Migrationskontrolle: EU rüstet Informationssysteme auf
Eurodac, Schengener Informationssystem, Visumsdatenbank: Die Europäische Union erneuert die Rechtsgrundlagen ihrer migrationsbezogenen Datenbanken. Die einzelnen Systeme sollen zu einer einzigen virtuellen Grenze verschmelzen. Alle Drittstaatenangehörigen würden dann in einem "gemeinsamen Identitätsspeicher" landen
Die Grenzbehörden der Europäischen Union sollen zukünftig auch Kindern unter Zwang Fingerabdrücke und Gesichtsbilder abnehmen dürfen. So steht es in einem Papier zur neuen Eurodac-Verordnung, das die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch online gestellt hat. Der bulgarischen Ratspräsidentschaft zufolge hat das EU- Parlament dem Vorschlag der Kommission zugestimmt, das Alter für die verpflichtende Erhebung biometrischer Daten von Asylsuchenden von 14 auf sechs Jahre zu senken.
Reisen die Kinder allein, soll eine "Begleitung" bei der womöglich entwürdigenden Prozedur anwesend sein. Dabei kann es sich um Angehörige der Grenzbehörden oder eine externe Person handeln. Die erhobenen Daten werden dann für mindestens zehn Jahre gespeichert. Auch dies war bis zuletzt strittig, denn die Abgeordneten wollten lediglich einer Speicherung von maximal fünf Jahren zustimmen. Mit der Einigung ist jetzt der Weg frei für den Abschluss der neuen Eurodac-Verordnung, die seit 2016 im sogenannten Trilog-Verfahren zwischen Rat, Parlament und Kommission verhandelt wird.
Migranten als Versuchskaninchen für Biometrie
Eurodac soll Grenz- und Ausländerbehörden bei der Prüfung helfen, ob einem "illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen" von einem anderen Mitgliedstaat ein Aufenthaltstitel erteilt wurde. Dann könnte die betreffende Person dorthin zurückgeschoben werden. Das System war bei seiner Errichtung in 2003 die erste EU-Datenbank, die Fingerabdrücke verarbeitet. Mit dem neuen Verordnungsentwurf würde auch die verpflichtende Gesichtserkennung zuerst bei Migranten angewandt.
Auch der Kreis der in Eurodac gespeicherten Personen wird erweitert. Zukünftig würden auch jene Personen erfasst, die in einem EU-Mitgliedstaat ohne Aufenthaltstitel angetroffen werden. Bislang betraf die Verordnung nur Personen, die an der Grenze oder in Grenznähe festgestellt wurden. Anfragen in Eurodac erfolgen nach dem "Treffer/kein Treffer"-System, wonach erst im Trefferfall die kompletten Akten aus dem Asylverfahren übermittelt werden.
Zuletzt wurde die Eurodac-Verordnung in 2013 geändert, die rund fünf Millionen Datensätze dürfen seit 2015 auch von Polizeibehörden und Geheimdiensten abgefragt werden. Nur die Fingerabdrücke und das Gesichtsbild sind jedoch bislang durchsuchbar. Gemäß der neuen Verordnung erhält die Datei deshalb eine neue Suchfunktion für Angaben zur Person, Namen und Aliasnamen, Geburtsort und Geburtsdatum oder die Nummern von Ausweisdokumenten.
Ausschreibung zur Vernehmung
Vor zwei Wochen haben sich der bulgarische Ratsvorsitz und das Europäische Parlament auch auf die Neufassung des Schengener Informationssystems (SIS II) geeinigt. Die Kommission hatte hierzu drei getrennte Verordnungen vorgeschlagen, die sich auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, Grenzkontrollen und Abschiebungen beziehen.
Das SIS ist die größte europäische Polizeidatenbank, in der letztes Jahr mehr als 76 Millionen Personen und Sachen zur Fahndung ausgeschrieben waren. Zwar sind nur sehr wenige Personen (1,17 %) ausgeschrieben, jedoch führten diese zu 77% aller Treffer. Über die Hälfte der Personenausschreibungen betrifft Personen, denen der Aufenthalt oder die Einreise in die EU verwehrt wird. Diese Ausschreibungen sollen zukünftig verpflichtend sein. Die Kommission will außerdem eine neue Kategorie "Ausschreibung zu Rückführungszwecken" einführen, wonach die Mitgliedsstaaten auch die zu vollziehenden "Rückführungsentscheidungen" im SIS II speichern sollen.
An zweiter Stelle der Ausschreibungen von Personen im SIS stehen verdeckte und gezielte Kontrollen. Bei einer gezielten Kontrolle werden die Betroffenen "sorgfältig überprüft", eine verdeckte Kontrolle erfolgt ohne deren Wissen. Die Maßnahme kann durch Polizei oder Geheimdienste erfolgen, ihre Zahl steigt jedes Jahr beträchtlich. Als "Zwischenschritt" zwischen verdeckten und gezielten Kontrollen will die Kommission nun "Ausschreibungen für Ermittlungsanfragen" ermöglichen, um Personen nach einer Kontrolle einer Vernehmung zu unterziehen.
Fahndung mithilfe von Finger- oder Handballenabdrücken
Auch die technischen Funktionen des SIS sollen verbessert werden. Nach zweijähriger Probezeit verfügt das SIS seit März über ein "Automatic Fingerprint Identification System" (AFIS). Jeder neu eingespeicherte Fingerabdruck wird mit vorhandenen daktyloskopischen Daten abgeglichen. Das SIS kann zudem Gesichtsbilder speichern, um diese etwa bei der Grenzkontrolle zur Identifizierung zu nutzen. Außerdem sollen Ausschreibungen zu unbekannten Tatverdächtigen möglich sein, nach denen mithilfe des SIS über ihre Finger- oder Handballenabdrücke gefahndet wird. Auch an Tatorten gefundene DNA-Profile können gespeichert und verarbeitet werden.
Wie bei Eurodac soll auch die Polizeiagentur Europol umfassenden Zugang zu den SIS-Daten erhalten und "zusätzliche Informationen" mit den Mitgliedstaaten austauschen dürfen. Die Mitgliedstaaten sollen Europol immer informieren, wenn eine Person im Zusammenhang mit einer terroristischen Straftat gesucht wird. Das bei Europol angesiedelte "Europäische Zentrum zur Terrorismusbekämpfung" gleicht die Personendaten dann mit seinen eigenen Datenbanken ab. Auch die Grenzagentur Frontex soll Zugriff auf die Ausschreibungskategorien des SIS erhalten.
Nationale Visa in zentralem EU-System
Schließlich will die Europäische Union auch die Verordnung für das Visa-Informationssystem (VIS) ändern. Einen entsprechenden Vorschlag hatte die Kommission im Mai dieses Jahres veröffentlicht. Im Zentralsystem des VIS speichern die Mitgliedstaaten Angaben zu jedem Antrag für ein Schengen-Visum, darunter Personendaten des Antragstellers, deren Foto und Fingerabdrücke sowie Angaben zur geplanten Reise. Auch die Daten der Einlader werden erhoben. Nach Erteilung des Visums wird der Antragsdatensatz um die Art und die Gültigkeitsdauer des Visums sowie das Gebiet, in das der Inhaber reisen darf, ergänzt. Im sogenannten Visa-Konsultationsverfahren werden vor Erteilung eines Schengenvisums alle Schengenpartnerstaaten um ihre Zustimmung befragt. Wird das Visum abgelehnt oder annulliert, wird auch dies gespeichert.
Bereits bei der Antragsstellung sollen jetzt Gesichtsbilder aufgenommen werden. Wie in Eurodac würden auch im VIS die biometrischen Daten von Kindern ab sechs Jahren verarbeitet. Fingerabdrücke, die mit einer Zweckbindung für das VIS erhoben wurden, sollen auch für die Ausschreibung im SIS genutzt werden dürfen. Um etwaige Abschiebungen nach einer Nichtausreise zu erleichtern, könnten Passkopien im VIS gespeichert werden. Der Zugriff der Behörden wird den Plänen zufolge erleichtert und erweitert, auch Europol und Frontex dürfen die Daten nutzen. Im "Treffer/kein Treffer"-Verfahren wäre eine Abfrage sogar durch Reiseveranstalter oder andere private Firmen erlaubt.
Zukünftig sollen im VIS auch Personen gespeichert werden, die von einem Mitgliedstaat ein auf das eigene Hoheitsgebiet beschränktes Visum erhalten haben. Auch die Ablehnung eines solchen nationalen Aufenthaltstitels würde im VIS protokolliert. Die Kommission will außerdem "Risiko-Indikatoren" einführen. Sie sollen auf statistischen Daten beruhen, die aus den Mitgliedsstaaten zu "Bedrohungen, ungewöhnlichen Zahlen von Ablehnungen oder Überziehungen bestimmter Kategorien von Drittstaatenangehörigen oder Risiken der öffentlichen Gesundheit" geliefert werden. Die Informationen würden bei der Bewertung von Visaanträgen berücksichtigt.
Zusammenführung der "Datentöpfe" ab 2020
Die Vorschläge zur Erneuerung der Verordnungen für Eurodac, SIS und VIS stehen im Kontext der geplanten Zusammenlegung europäischer Datenbanken. Unter dem Stichwort "Interoperabilität" hatte die Kommission hierzu ebenfalls einen Verordnungsentwurf präsentiert.
Vorgesehen ist ein gemeinsames "Europäisches Suchportal", das bei einer Kontrolle auch Interpol- und Europol-Systeme abfragt. Fingerabdrücke und Gesichtsbilder, die von Drittstaatenangehörigen im Rahmen der einzelnen EU-Datenbanken erhoben werden, sollen in einem "gemeinsamen Dienst für den Abgleich biometrischer Daten" zentral gespeichert und durchsuchbar gemacht werden. Zusammen mit den Personendaten werden die biometrischen Daten in einem "gemeinsamen Identitätsspeicher" abgelegt. Dieser neue "Datentopf" erhält zudem einen "Detektor für Mehrfachidentitäten", der Fingerabdrücke und Gesichtsbilder mit Personendaten abgleichen und Unregelmäßigkeiten aufspüren soll.
Die Systeme Eurodac, SIS und VIS sind bei der EU-Agentur für den Betrieb der großen IT-Systeme (eu-LISA) angesiedelt. Vor zwei Jahren hat der Rat die Verordnung über ein "Einreise/Ausreisesystem" (EES) angenommen, das alle Grenzübertritte sowie Einreiseverweigerungsdaten von Drittstaatsangehörigen an den EU-Außengrenzen erfasst.
Ein zusätzlich anvisiertes EU-weites Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS) soll die bestehenden Datenbanken durch die vorzeitige Angabe von geplanten Grenzübertritten ergänzen. Beide neuen Systeme sollen ebenfalls von eu-LISA verwaltet werden. Nach Verabschiedung der "Interoperabilitätsverordnung" könnte ab 2020 die technische Umsetzung beginnen.
Auf den großen EU-Datenbanken sind laut einer Antwort der Kommission biometrische Erkennungssysteme der Firmen Idemia und Gemalto installiert, bei Europol läuft ein biometrisches Identifizierungssystem von Sopra Steria.
Noch ist unklar, welche Firma den Zuschlag für die "Interoperabilitätslösung" bekommt. Dass sie sich lohnt, ist jedenfalls gewiss: Die neue virtuelle Grenze würde in den nächsten zehn Jahren mindestens 425 Millionen Euro kosten, dabei ist der Anschluss jedes Mitgliedsstaats an das Zentralsystem allerdings noch nicht eingerechnet.
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