"Mittendrin im Low-Cost-Fanatismus"

Symbolbild: ev/Unsplash

Frankreich nach dem tödlichen Terroranschlag auf eine Polizeimitarbeiterin: Was hilft gegen radikalisierte Fanatiker?

"Jeder Dschihadist ist ein Fanatiker, aber nicht jeder Fanatiker ist ein Dschihadist" - mit dieser Erklärung will der französische Journalist Wassim Nasr auf ein Phänomen aufmerksam machen, das seiner Meinung nach weder in Frankreich noch in Europa in seiner Tragweite begriffen wird.

Man sei mittendrin in einem "Billig-Fanatismus", so Nasr. Im Original verwendet er den englisch-sprachigen Begriff "fanatisme low-cost". Gemeint ist, dass ein Fanatiker keine dschihadistische Organisation oder ein Netzwerk braucht, um sich eine Tötungswaffe zu besorgen, - und auch keine Order etwa des "Islamischen Staates". Es genügt der Impuls zur Tat im Mindset eines Fanatikers.

Im Fall des etwa 36-jährigen Tunesiers war es ein Messer mit einer Länge von 22 Zentimetern, mit dem er am vergangenen Freitag im Eingangsbereich der Polizeiwache von Rambouillet eine 49-jährige Polizeimitarbeiterin angegriffen und mit Stichen in den Hals und den Unterleib getötet hat. Kurz danach wurde er von Polizisten erschossen.

Laut Zeugenaussagen habe Jamel G. "Allahu akbar!" gerufen, während er auf sein Opfer einstach. Eine "Schnellanalyse" seines Handys, das am Tatort gefunden wurde, zeigt nach einem Bericht von Mediapart, "dass er kurz vor der Tat Videos mit religiösen Liedern, die Märtyrertum und Dschihad verherrlichen, konsultiert hatte.

Kein Kontakt mit einer Dschihadisten-Gruppe

Aber bislang wurde kein Kontakt mit einer Dschihadisten-Gruppe entdeckt. Die Radikalisierung des Mannes fiel zwar ihm Nahestehenden auf, offenbar aber an Verhaltensweisen, die sie nicht für alarmierend genug hielten, um die Polizei zu verständigen. Zum Tunesier, der seit etwa 10 Jahren in Frankreich, seit zwei Jahren mit einem Aufenthaltstitel, lebte, hatten weder die Polizei noch der Geheimdienst eine Akte angelegt.

Die Gefahr liege genau darin, so Nasr, Fanatiker haben anders als Dschihadisten kein Programm, keine aufwendige Planung und auch kein politisches Ziel, um sich aus einem Affekt heraus zu einem Mord zu entschließen. Das erweitere das Spektrum der Gefahr immens. Nasr befürchtet, dass sich solche Mordtaten häufen könnten, nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa.

Die von der Kriminalpolizei und der DGSI eingesetzten Videoüberwachungskameras zeigen, dass Jamel G. in den anderthalb Stunden vor der Ermordung mehrmals zwischen der Polizeistation und dem Zentrum von Rambouillet hin und her fuhr. Um 12:49 Uhr fuhr er auf einem Roller "in Richtung eines provisorischen Gebetsraums", obwohl die Bilder nicht zeigen, ob er ihn betreten hatte. Nachdem er das Stadtzentrum durchquert hatte, kehrte er in den Bereich um die Polizeistation zurück, legte eine Tasche auf den Boden, "konsultierte sein Mobiltelefon, nachdem er sich umgesehen hatte", und setzte sein Kommen und Gehen fort, bis er sein Opfer entdeckte.

Mediapart

Der Mann hatte psychische Probleme. Im Februar soll er wegen Depressionen um psychiatrische Hilfe ersucht. Es wird auch berichtet, dass er sich nach der Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty im Oktober im gleichen Departement (Yvelines) "an einer Kampagne gegen Mohammed-Karikaturen beteiligt" habe. Wie so oft wird in Berichten und wohl auch in Kreisen der Ermittler darüber diskutiert, welche Rolle die psychische Erkrankung bei der Radikalisierung gespielt hat. An der Einstufung des Mordes als "terroristischen Anschlag" gibt es keine vernehmbaren Zweifel oder Kritik.

Mehr Überwachung

Die große Frage lautet, wie eine bessere Prävention solcher Anschläge aussehen könnte. Dazu passt ein Gesetzesvorschlag, den Innenminister Gérald Darmanin schon länger in der Schublade hat und der am kommenden Mittwoch der Ministerrunde vorgelegt wird. Die Regierung will demnach die Terrorbekämpfung online dadurch verstärken, dass der Besuch bestimmter sozialer Netzwerkadressen und islamistischer Propagandaseiten mit besseren Algorithmen überwacht wird.

Und sie will die Schwelle für Hausdurchsuchungen niedriger setzen. Sollte die Polizei eine "schwere Bedrohung" feststellen, so sollen sie künftig ohne richterliche Billigung erlaubt werden. Zu erwartende Bedenken von Datenschützern und Anwälten bezeichnet Innenminister Darmanin als "naiv", wie der Frankreich-Korrespondent der österreichischen Zeitung Standard berichtet.

Geht es nach Le Monde, so ist auch der Gedanke naiv, man könnte das Problem über Überwachung in den Griff bekommen:

Statt einer politisch-religiösen Ideologie scheinen wir uns in der Gegenwart eines ultra-gewalttätigen individuellen Fundamentalismus zu befinden. Und wie begegnen wir dieser Art von Angriffen?

Es hat keinen Sinn, Netzwerke zu infiltrieren oder zu demontieren, die nicht existieren. Stattdessen müssen wir soziale Netzwerke überwachen, die der Hauptnährboden für die Radikalisierung von Individuen wie Abdullakh Anzorov oder Jamel G. sind. Aber mögliche Gewalttaten zu verhindern, bedeutet, einen großen Teil der Gesellschaft unter massive Überwachung zu stellen. Das Heilmittel wäre dann schlimmer als die Krankheit.

Le Monde