Mit verordneter Amnesie in die neue Weltkriegslage
Seite 5: Die Leistung der patriotischen Moral
Dass bei den hiesigen Produzenten und Konsumenten der öffentlichen Meinung das Ignorieren solcher Sachverhalte – deren Aufdeckung wahrlich keiner großen analytischen Anstrengung bedarf – flächendeckend gegriffen hat, ist ein bemerkenswerter Akt der Volksverdummung.
Analoge Vorgänge, das sei hier nur am Rande vermerkt, kann man natürlich auch in der Öffentlichkeit der Russischen Föderation beobachten, wo zudem staatliche Zensurmaßnahmen notwendig waren, um einen (anscheinend nicht ganz linientreuen) Medienbetrieb gleichzuschalten.
Diese erstaunliche Geistesleistung, banale Fakten auszuklammern und damit Rätsel über die bösartigen oder irrsinnigen Absichten des gegnerischen Kriegsherrn zu verfertigen, liegt nicht an fehlendem Verständnis. Hier wird vielmehr eine Gesinnungswende praktiziert, die auf einem festen geistigen Fundament gründet und die eigentlich gar nicht viel an Wende und Umstellung mit sich bringt. Dazu abschließend nur einige Hinweise.
Wenn die Außenministerin Baerbock Russland jetzt einen "Bruch der Zivilisation" vorwirft und damit "unmittelbar an den Begriff ‚Zivilisationsbruch‘ (erinnert), der oft im Kontext des Holocausts verwendet wird", dann kassiert die grüne Politikerin den Ertrag einer moralischen Veranstaltung ein, die in der BRD gerade von grüner Seite besondere Unterstützung fand: die Vergangenheitsbewältigung im Hinblick auf den Nationalsozialismus.
Man bewältigte die Nazi-Herrschaft nämlich so, dass man gegen das absolute Böse der damaligen Staatsmacher die eigene Güte herausstellte. Indem man sich zur Singularität eines Menschheitsverbrechens bekannte, hatte man den singulären Charakter seiner nationalen Läuterung unter Beweis gestellt.
Dank diesem Moralismus, der die landläufige patriotische Moral bediente und veredelte (teils auch provozierte), kann Deutschland mittlerweile mit imperialer Selbstgerechtigkeit auftrumpfen. Die Nation, die einst mit der Zivilisation brach, hat – weil sie den Fehler ihres damaligen imperialistischen Alleingangs eingesehen hat – alles Recht der Welt, andere Nationen an den Pranger zu stellen.
Kurz gesagt: Deutschland bleibt sich treu und der neue Feind der alte: Russland.
Alternative Optionen des Patriotismus
Es erscheint dabei wie eine Absurdität, dass gerade die grünen Friedensfreunde, die in ihrer Aufstiegsphase noch Hunderttausende zum Protest gegen die Nato-Nachrüstung mobilisierten – damit der Frontstaat Bundesrepublik nicht zum atomaren Schlachtfeld mutiere –, heute wieder Panzer Richtung Russland losschicken und munter eskalieren, während die AfD der in Stalingrad gefallenen Soldaten gedenkt und der Parteivorsitzende Tino Chrupalla dem russischen Botschafter die Hand reicht.
Der AfD-Chef hat bekanntlich sogar den Friedensappell von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht unterschrieben. So hat der Nationalismus der ehemaligen Friedensbewegung, der das Vaterland vor Krieg schützen wollte, heute seine Heimat bei den Rechten, die nach dem nationalen Ertrag der ganzen Eskalation fragen. Deutsche Interessen müssen für sie eben ganz "unbefangen und tabulos auch für die Außenpolitik" an erster Stelle stehen.
Dass das ein "linker Protest von rechts" sein soll, ist natürlich lachhaft. Die AfD ist stramm national, sie hat ja ihren Aufstieg mit einer politischen Dummheit betrieben, nämlich mit der Anklage, die von den demokratischen Gutmenschen betriebene NS-Vergangenheitsbewältigung sei ein "Schuldkult", der Deutschland klein mache.
Das kann jetzt jedermann als Unsinn erkennen. Mit solchen – geschichtspolitisch genau austarierten – Bekenntnissen trumpft eine Nation diplomatisch auf, die Großes vorhat. Das ist der Anspruch, aus politischer Klugheit muss sie dann aber das imperialistische Kräfteverhältnis in Rechnung stellen.
Die offizielle deutsche Linie beugt sich der Einsicht: Die BRD ist unter US-Ägide zur Wirtschafts- und politischen Macht aufgestiegen und wird diesen Erfolgsweg fortsetzen, um zur "Führungsmacht" (Scholz), zur "Zentralmacht" (Lars Klingbeil, SPD), aufzusteigen.
Das alles geschieht also nicht zum Zweck der Unterordnung, sondern dazu, groß zu werden, es etwa so weit zu bringen, dass niemals mehr ein Ausländer es wagt, "einen Deutschen scheel anzusehen", wie es zu einer früheren "Zeitenwende" unter Kaiser Wilhelm II. hieß.
Und auf die preußische Tradition und das nationale Selbstbewusstsein der wilhelminischen Ära ist die AfD, die Bismarck verehrt und sich als deutsche Soldatenpartei versteht sowie für konsequente Aufrüstung votiert, besonders stolz.
Sie sieht die globalen Herausforderungen genauso wie etwa ein SPD-Außenminister Sigmar Gabriel, der vor sechs Jahren auf der Münchner Sicherheitskonferenz gegen den Trump-Kurs festhielt, "Amerika" könne "nicht die Führungsmacht bleiben"; die EU habe Anspruch auf "eine Partnerschaft auf Augenhöhe". Auf Augenhöhe heißt: Man blickt sich aufrecht in die Augen, nicht missgünstig, also "scheel", was der Kaiser damals gar nicht leiden konnte. So bleibt sich sogar die imperialistische Rhetorik in Deutschland seit hundert Jahren treu.
Die Dummheit der AfD hat indes nichts mit intellektuellen Defiziten zu tun. Der Partei fallen ja – gegen die verordnete Amnesie – seit dem 24.2.2022 durchaus Unaufrichtigkeiten der offiziellen Regierungslinie auf und Parteichefin Weidel hat sogar den Mut, gegen die "Zeitenwende"-Hysterie lautstark an die "Mitverantwortung des Westens für den Angriff Russlands" zu erinnern.
Daraus folgt dann aber wieder die leicht größenwahnsinnige Vorstellung von einer deutschen Aufsichtsrolle, wie sie mit Bismarcks Phrase vom "ehrlichen Makler" berühmt wurde. Die AfD-Politikerin warnte in der Bundestagsrede am 27.2.2022, man dürfe sich "nicht unreflektiert in einen Krieg hineinziehen lassen … Deutschland kann und sollte hier eine wichtige Rolle als ehrlicher Makler spielen".
Die AfD ist schlicht und ergreifend eine national bornierte Mannschaft – und dabei im grundsätzlichen Standpunkt mit dem demokratischen Spektrum in Übereinstimmung. Die alternative Rechtspartei teilt auch den Moralismus, wie er derzeit von der Ampelregierung in Anspruch genommen wird.
Sie wendet sich nur gegen die spezielle militärische Variante, die den nationalen Erfolg in der Einreihung ins imperialistische Kollektiv unter US-Führung sucht und dabei der Überzeugung folgt, man habe im ukrainischen Staat einen willfährigen Stellvertreter gefunden, der Land und Leute opfert, damit "wir" zu neuer Größe aufsteigen.
Die Ampel-Männer und Ampel-Frauen stehen dagegen auf dem Standpunkt eines klug gewordenen Deutschlands, das zweimal, 1914 und 1939, mit seinem "Griff nach der Weltmacht" scheiterte, weil es gegen den Rest der Welt antrat.
Die AfD sieht das nicht so eng. Sie ist aber auch nicht einfach für einen Alleingang. Sie könnte sich den neuen Aufstieg zur Weltmachtrolle eher als Zähmung des russischen Bären vorstellen, mit neuen bündnispolitischen Optionen auf dem Kontinent etc. – und hat in dem Fall sogar eine gewisse militärstrategische Expertise auf ihrer Seite.
Es gibt pensionierte Generäle, die davor warnen, "den Iwan" zu unterschätzen und die weltweite Geschlossenheit der eigenen Front zu überschätzen. Der Sache nach geht es hier also um einen Streit zwischen demokratischer Mitte und rechtem Rand darüber, wie man Weltkriege besser führt. Wer da der Dümmere oder der Klügere ist, das möchte man gar nicht wissen ...
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