"Militante Islamisten haben niemals das traditionelle islamische Leben erlebt"
Tamim Ansary erläutert, warum und wie sich die Weltgeschichte aus islamischer Sicht darstellen lässt und was dies mit dem modernen Islamismus zu tun hat
Tamim Ansary ist afghanisch-amerikanischer Schriftsteller und Historiker. Seine Mutter war Amerikanerin mit finnisch-jüdischen Wurzeln, sein Vater war Dozent an der Kabuler Universität und stammt aus einer angesehenen afghanischen Familie, die große islamische Gelehrte hervorbrachte. In seinem neuen Buch Die unbekannte Welt - Globalgeschichte aus islamischer Sicht, das gerade auf Deutsch im Campus-Verlag erschienen ist, unternimmt Ansary den Versuch dem eurozentrischen Geschichtsmodell eine Alternative gegenüberzustellen. Eren Güvercin sprach für Telepolis mit Ansary über die islamische Parallelgeschichte, den Hintergrund des Islamismus und den Karl Marx des Islam.
In Ihrem neuen Buch "Die unbekannte Mitte der Welt – Globalgeschichte aus islamischer Sicht" erklären Sie, dass die Weltgeschichte aus islamischer Sicht anders gesehen wird. Wo liegt der Unterschied zur westlichen Sicht?
Tamim Ansary: Zunächst geht die westliche Weltgeschichte davon aus, dass die Menschheitsgeschichte ihren Anfang in den Ländern und Kulturen am Mittelmeer genommen hat, weil in der Vergangenheit einer der dichtesten Knoten der Handels- und Reisewege in dem Binnenmeer gewesen ist. Jeder, der am Mittelmeer oder in dessen Nähe wohnte, konnte mit großer Wahrscheinlichkeit von anderen hören oder mit denjenigen interagieren, die auch in dieser Region lebten.
Aber es gab auch weiter östlich einen großen Knoten von Handels- und Reisewegen nicht auf dem Meer, sondern auf dem Land. Er verband alle Kulturen, die an großen Wasserflächen wie dem Kaspischen Meer, dem Schwarzem Meer, dem Mittelmeer, dem Roten Meer, dem Arabischen Meer, dem Persischen Golf oder dem Indus oder in deren Nähe lebten. Menschen, die irgendwo in der Nähe dieser Routen lebten, haben höchstwahrscheinlich voneinander gehört oder vielleicht sogar miteinander zu tun gehabt. Daher war es für die Menschen in dieser Region, die ich im Unterschied zur ostasiatischen Welt und der Welt des Mittelmeeres als Mittlere Welt bezeichnete, normal, ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln und zu denken, dass sie im Zentrum der menschlichen Geschichte stehen.
Während beide Narrative in Mesopotamien (und in Ägypten) beginnen, folgt das westliche Narrativ dann einer Linie durch das antike Griechenland, das Römische Reich, das Mittelalter, die Renaissance und Reformation, den Aufstieg der Wissenschaft durch die Aufklärung, die Industrielle Revolution und in das moderne Zeitalter. Ich behaupte, es gibt ein paralleles und gleichermaßen "welthistorisches" Narrativ, das in der Mittleren Welt zentriert ist und von den alten Zivilisationen Mesopotamiens über das Persische Reich, das nacheinander von den Achämeniden, den Parthern und den Sassaniden regiert wurde, und dann zum Aufstieg des Islams führt, der sich sofort in der ganzen Mittleren Welt ausbreitete. Darauf folgen das Kalifat, das ein ebenso großes Weltreich wie Rom sein wollte, der Zerfall des Kalifats und der Ankunft der türkischen Nomaden aus dem Norden, analog zum Niedergang Roms und der Invasion der Germanen aus dem Norden. Darauf folgt der kurze, aber katastrophal dunkle Moment des mongolischen Holocaust, nach dem die Wiederkehr der Zivilisation mit dem Aufstieg des Osmanischen, Safawidischen und Mogulreichs.
Bis zu dieser Zeit können wir zwei mehr oder weniger parallele welthistorische Narrative sehen, die sich nebeneinander entwickelt haben und sich nur begrenzt gegenseitig wahrgenommen haben. Aber dann entdeckte der Westen die Seemacht und die Technik, verbreitete sich auf dem ganzen Globus und beherrschte alle anderen Kulturen, auch die islamischen. Mit der westlichen Herrschaft kam das islamische Projekt zum Erliegen, eine universale islamische Gesellschaft aufzubauen. Dieser Abbruch inspirierte eine Vielzahl von "Reformbewegungen". Mit den Erben, Nachkommen und Resten dieser Reformbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts haben wir es heute zu tun.
Sie beschreiben auch die Entwicklungen im Islam und innerhalb der sogenannten Reformbewegungen bei den Wahhabiten und Anhänger von Dschama ad-Din al-Afghani. Heute werden sie in den Medien als "Islamisten" bezeichnet. Was sind Islamisten? Welchen ideologischen Hintergrund haben sie? Und gibt es Unterschiede zwischen Islamisten?
Tamim Ansary: Der Begriff des Islamismus bezieht sich normalerweise auf revolutionäre Radikale, für die die frühe muslimische Gemeinschaft ein utopisches politisches Modell für die Zukunft darstellt. In dieser vorgeschlagenen Utopie soll es keinen weltlichen Bereich und keine Trennung zwischen Staat und Kirche geben. Die Scharia soll das Landesgesetz sein. Praktisch sind Islamisten, wie ich denke, oft Antiimperialisten, die glauben, dass islamische Metaphern und Vorstellungen sowie islamische Rhetorik und Sprache wirksame Mittel sind, um politischen Widerstand bei den Muslimen gegen ausländische Herrschaft herzustellen und zu organisieren.
Ziemlich oft können Islamisten ihre Ideologie auf viele Jahre, sogar Jahrhunderte herrschende Missstände wie Armut, Unterentwicklung und tief verwurzelte soziale Ungerechtigkeiten projizieren. Die Kommunisten hatten dieselben Missstände ausgebeutet, um zu versuchen, revolutionäre sozialistische Bewegungen gegen den kapitalistischen Imperialismus aufzubauen. Aber die Sprache des Marxismus erreicht viele der Muslime nicht, die am meisten unter der sozialen Ungerechtigkeit leiden, weil sie meist zu den ärmsten, überwiegend auf dem Land lebenden, traditionellsten und religiösesten Menschen in den muslimischen Ländern gehören.
Da ihr Leben bereits von Religion geprägt wird, klingt die religiöse Sprache der Islamisten und die Vorstellung einer Gesellschaft ohne weltlichen Bereich, in der das religiöse Gesetz das einzige ist, nicht alarmierend, wie dies für viele Menschen im Westen der Fall ist. Der Islamismus stellt auch einen Rahmen bereit, in dem entfremdete und enteignete Muslime im Westen das Gefühl einer souveränen Identität und Sinnhaftigkeit finden können.
Es gibt, wie ich sagen würde, Unterschiede zwischen verschiedenen islamistischen Gruppen und verschiedenen Strömungen innerhalb des Islamismus, aber das ist zu kompliziert, um das hier auseinander legen zu können. Im Allgemeinen ist es jedoch meiner Meinung nach wichtig, zwischen dem Islamismus, der eine politische Bewegung ist, und dem Islam zu unterscheiden, der ein zivilisatorischer Zeitgeist ist und sich durch die Geschichte bewegt.
Al-Afghani, der Marx des Islam
In Ihrem Buch sagen Sie, dass Al-Afghani der Karl Marx des Islam sei. Ist es denn notwendig, auf Menschen wie Afghani und ihre Zeit zu schauen, wenn wir die alarmierenden Entwicklungen heute verstehen wollen?
Tamim Ansary: Ich vergleiche al-Afghani mit Karl Marx, weil er die grundlegenden Ideen des Islamismus geprägt hat. Erstens, dass lokale Missstände und Kämpfe in Gesellschaften, die so verschieden sind wie Algerien und Indien, alle in Wirklichkeit Teil eines großen Kampfes zwischen zwei Mächten sind – dem Islam und dem Westen. Er hat nicht genau dieses "Islam gegen den Westen"-Konzept erfunden, die Idee lag zu seiner Zeit in der Luft, aber er war wahrscheinlich ihr überragendster und einflussreichster frühe Exponent. Mit der Ausgestaltung dieser Idee legte er die Grundlage für den apokalyptischen Millenarismus, der die politischen islamistischen Bewegungen umtreibt.
Zweitens erklärte al-Afghani, dass sich Muslime von der westlichen Wissenschaft abgewandt und die westlichen gesellschaftlichen Sitten übernommen haben, sie aber die westliche Wissenschaft übernehmen und die gesellschaftlichen Sitten zurückweisen müssten.
Und drittens predigte Al-Afghani, dass der Islam nicht nur eine Religion, sondern ein Programm zur Regierung der Gesellschaft sei, das in seiner Gesamtheit funktionieren kann. So sind der Panislamismus, der wissenschaftszentrierte Modernismus und die Kooptation des Islam als politisches Programm Erbschaften von al-Afghani, die durch eine Vielzahl von Aktivisten, die er beeinflusst hat, darunter auch die ägyptische Muslimbruderschaft, aus der sich so vieles entwickelte, ihren Weg in die moderne Welt gefunden haben.
In Ihrem Buch "West of Kabul, East of New York" sagen Sie, dass militante Islamisten normalerweise niemals traditionelles islamisches Leben kennen gelernt haben und versuchen, etwas wieder zu erschaffen, was sie nicht erfahren haben. Was meinen Sie damit?
Tamim Ansary: In diesem Buch bezog ich mich vor allem auf die Taliban, die in Afghanistan von 1996 bis 2001 herrschten. Ich wollte zeigen, dass die Masse der Taliban-Kämpfer afghanische Jugendliche waren, die in Flüchtlingslagern an der pakistanischen Grenze aufgewachsen waren. Sie haben niemals das traditionelle Leben des alten Afghanistan vor Mitte der 1960er Jahre erlebt, als das Land noch relativ friedlich war.
Das alte Afghanistan war eine reichhaltige und differenzierte Gesellschaft. Die Jungen in den Lagern wuchsen in einer harten und einfachen Umwelt auf, ohne Lehrer, Verwandten, festen Verwandtschaftssystemen, ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Ort oder der Geschichte der Vorfahren. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Taliban tatsächlich "militante Extremisten" nennen würde. Die arabischen Revolutionäre und andere ausländische Dschihadisten, die damals in Afghanistan operierten (und dies noch immer tun) und die diese Jungen ausbeuteten, waren militante Extremisten. Aber viele der Taliban damals (und heute) gleichen viel eher konservativen lokalen Menschen, die wild entschlossen sind, ihre Welt von Außenseitern zu reinigen, wozu auch die Regierung in Kabul gehört, die zwar afghanisch war, aber für sie dennoch ausländisch.
Der Krieg in Afghanistan ist nicht zu gewinnen
Sie leben in San Francisco. Wann waren sie das letzte Mal in Afghanistan? Wie ist die Situation jetzt unter Karsai?
Tamim Ansary: Ich war zuletzt 2002 in Afghanistan, kurz nachdem die Taliban aus Kabul geflohen waren und eine von den USA unterstützte Loya Jirga die Karsai-Regierung bestätigte. Zu dieser Zeit war Afghanistan ein fröhliches Land, weil jeder glaubte, dass nun ein Vierteljahrhundert des Krieges beendet war und der lange ersehnte Wiederaufbau beginnen wird. Die Jahre seitdem waren für Afghanistan nicht schön. Der Wiederaufbau ist durch Korruption und Sabotage von Gruppen von Störenfrieden ins Stocken geraten, die von den Medien allesamt unter dem einfachen und vereinfachenden Titel "Taliban" eingeordnet wurden.
Die unheilvolle Tatsache ist, dass die USA in eine ganz ähnliche Situation wie die Sowjets in den 1980er Jahren geraten sind: eingeschlossen in verbarrikadierten Städten und Festungen und ein mit Aufständischen gefülltes Land bombardierend. Obwohl ich der Überzeugung bin, dass viele amerikanische Politiker und Soldaten ehrlich daran glauben, es sei die Mission der USA, Afghanistan von einer repressiven und rückwärts gewandten Macht zu befreien, ist es die Realität, dass sich die westlichen Streitkräfte zunehmend mehr im Krieg mit den Afghanen befinden. In einem Krieg zwischen den USA und den Afghanen können die USA nicht gewinnen. Die Afghanen können allerdings auch nicht "gewinnen", aber sie werden den Krieg erdulden und unter ihm leiden.
In Europa gab eine Welle kontroverser Diskussionen über den Islam und den Bau neuer Moscheen. Ist der Islam geschichtlich ein Teil der europäischen Kultur oder ein störendes Element?
Tamim Ansary: Der Islam ist ein großes historisches Phänomen und hat sich über die Zeit hinweg auf viele Weisen manifestiert. Die Tatsache, dass muslimische Philosophen des frühen Kalifats die ersten waren, die sich einer wissenschaftlichen Weltsicht näherten, lässt einige der Möglichkeiten der islamischen Kultur für fortschrittliche Gedanken erkennen. Gleichzeitig ist es für Muslime wichtig, mit der Tatsache zurechtzukommen, dass die wissenschaftlichen Fortschritte in der islamischen Welt nicht von den Schriftgelehrten gemacht wurden, die in den späten Tagen des Kalifats die Kontrolle über den Islam übernommen hatten und die behaupteten, dass ihre Interpretation der islamischen Lehre Gott gegeben sei – und dies unabhängig von der Frage, welche der Interpretationen gerade vorherrschte. In anderen Worten: Die glorreichen Erfolge des Goldenen Zeitalters des Islam können weder von den Islamisten noch von den konservativen islamischen Gelehrten von heute berechtigt vereinnahmt werden. Damals waren dies andere Muslime, die einer grundsätzlich anderen Interpretation des Islam folgten.
Die heutigen Islamisten beanspruchen auch die Autorität, den Islam für alle Muslime zu definieren, und sie haben es in gewissem Maße auch erreicht, andere Stimmen in der muslimischen Gemeinschaft einzuschüchtern. Doch das Wesen des Islam bleibt ein Diskussionsthema unter den Muslimen, und ich würde sagen, dass jeder Muslim das Recht besitzt, einen Beitrag zu dieser Diskussion zu leisten. Keine Interpretation hat ein Vorrecht über die einer anderen Person.
Und was den Bau neuer Moscheen betrifft: Eine Moschee ist ein Ort für Gottesdienste und sie ist ein Gemeinschaftszentrum. Ich sehe keinen Grund, warum es zu Auseinandersetzungen kommen sollte, wenn Muslime Moscheen dort bauen, wo sie leben.
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