Mit der Türkei wurden "weder Lösungen noch Kompromisse erreicht"
Sultan Erdogan präsentiert sich auf dem EU-Türkei-Gipfel in Varna als lupenreiner Demokrat
Der 26. März eines jeden Jahres wird in Bulgarien als Thrakien-Tag begangen. Die Bulgaren gedenken an ihm des Sturms der Festung Odrin (heute türk. Edirne), der am 26. März 1913 den Ersten Balkankrieg zugunsten Bulgariens beendete. Zugleich erinnern sie sich schmerzhaft der wenige Monate später folgenden Niederlage im Zweiten Balkankrieg, die hunderttausende Bulgaren zur Flucht aus ihren angestammten Siedlungsgebiete in der heute türkischen Region Ost-Thrakien zwang und zigtausenden Menschen das Leben kostete.
Ausgerechnet zum historisch belasteten 26. März 2018 lud Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissov den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in die bulgarische Schwarzmeer-Kapitale Varna ein. Bei einem Abendessen im ehemaligen Zarenschloss Euxinograd sollte er mit den EU-Führern Jean-Claude Juncker und Donald Tusk die festgefahrenen Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union zu besprechen.
Im Zentrum Varnas protestierten Nachfahren der einstigen thrakischen Flüchtlinge gegen den Besuch des "Sultans Erdogan" am Thrakien-Tag. Ihrem Regierungschef Borissov warfen sie mangelnde historische Sensibilität vor. Die Organisation der thrakischen Bulgaren fordern seit vielen Jahren vergeblich Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe für die von ihren Vorfahren in Ost-Thrakien zurückgelassenen Immobilien. Er werde das Thema mit Erdogan besprechen, sicherte Borissov zu und erklärte sogleich, er wolle den Varnaer Gipfel nicht durch historische Streitfragen der bulgarisch-türkischen Beziehungen belasten. Diese seien in einer bilateral besetzten Arbeitsgruppe zu besprechen. Tatsächlich gibt es eine solche bereits seit dem Jahr 2009, seit 2013 ist sie aber nicht mehr zusammengekommen.
Als Bulgariens Regierung zum Ende des vergangenen Jahres den Halbjahresplan für ihre EU-Ratspräsidentschaft präsentierte, war darin zwar ein Westbalkan-Gipfel für Mitte Mai 2018 vorgesehen, aber kein Termin für die Türkei. Erst als türkische Medien die Missachtung ihres Landes kritisierten und darauf hinwiesen, immerhin sei die Türkei seit 1999 offizieller EU-Beitrittskandidat, initiierte Bulgariens Premier Borissov den Varnaer Gipfel zwischen EU und der Türkei. EU-Kommissionspräsident Juncker und EU-Ratspräsident Tusk konnten sich indes erst zum Ende der vergangenen Woche dazu durchringen, ihr Treffen mit dem Autokraten Erdogan zu bestätigen.
Junckers und Tusks Zieren war beredter Ausdruck für die Zerrüttung des Verhältnisses zwischen der EU und der Türkei. Es hat nicht nur durch die katastrophale Verschlechterung der dortigen Menschenrechtslage in der Folge des Putschversuchs vom Sommer 2016 gelitten, sondern wird auch immer wieder aufs Neue durch Erdogans außenpolitische Provokationen strapaziert. "Es ist wie eine schlechte Ehe, die man nicht scheiden kann, man lebt unglücklich zusammen, hat aber dennoch auch gemeinsame Interessen", kommentierte dies Gerald Knaus. Er hat mit seiner Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) maßgeblich zur Schaffung des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei beigetragen.
Erdogan: Die EU solll die Türkei nicht ständig kritisieren
Die Türkei sei ein die Menschenrechte respektierender Rechtsstaat beteuerte Recep Tayyip Erdogan auf der Pressekonferenz nach dem Varnaer Gipfel und forderte, die EU solle sein Land nicht ständig kritisieren. Angesichts tausender unrechtmäßig inhaftierter Richter, Staatsanwälte, Journalisten und Oppositionspolitiker klingt Erdogans Beschreibung der Türkei als Rechtsstaat ebenso zynisch wie seine Bezeichnung der türkischen Militäroperationen gegen syrische Kurden als "Kampf gegen den Terrorismus". Laut Erdogan strebt die Türkei noch immer die Vollmitgliedschaft in der EU, seine autokratische Willkürherrschaft und seine unverhohlen irredentistische Rhetorik lassen diese allerdings als unrealistisch erscheinen.
Der die territorialen Ansprüche der Türkei und Griechenlands regelnde Vertrag von Lausanne von 1923 sei revisionsbedürftig, erklärte Erdogan Anfang Dezember 2017 bei seinem Staatsbesuch in Athen. Am 11. März 2018 sagte Erdogan auf einer Parteiveranstaltung, die "geistigen Grenzen der Türkei" reichten bis nach Kardschali, das heute eine von ethnischen Türken besiedelte Stadt im Südosten Bulgariens ist.
Über derlei Verbalattacken ist Ankara zuletzt noch hinausgegangen; so behinderten türkische Militärschiffe Gasprobebohrungen in zypriotischen Hoheitsgewässern und zwei griechische Grenzsoldaten, die bei schlechter Sicht auf türkisches Gebiet geraten, werden bis heute in der Türkei festgehalten. Unmittelbar nach dem Varnaer EU-Türkei-Gipfel drangen türkische Kampfflugzeuge wiederholt in den griechischen Luftraum ein.
Dass sich Donald Tusk und Jean-Claud Juncker letztlich doch zum Rendezvous mit Erdogan in Varna entscheiden konnten, kann als freundliche Geste an den bulgarischen Regierungschef gelten. Boiko Borissov gehört politisch zwar der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) an, hat sich in seinem Regierungshandeln seit dem Sommer 2009 aber als harmoniebedürftiger Populist erwiesen. Er legt in seinen außenpolitischen Beziehungen weniger Wert auf Prinzipientreue als darauf, mit seinen Gesprächspartnern gut Freund zu sein.
Im nachbarschaftlichen Verhältnis zu Erdogans Türkei geht es ihm nicht so sehr um die dortige Menschenrechtssituation oder die Militärschläge gegen die syrischen Kurden, sondern vor allem um das nationale Interesse Bulgariens. Dieses sieht Borissov darin gewährleistet, so lange sein Freund "Taipi" Erdogan die auf türkischem Territorium befindlichen Flüchtlinge nicht über die Grenze zu Bulgarien schickt.
Juncker: Zurückhaltung der Flüchtlinge ist die Solidarität der Türkei mit der EU
Auf der den Varnaer Gipfel abschließenden Pressekonferenz dankte EU-Ratspräsident Donald Tusk der Türkei, dass sie den mehr als drei Millionen Flüchtlingen auf ihrem Territorium Schutz gewähre. Die EU würde der Türkei weiterhin Unterstützung gewähren und das Flüchtlingsabkommen mit gemeinsam umsetzen, erklärte Tusk. Schließlich resümierte er das Varner Treffen in kritischen Worten. Bei den strittigen Fragen der Menschenrechte, der türkischen Militäroperationen, den Vorfällen in der Ägäis und den Inhaftierungen europäischer Bürger seien "weder Lösungen noch Kompromisse erreicht worden". Dennoch, so hoffe er, werde die gegenseitige Partnerschaft fortgesetzt.
Von den von der EU versprochenen 3 Mrd € zur Unterstützung der in der Türkei befindlichen Flüchtlinge seien bisher lediglich 1,8 Mrd € ausgezahlt worden, klagte seinerseits Recep Tayyip Erdogan. Er hoffe, eine zusätzliche Tranche von 3 Mrd € werde dazu beitragen, das Leben der Flüchtlinge in der Türkei zu erleichtern.
Der türkische Präsident forderte Fortschritte bei der Zollunion und eine baldige Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen. "Die EU-Staaten sind unsere strategischen Partner und es wäre ein Fehler, sie würden die Türkei isolieren, denn wir sind ein dynamisches Land mit einer jungen Bevölkerung und haben dauerhafte wirtschaftliche Beziehungen", sagte Erdogan.
Gewohnt diplomatisch dankte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Erdogan dafür, dass sich die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Europa kämen, um 87% verringert habe. Damit erweise die Türkische Republik ihre Solidarität mit der EU. Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissov stellte abschließend in Aussicht, noch im Rahmen der bis zum Ende Juni 2018 dauernden bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft könne es zu einem weiteren Gipfel zwischen der EU und der Türkei kommen.
Von der sozialistischen Opposition erhielt Borissov indes scharfe Kritik. Kornelia Ninova, Vorsitzende der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), verlangte eine Veröffentlichung der Stenogramme der Gespräche auf dem Varnaer Gipfel. Dann werde deutlich, dass es keinerlei konkrete Resultate und Fortschritte in irgend einer der strittigen Frage gegeben habe, nicht im Streit mit Griechenland, nicht bei der "Zypern-Frage", nicht bei den EU-Beitrittsbemühungen der Türkei und auch nicht in der Frage der Erleichterung beim Visa-Regime für die türkischen Bürger bei Reisen in der EU und schon gar nicht bei der Forderung nach Entschädigung für die thrakischen Bulgaren.