Moderne Pur
Das Hansaviertel, das auf der ersten Berliner Internationalen Bauausstellung 1957 eröffnet wurde, ist ein gebautes Manifest moderner Architektur
Seine Entstehung markiert einen Bruch mit der traditionellen Stadt, der viel Kritik nach sich zog. Dennoch zählt die Hochhaussieldung bis heute zu den beliebtesten Wohnquartieren in Berlin, die Architekturtouristen aus der ganzen Welt anzieht.
Als Modell für die die „Stadt von morgen“ konzipiert, verwirklichten namhafte Architekten ihre Ideen vom urbanen Wohnen unweit des West-Berliner Zentrums: Licht, Luft und Sonne reichlich, weitläufige Grünflächen, über die in weiten Abständen funktional zugeschnittene, einfache und schlichte Mehr- und einige Einfamilienhäuser verteilt sind. Einen idealeren Ort als in unmittelbarer Nähe zum Berliner Tiergarten, einer weitläufigen Parklandschaft, ließe sich für ein Leben im Grünen kaum denken. Wer es ruhig und beschaulich mag, findet im Schatten der Hochhäuser eine Idylle vor der Haustür. Wie Wolkenkratzer sollen die Häuser 1957 auf die Berliner gewirkt haben, für die Bauten mit 16 Geschossen etwas Außergewöhnliches waren. Und noch heute beeindrucken die Punkthochhäuser und Gebäudescheiben entlang der Bartningallee durch ihre Höhe und Größe, vor allem aber durch ihre ästhetische Qualität. Architekten wie Hans Schwippert, Egon Eiermann oder Oscar Niemeyer entwarfen die Gebäude.
Nichts von der Monotonie aus Beton ist hier zu sehen, die 20 Jahre später das Bild anderer Großsiedlungen bestimmen sollte. Über die betongraue Fassade des von Schwippert entworfenen Hauses klettern gelbe Balken, unterbrochen von weißen Fensterrahmen. An den Ecken lockerte der Architekt die Masse des Baus durch freischwebende Balkone auf. Leicht und ein wenig zerbrechlich wirkt die Fassade der von Egon Eiermann ein paar Meter weiter gebauten Gebäudescheibe, die durch die offene Stahlbrüstung wie ein riesiges Regal gegliedert ist. Jedes Fach ist ein Balkon einer der rund 100 Ein- und Zweizimmerwohnungen.
Gebaut wurde 1957 nach dem neuesten Stand der Technik. Für frische Luft sorgte Luciano Baldessari durch einen Lichtschacht im Hausinneren. Kühn lagerte Oscar Niemeyer einen Wohnblock auf v-förmigen Stelzen, als schwebe der Koloss aus Beton über dem Boden.
Ästhetische Re-Education
Was heute längst nichts Ungewöhnliches mehr ist, mutete damals revolutionär an und war für die Bewohner gewöhnungsbedürftig. Statt einzelne Funktionen zu separieren, sind in manchen Wohnungen die Grundrisse offen gestaltet. Küchen ohne Türen grenzen an Wohnbereiche. Die lichten Räume trennen nur wenige Wände, die sich in manchen Häusern sogar versetzen lassen.
Gefördert mit öffentlichen Mitteln, hatten die Architekten und Designer der Moderne im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus hier einmal die Möglichkeit, alles aus einem Guss zu fertigzustellen. Schlicht und einfach, bisweilen geradezu karg stellten sich die Planer auch die Inneneinrichtung vor. Mit den auf der der Internationalen Bauausstellung präsentierten Musterwohnungen ging es laut Stefanie Schulz darum, „den zukünftigen Bewohnern eine Vorstellung vom 'richtigen' Wohnen zu vermitteln.“ Die Stadtsoziologin erklärt in ihrem Buch über die Geschichte des Hansaviertels „Ikone der Moderne“ (Verlagshaus Braun), erklärt:„Elemente wie Raumteiler, Schrankwände und Einbauschränke standen für innovatives und kreatives Wohnen und waren etwas völlig neues.“ Ein insgesamt gewöhnugsbedürftiges Konzept, das nicht allen gefiel. Schulz recherchierte, dass Küchen ohne Türen und offene Räume viele Bewohner störten. „Also zogen die Leute Gardinen ein, um Räume zu schaffen.“
Auflockerung der Stadtlandschaft
Heute liegt das Hansaviertel wie eine Insel abgeschnitten vom Rest der Stadt. Die Planer knüpften Mitte der 50er Jahre nicht an die vorhandenen städtebaulichen Strukturen wie Straßen an. Auch war das alte Hansaviertel, gebaut in der Gründerzeit, weitestgehend zerstört. Aber die Substanz von schätzungsweise 40 Häusern hätte man wieder aufbauen können. Aus heutiger Sicht wäre eine Rekonstruktion des Quartiers technisch machbar gewesen. Aber gegen solche Pläne sprach nicht nur die extreme Zerstörung.
Bewusst suchten die Planer den Bruch mit der Tradition des steinernen Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts und strebten danach, den Größenwahn nationalsozialistischer Stadtplanung durch eine demokratische zu ersetzen. Programmatisch unterstrich die Sonderausstellung der Interbau „Die Stadt von morgen“ die Abkehr von der heute vermissten urbanen Dichte. „Die Wohnungsnot war groß und das historische Berlin wurde schon in der Vorkriegszeit wegen der zu dichten Bebauung kritisiert“, sagt Schulz. Als bürgerliches Viertel zählte das alte Hansaviertel zwar zu den besseren Ecken der Stadt. Aber in unmittelbarer Nachbarschaft gab es in engen und miefigen Hinterhöfen wenig Licht und frische Luft und zum Teil problematische hygienische Zustände. „Die Stadtplaner“, so Schulz, „sahen die Funktionsmischung der traditionellen Stadt städtebaulich und soziologisch als dysfunktional an.“ Nicht nur sanitäre Verbesserungen waren gefordert, ebenso sollte die Mischung von Industrie- und Wohngebieten auf gehoben und das Straßennetz für den Verkehr erweitert werden.
Freilich gab den entscheidenden Impuls für den Bau des unverhältnismäßig teuren Viertels die Konkurrenz der politischen Systeme zwischen Ost und West. „Der Bau des Hansaviertels war eine politische Entscheidung, verstanden in erster Linie als eine freiheitliche Alternative auf den Bau der Stalinallee, der heutigen Frankfurter Allee, in Ostberlin“, erklärt Schulz. Während in der DDR im Zuckerbäckerstil herrschaftlich anmutende Wohnpaläste schon 1953 entstanden waren, hatte der Westteil Berlins noch kein vergleichbares prestigeträchtiges Projekt vorzuweisen. Die Konkurrenz beflügelte den Senat und als eine privatwirtschaftliche Finanzierung nicht zustande kam, zahlte die öffentliche Hand.
Parade der Diven
Nicht nur wegen der immensen Kosten geriet das Hansaviertel, seinerzeit das größte Neubauprogramm in ganz Europa, schon Ende der 50er Jahre in die Kritik. Das Renommierprojekt ließ sich der West-Berliner Senat mehr kosten, als später jemals wieder für vergleichbare Siedlungen zur Verfügung stand. Dabei sollte ja im Hansaviertel nicht nur eine „moderne“ Urbanität entstehen. Es sollten auch neue und zukunftweisende Bauverfahren und architektonische Lösungen erprobt werden, die Schule machen sollten. Wer die Massenunterkünfte des sozialen Wohnungsbaus der 60er und 70er Jahren kennt, sieht aber, dass das Modell ohne Nachfolger blieb, auch, weil es ökonomisch nicht zu wiederholen war.
Aber sollte es denn nicht möglich gewesen sein, einige herausragende Gestaltungsmerkmale zu übernehmen, die das Leben von hunderten von Menschen in einem Haus erst erträglich machen? Die solitäre Gestalt der Wohntürme und Mehrgeschosswohnungen im Hansaviertel ist ein Grund für die hohe Identifikation der Menschen mit dem Quartier. Immer wieder nennen die Bewohner die Namen der Architekten statt Straßen und Hausnummern, wenn sie ihre Adresse angeben. Man wohnt hier im „Aalto-Haus“ oder bei „Gropius“. Für die Identifikation mit dem Viertel spricht Stefanie Schulz zufolge vor allem das hohe Alter vieler Bewohner. „Viele Menschen sind zwischen 70 bis 80 Jahre alt, das ist ein Hinweis darauf, dass nur ein geringer Anteil der Bewohnern weggezogen ist“, erklärt Schulz.
Planer der 60er und 70erJahre hätten sich aber nicht nur die ästhetisch anspruchsvollen Lösungen für den Wohnungsbau abschauen können. Licht, Luft und Sonne sind hier nicht nur ein Schlagwort. Anders als im Hansaviertel rückten die Wohneinheiten im Berliner Märkischen Viertel, in den Plattenbauten in Marzahn im Ostteil der Stadt und in anderen deutschen Städten ganz dicht zusammen. Wohngebirge, in denen das einzelne Haus mit zig anderen verklumpt ist. Das bisschen „Abstandsgrün“ macht das Wohnumfeld nicht unbedingt erträglicher. Die großzügige Weite der Parklandschaft im Hansaviertel, in der sich die Punkthochhäuser wie Leuchttürme verteilen und aufeinander beziehen, blieb einmalig.
Freilich entwickelten sich hier weder rege unterstützende Nachbarschaften noch ein ausgesprochenes Wir-Gefühl, das die Architekten durch ihre Bauten glaubten befördern zu können. In dem reinen Wohnviertel beleben die wenigen Infrastruktureinrichtungen wie eine Bibliothek und ein mittlerweile heruntergekommenes Geschäftszentrum das soziale Leben nicht. Und auch Urbanität im engeren Sinne entstand hier nicht.
Man kann das Hansaviertel als Modell der aufgelockerten Stadt deshalb im Kontrast zum Ideal der „europäischen Stadt“, dem verdichteten Wohnen und Arbeiten kritisieren. Die Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr, wie sie als modernes Prinzip in der Siedelung umgesetzt wurde, führt tatsächlich dazu, dass sich auf den Wegen, Straßen und Grünflächen rund um die Wohntürme so gut wie kein öffentliches Leben entwickelt. Dabei stellte sich Max Tau sogar vor, dass die Freiflächen die Gemeinschaft fördern würden. Der entgegengesetzte Gedanke wäre vielleicht nahe liegender gewesen, nämlich Anonymität zu wahren in der Masse, Anderen zwar zu begegnen beim Spaziergang, beim Einkaufen, auf den Straßen, allein und doch gemeinsam unterwegs, wie sich das urbane Leben eben abspielt.
Dazu fehlt es freilich im Quartier an Räumen, die nicht zu sehr mit Wohnung und Privatsphäre verbunden sind. Ein paar Cafés gibt es hier und da noch. Aber ansonsten führt die Konzentration der Geschäfte an einem zentralen Punkt dazu, dass nichts zum Schlendern zwischen den Häuserzeilen anregt außer der guten Luft. Unweigerlich stellt sich dann auch noch das Gefühl ein, auf dem säuberlich kurz gehaltenen Rasen und vor den üppigen Büschen besser nicht seinen Liegestuhl aufzustellen oder sich zum Bolzen zu treffen, so wenig einladend wirken mache Ecken. Zur Erholung gibt es ja die Balkonnischen. Und seit dem einige Wohnungen in Eigentum umgewandelt wurden, werden schon mal Bänke abmontiert um Passanten und insbesondere Obdachlose am Verweilen zu hindern.
Gravierender aber noch ist die fehlende Einbindung an die übrige Stadt, aus der keine „Flaneure“ herüberkommen außer den Sonntagsspaziergängern auf dem Weg zum Park. Auf der einen Seite trennt eine S-Bahntrasse das Hansaviertel von den angrenzenden Wohngebieten. Auf der anderen Seite erstreckt sich der Tiergarten, was ein Zusammenwachsen mit der umliegenden City-West erschweren würde. An der isolierten Lage hat sich bis heute nichts geändert und dementsprechend öde und leer wirkt das Viertel trotz der ansehnlichen Architektur eben oft.
Dass die Pläne einer Verdichtung im Quartier aber nach 1990 scheiterten, wird man dennoch nicht bedauern. Als ein hochwertiges Wohngebiet funktioniert das Hansaviertel und zieht viele junge Leute an, auch wenn das städtebauliche Modell der Moderne schon längst überholt ist. Und nicht nur, weil sich für den sozialen Wohnungsbau nie wieder so aufwendig Häuser und Wohnumfeld gebaut wurden. Schon in den 80er Jahren spielte die Verdichtung in neueren Leitbildern des Städtebaus wieder eine größere Rolle. Und heute schätzt man anders als 1957 auch das Nebeneinander von alter und neuer Bausubstanz, die zur Atmosphäre und Lebendigkeit eines Quartiers beitragen. Inzwischen stehen die Häuser unter Denkmalschutz. Und nirgendwo sonst kann man so viele Wohntürme der Moderne bewundern, die Harald Bodenschatz einmal als eine „Parade der Diven“ bezeichnete. Allesamt Kandidaten für das Weltkulturerbe.