"Mit Leib und Seele in den Kampf gegen das Virus gestürzt"

Grafik: TP

UK: Opposition und Medien kritisieren Premierminister Johnson

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Heute wurde die britische Monarchin Elizabeth II. 94 Jahre alt. Anders als an ihren Geburtstagen davor hörte man dazu allerdings keine Salutschüsse. Die, so der Buckingham-Palast in einer Stellungnahme dazu, halte man angesichts der aktuellen Situation für unangemessen. Damit meinte er die Coronakrise, die im Vereinigten Königreich nachhaltigere Auswirkungen zu haben scheint als in vielen anderen Ländern: Während man in Österreich und Bayern schon den Ausstieg aus dem Seuchen-Lockdown beschritten hat, sagt der britische Außenminister Raab, es sei "noch zu früh, sich zu Ausstiegsszenarien zu äußern".

Dass Raab - und nicht Premierminister Boris Johnson - die als maßgeblich gewertete Stellungnahme dazu abgab, lag daran, dass sich sein Chef Ende März selbst das Sars-CoV-2-Virus einfing und an der Lungenkrankheit Covid-19 erkrankte. So sehr, dass der 55-Jährige nicht nur ins Krankenhaus musste, sondern dort auch auf der Intensivstation lag. Seine 32-jährige aktuelle Verlobte Carrie Symonds überstand die Krankheit dagegen trotz ihrer Schwangerschaft mit leichten Symptomen.

Times: Johnson schwänzte vor seiner Erkrankung fünf Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats zur Coronakrise

Inzwischen geht es Johnson zwar wieder besser, aber er hält sich noch immer nicht in der Downing Street im Lockdown-London auf, sondern auf Chequers, dem Landgut der britischen Premierminister. Von dort aus kommuniziert er über Videochats mit Raab und anderen Kabinettsmitgliedern, die Aufgaben für ihn wahrnehmen. Dazu gehört auch Staatsminister Michael Gove, der am Sonntag auf Sky News Vorwürfe der Opposition und der britischen Presse als "grotesk" zurückwies und meinte, niemand könne behaupten, "dass der Premierminister sich nicht mit Leib und Seele in den Kampf gegen das Virus gestürzt hat".

Vorher hatte die Times berichtet, dass Johnson vor seiner Erkrankung fünf Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats zur Coronakrise geschwänzt habe. Darüber hinaus seien von der britischen Staatsführung Warnungen von Medizinern und Mahnungen zu einem drohenden Mangel an Schutzausrüstung ignoriert worden, was "möglicherweise Tausende von Menschenleben gekostet" habe.

Hilfslieferung aus der Türkei

Dass es nun einen Mangel an Schutzausrüstung gibt, bestreitet aber auch Gove nicht. Dieser Mangel geht so weit, dass die Türkei - das Herkunftsland von Johnsons Großvater - letzte Woche mit einer 84 Tonnen schweren Lieferung aushelfen musste. Neben den auch in anderen Ländern knappen oder knapp gewesenen Beatmungsgeräten und Schutzmasken fehlen im UK auch Sauerstoffflaschen und langärmlige Einwegkittel. Dass deshalb nun auf britischen Intensivstationen auch andere Kleidungsstücke getragen werden dürfen, bringt Gewerkschaftsvertretern nach höhere Risiken für Krankenschwestern, Ärzte und Patienten mit sich.

Der offiziellen Regierungsstatistik nach steckten sich im UK bis heute 129.044 Menschen mit Sars-CoV-2 an. Mindestens 17.337 starben daran. Es könnten jedoch noch deutlich mehr sein, weil die britischen Behörden relativ wenige Tests durchführen und nur die Kranken zählen, die in Krankenhäusern gestorben sind. Wie in Wuhan, wo man deshalb unlängst die Zahl der Toten um 50 Prozent nach oben korrigieren musste.

Erweisen sich Schätzungen des britischen Branchenverbands der Pflegeheime als zutreffend, nach denen es bis zu 7.500 zusätzliche Covid-19-Tote in Pflegeheimen gegeben haben könnte, dann würde Großbritannien in der Liste der Coronatoten pro Kopf, in der es derzeit an fünfter Stelle steht, Frankreich überholen und nach vorne rücken.

Hotspot London

"Hotspot" der Sars-CoV-2-Infektionen im Vereinigten Königreich ist neben Southwad und Brent die Metropole London. Hier war die U-Bahn selbst dann noch voll, als die Regierung im März ihre Herdenimmunitätsstrategie änderte und Ausgangsbeschränkungen verhängte (vgl. UK: Johnson zieht Ausgangsbremse an, U-Bahn trotzdem voll). Einer gerade erschienenen Studie des Ökonomen Jeffrey E. Harris vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) zufolge könnte das maßgeblich zur Ausbreitung des Virus beigetragen haben.

Harris hat sich die Entwicklung der Infektionen im ebenfalls besonders betroffenen New York genau angesehen und kam damit zum Ergebnis, dass die dortige U-Bahn ein "Hauptverbreiter" der Seuche gewesen sein muss. Das schließt er nicht nur daraus, dass die Geschwindigkeit der Ansteckung an Stationen, an denen Menschen leben, die nicht unbedingt auf ihre Nutzung angewiesen sind, deutlich stärker zurückging als in Gegenden, in denen den Anwohnern oft kein anderes Verkehrsmittel zur Verfügung steht. Die nach den Ausgangsbeschränkungen gefällte Entscheidung der Verkehrsbetriebe, weniger Züge fahren zu lassen, könnte sich deshalb als volkswirtschaftlich gesehen eher teure Sparmaßnahme erweisen.

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