent glauben, dass der Niedergang reversibel ist.
Gewalt gegen Gelbwesten und von Gelbwesten
Das Lagebild wird interessanter, wenn es um die Frage der Polizeigewalt gegen die Gelbwesten-Demonstrationen geht. Zwar sind 42 Prozent der Meinung, dass sie nicht gerechtfertigt sind, aber eben auch "verständlich". "Nur" 46 Prozent halten sie für "inakzeptabel". Der Wert bekommt eine weitere Kontur dadurch, dass 57 Prozent die Gewalt der Gelbwesten bei den Demonstrationen für "inakzeptabel" halten.
Das müsste der Bewegung der Gilets jaunes, die derzeit alle Mühe mit der Mobilisierung hat, zu denken geben; auch wenn die Mediendarstellung hier eine große Rolle spielte und ihr Schwergewicht auf der Aggression der Gelbwesten und sehr viel weniger auf dem der Polizeikräfte lag.
Dem ist aber auch entgegenzuhalten, dass die Proteste in Algerien gegen die Macht dort seit Februar ohne Gewalt auskommen, und die französischen Medien seit Sommer die Polizeigewalt sehr viel deutlicher in den Fokus genommen haben. Die Umfrage fand Ende August, Anfang Oktober statt.
Positive Einschätzungen für kleinere Unternehmen und Bürgermeister
Auffallend ist auch, dass zwei "Institutionen", ungeachtet des großen Trends, an Glaubwürdigkeit zugenommen haben, das sind die Bürgermeister und die kleinen oder mittleren Unternehmen. Die Bürgermeister haben an Vertrauen gewonnen, sie legen seit 2016 zu und haben nun 70 Prozent Zustimmung auf die Frage, welchen Institutionen vertraut wird.
Ganz oben rangieren die kleineren oder mittleren Unternehmen mit 81 Prozent. Dicht gefolgt von der Armee (80%), der Schule (74%) und der Polizei (mit 70 Prozent gleichauf mit den Bürgermeistern).
Die nächsten Wahlen
Das heißt, dass die Kommunalwahlen im nächsten Jahr Bedeutung haben werden und das zeigt auch einen Blick an, der stärker auf das Nationale und Regionale ausgerichtet ist. Große Konzerne werden mehr mit der Globalisierung verbunden als die kleineren.
Die Mehrheit der Befragten, 57 Prozent, hält die Globalisierung für eine Bedrohung. 61 Prozent sind der Meinung, dass sich Frankreich besser vor "der Welt" schützen soll. Den großen Unternehmen sprechen gerade mal 34 Prozent Vertrauen aus (in den vier Jahren zuvor lagen die Werte bei 40 Prozent und darüber), dem Präsidentenamt 30 Prozent (in den beiden Jahren zuvor 34 und 44).
Misstrauische Positionen gegenüber Zuwanderung
Eine Konstante ist eine misstrauische Position gegenüber Zuwanderung. Seit 2013 bewegen sich die Zustimmungswerte auf die Feststellung "Man fühlt sich nicht mehr zuhause in Frankreich" auf über 60 Prozent. Die Kurve steigt seit drei Jahren an. Aktuell befürworten 64 Prozent diese Äußerung. Hier zeigen sich die Lager, die man bereits kennt: Die Linken (FI, PCF) liegen hier bei 34 Prozent. Die Anhänger der Partei Le Pens bei 90 Prozent.
Eine Mehrheit über 60 Prozent stimmen auch der Aussage zu, dass es zu viele Zuwanderer in Frankreich gibt (aktuelle 63 Prozent, wobei der Wert 2013 schon bei 70 Prozent lag) und sie sich nicht genug anstrengen, um sich zu integrieren. Das sind jetzt zwei Drittel und hier zeigt sich eine ziemlich gerade ansteigende Linie nach oben, die bei 55 Prozent im Januar 2013 anfing.
Macron tritt in die Fußstapfen Sarkozys
Angesichts dieses Gesamtbildes, das aktualisiert, was seit langem festgestellt wird, ist es auch keine Überraschung, dass Macron nun, wie neueste Berichte melden, mehr oder weniger in die Fußstapfen Sarkozys tritt. Er gab in den letzten Tagen Signale, dass sich die Regierung stärker mit der Zuwanderungspolitik befassen wird. Ziel sei es, die Menschen außerhalb der bürgerlichen Komfortzone besser anzusprechen. Macron wird von der Zeitung Le Parisien wie folgt zitiert:
"Wir sind ein Land mit Zuwanderung. Das schafft Spannungen, aber denen müssen wir ins Gesicht sehen (...). Ich bin von unserem Asylrecht überzeugt, aber es wird durch Netzwerke und Menschen, die es manipulieren, in andere Richtungen gelenkt. (...) Wir haben nicht das Recht, dieses Thema nicht frontal anzugehen. Wollen wir die Partei der Bürger sein oder nicht? Die Bürger begegnen der Einwanderung nicht. Sie werden auf einem Territorium empfangen, wo die Ärmsten leben. Die classes populaires (oft mit "Arbeiterklasse" übersetzt, Anm. d. A) haben mit Arbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen, aber auch mit diesem Thema."
Wie die Offensive konkret aussehen wird, darüber gibt es nur Richtungsanweisungen und diese deuten darauf, dass man Le Pens Partei das "Wasser abgraben will". Macron soll bei seinen Ansprachen dabei an Sarkozy erinnert haben, sagen Teilnehmer. Als Motto sei bei Versammlungen angeklungen, dass sich die Regierung und Mitglieder der Partei verbal zwar zurückhalten, dafür aber die Bestimmungen und Regelungen schärfer ausfallen sollen.
1000 Cafés
Es gibt auch andere Bewegungen, die sich gegen den "Niedergang" des traditionellen Frankreichs stemmen. Eine Aktion, die sich "1000 Cafés" nennt, will gegen das Aussterben der Bistros in den kleineren Orten angehen, die dort als öffentlicher Treffpunkt und Einkaufsmöglichkeit das gesellschaftliche Leben prägten.
Wie auch hierzulande bei den dörflichen Gastwirtschaften zeigte sich in den vergangenen Jahren, dass diese Institutionen in den kleineren Orten unter 3.500 Einwohnern merklich weniger wurden. Erste Reaktionen auf die Initiative seitens der Bürgermeister seien positiv, meldet France Inter.