Moderne Verschwörung: Wenn alle mitmachen, ohne es zu merken
Verschwörungen braucht es heute nicht mehr. Die Macht funktioniert ganz offen, demokratisch – und doch im Verborgenen. Was das gespenstisch macht. (Teil 2)
Die Kritik an klassischen Verschwörungstheorien ist heute ebenso zeitgemäß wie eine kritische Haltung gegenüber auch in Demokratien vermuteten Verschwörungen.
Aber "das Problematische an dieser kritischen Haltung", schreibt Slavoj Žižek über Verschwörungstheoretiker "ist nicht nur, dass sie die konkrete Gesellschaftsanalyse durch den Kampf gegen abstrakte paranoide Fantasien ersetzt, sondern dass sie, in einer typischen paranoiden Geste, die gesellschaftliche Realität unnötigerweise verdoppelt, als stecke hinter den ‚sichtbaren‘ kapitalistischen und staatlichen Organen eine Geheimorganisation. Man sollte aber einfach akzeptieren, dass eine heimliche ‚Organisation innerhalb der Organisation‘ gar nicht erforderlich ist. Die ‚Verschwörung‘ steckt bereits in der ‚sichtbaren‘ Organisation als solcher, im kapitalistischen System, in der Art und Weise, wie der politische Raum und die Staatsapparate funktionieren".
Žižek hat in mehrerlei Hinsicht recht, wenn er sagt, dass so etwas wie eine Verschwörung bereits in diesem System steckt: Zum Beispiel, weil das bürgerliche und demokratische System selbst auf recht verschwörerische Weise zustande gekommen ist.
Die politischen Geschehnisse etwa, die die Zeit der Französischen Revolution prägten, welche ja die heutige Demokratie erst ermöglichte, waren weder öffentlich noch demokratisch. Die offene, plurale Gesellschaft nahm ihren Anlauf in den kleinen Kreisen verschworener Radikaler.
Zehren von früheren Verhältnissen
Die derzeitige Demokratie in ihren institutionellen historischen Beständen zehrt also immer noch von früheren Verhältnissen, in denen Verschwörungen Normalität waren. Womit zumindest das Prinzip, das Muster der Verschwörung, also die Möglichkeit zu allen möglichen Formen geheimer Absprachen unter relativ Mächtigen nicht nur anerkannt, sondern auch weiterhin integriert ist.
Etwa als Unternehmerverband, als Kartell, als Korruption oder einfach ständige Erpressung und Drohung gegenüber den Unterworfenen, also den Staatsbürgern.
Konspiratorationistisches Manifest von 2022
Jene anarchistischen Intellektuellen aus Frankreich allerdings, die 2022 das "Konspirationistische Manifest" veröffentlicht haben, unterliegen einem Trugschluss, wenn sie den Regierungen und Konzernen in Bezug auf die Covid-Maßnahmen eine Verschwörung vorwerfen. Denn auch dabei waren – parlamentarische Demokratie sei Dank – keine Verschwörungen nötig:
Das Verhältnis und damit auch die Widersprüche zwischen Erkrankungszahlen einerseits und Maßnahmenpolitik sowie ihrer Begründung andererseits waren für jeden ersichtlich, der es sehen wollte.
Hingegen wären Verschwörungen auch heute nötig, insofern Unterworfene sich organisieren und etwas erreichen wollen (die Unterdrücker sind bereits bestens organisiert) – solche Verschwörungen würde man sich wünschen, aber auch sie bleiben aus. (Schon die Partei, in der Marx und Engels Mitglieder waren, das vergisst man heute gerne, hieß ja "Geheimbund der Kommunisten").
Aber die Macht zumindest bedarf der Verschwörung nicht mehr. Verschwörung ist das – zumeist einzige – Mittel der Ohnmächtigen, das erkennen auch die französischen Konspirationisten in ihrem "Manifest" richtig. (Entsprechend kann nun vermutet werden, ob mittels der derzeit recht beliebten Kritik an Verschwörungstheorie vielleicht auch die Ausübung von Verschwörungen als inakzeptabel gebrandmarkt werden soll.)
Das Elend der Verschwörungstheorie-Kritik
So werden bereits die Gedanken an ein Phänomen wie Verschwörung – als ein Element zur Vorbereitung von Revolutionen – derzeit von besonders vielen Bürgerlichen und Linksliberalen, von ehemaligen Piratenpartei-Politikerinnen bis zu sozialdemokratischen Politologen, solch heftiger Kritik unterzogen.
Solche Kritiker rationalisieren dann ihre Angst vor dem Aufbegehren der Unterworfenen mit allerlei poetischen Mitteln, die etwa in Ausdrücken wie "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" oder "struktureller Antisemitismus" ihren Höhepunkt finden. Die Macht hingegen ordnet an und realisiert sich bereits durch die Praxis der allgemeinen Gesellschaftsverwaltung. Das wussten früher einmal auch die Linksliberalen.
Klugheit aus Erfahrung
Diese vollzieht sich stumm und mahnt dazu, man möge aus seiner Erfahrung – die immer nur eine innerhalb dieser bestehenden Ordnung sein kann – klug werden. Diese Klugheit ist dann freilich nichts anders als eine Gerissenheit, die in fragmentierten Gesellschaften Geheimabsprachen und Komplotte unnötig machen: Wo der Verrat opportunes Mittel eines jeden ist, werden Verschwörungen überflüssig.
Dass die Macht aber Verschwörung nicht mehr nötig hat, macht deren Sache nicht besser, wie die Verschwörungsideologie-Kritiker heute glauben machen wollen, denen die Erleichterung über eine Überwindung von Verschwörungen anzumerken ist.
Verschwörungen weichen nicht der Demokratie
Die Abwesenheit von Verschwörungen nämlich deutet nicht auf demokratischere, offenere, liberalere, sondern auf weitaus schwierigere Verhältnisse hin, als sie in Zeiten von Verschwörungen vorstellbar waren.
Kaum etwas ist wohl so gespenstisch wie die Verschwörung, die offen ist und an der jeder teilnimmt, welche aber trotzdem nicht als solche durchschaut wird.
Wo bleiben die Interessen der Mehrheit?
Kaum etwas auch ist so gruselig, wie ein System, in welchem alles ganz offen, demokratisch und mit rechten Dingen zugeht, in dem es aber trotzdem nie dazu kommt, dass sich die Interessen einer Mehrheit durchsetzen. Gespenstisch und gruselig sind die Verhältnisse, weil der demokratische Betrug, ja die "Aufklärung als Massenbetrug" (Adorno, Horkheimer) offensichtlich ist, aber niemand von ihm Kenntnis nehmen will.
Gerade bei den Covid-Maßnahmen, die von den Verfassern des "Konspirationistischen Manifests" angeführt werden, war die "Verschwörung" eine sehr offene, öffentliche, ja demokratische: Die Bürger hatten sich – auf die eine oder andere Weise – mit ihrem Staat verschworen, weil sie sich einen Gewinn erhofften.
Corona-Hysterie
Jeder machte seine persönliche Wette darauf, wie sich die Lage entwickeln würde, ordnete sich deshalb entweder den Pro-Maßnahmen-Hysterikern oder den Kontra-Maßnahmen-Hysterikern zu.
Es war die Mehrheit, die eine Mehrheit unterdrückte: ein durch und durch bürgerlich-demokratisches Prinzip, das keinerlei Verschwörung bedarf. Auch die großen Pharmakonzerne waren so frei, öffentlich, statt in Geheimkammern Druck zu machen, um ihren Profit zu steigern.
Das Wesen der Verschwörungstheorie
Verschwörungsideologie offenbart daher ebenso wie die Kritik an ihr einige zutiefst romantische Vorstellungen von Politik und Gesellschaft. Stellen sich ihre Anhänger die Welt wie ein größeres Schlumpfhausen vor, in dem der Bösewicht Gargamel eigentlich von Papa Schlumpf bezahlt wird, um das einfache Volk zu drangsalieren, entgegnen ihnen ihre Kritiker auf derselben Ebene: Papa Schlumpf (Kanzler Scholz etwa) wolle nur das Gute und Gargamel (also Putin, Trump, Hamas, Islamismus usw.) sei ganz von allein das Urböse, das die globale Dorfgemeinschaft bedrohe.
Die eine Ansicht ist so unterkomplex wie die andere; die Welt ist kein Schlumpfhausen. Verschwörungstheoretiker und ihre Kritiker treten also in einen Dialog unter ihresgleichen.
Es ist unser je eigenes Interesse, mit dem wir einander veralbern.
Von Covid in den Krieg
Apropos Hysterie, die die Hirne vernebelt: "Kaum war der Covid-Alarm abgeklungen", schreibt der französische Autor Serge Quadruppiani, "ertönten die Sirenen des Krieges. Man könnte dieses Zusammentreffen als eine von den Herren der Welt absichtlich herbeigeführte Abfolge interpretieren, um ihre Macht noch ein wenig weiter zu festigen" (Serge Quadruppiani: Das Chaos des Imperiums, die Paranoia des Imperiums. In: Lundi Main Nr. 329).
In Wirklichkeit läuft es anders
Die Funktion der – nun öffentlich tagenden – Verschwörer wird übernommen von der Gesamtheit der demokratischen Öffentlichkeit und ihrer Mediensphäre. Es ist immer genug los auf der Welt, um eine kritische Masse an medialer Berichterstattung zu erreichen, die wiederum einen Grundstock an Ängsten aktiviert – was der Politik bereits als hinreichende Begründung für ihre Maßnahmen dient.
Und wenn ohnehin alle dasselbe denken, weil alle im selben System auf dieselbe Art und Weise gezwungen sind, ihre Interessen durchzusetzen, braucht es auch keine Absprache unter den Redaktionen: Die kommen bereits ganz allein darauf, was jetzt – im Sinne des Staatswohls – zu tun und zu sagen ist. "Absichtlich herbeiführen" muss also niemand etwas, schon gar nicht "die Herren der Welt". Das Landesinteresse und seine arbeitsteilige Verselbstständigung ersetzten die Verschwörung.
Die klassische Verschwörung hat sich auch erübrigt, wo diese – bis hinein in die letzte graswurzelige Nische von alternativen Diskussionsräumen oder den digitalen Medien – die gesamte Bevölkerung qua ideologischer Erzählungen zu Mitverschwörern, etwa gegen andere Staaten (etwa derzeit die der westlichen gegen Russland und China) macht.
Weder westliche Geheimagenten noch ein deutscher Politiker braucht mehr explizit eine Verschwörung etwa gegen ein anderes Land anzuzetteln – die Funktion der Verschwörung gegen das andere Land haben heute die öffentlich gemachten Narrative übernommen, die Produkt der herrschenden Ideologie sind und durchs Ressentiment gestützt werden.
Diese öffentliche Verschwörung hat dabei nicht etwa in "den Medien", also den Redaktionen oder recherchierenden freien Journalisten, die etwa betrügen wollten, ihren Ursprung, sondern in der sich durch die Medien lediglich ausdrückenden Ideologie, die nichts anderes darstellt als eine erzählerische Rechtfertigung bestimmter Herrschafts-, also Eigentumsverhältnisse und -Interessen. Es muss niemand persönlich betrügen, wo struktureller Betrug in Form von Interessenwahrung längst umfassend Staatsraison und persönliche Gewohnheit geworden ist.
Die verschwörerischen Gespräche finden heute in Talkshows vor Millionenpublikum statt, die Geheimdiplomatie steht zwischen den Zeilen in den Zeitungen. Das ist der Unterschied zu früher: Die Hinterzimmer werden nicht mehr benötigt, wenn alle Staatsbürger schon qua ihrer Staatsmitgliedschaft und der Teilhabe am ideologischen Wissen (also einem Betrugs-Wissen, das sich den Charakter des gültigen zu verleihen vermag) Teil einer Verschwörung sind, die keine richtige mehr ist.
Wovon die klassische Verschwörungstheorie noch ausging – dass einzelne mächtige Personen Geheimpläne umsetzen, um den Menschen zu schaden – ist also überholt, wo ganz offen das Gesetzeswerk einer Republik von den Konzerninhabern selbst geschrieben wird (Peter Hartz) und diese Gesetze eine anonyme Vollstreckung durch den alltäglichen Lebensvollzug der Bevölkerung selbst genießen.
Warum aber sprechen Ideologiekritiker wie der oben zitierte Žižek trotzdem noch von Verschwörung, wo doch das Zeitalter ihres Verschwindens angebrochen ist?
Zum Beispiel, weil die Funktionsweise dieselbe ist. Merkwürdig ist es schon, dass selbst jene Kritik der Verschwörungsideologie, die bekundet, Verschwörungstheorien seien überholt, da die Verschwörung offen zutage liege, nicht ohne den Begriff der Verschwörung auskommt. Žižek spricht von der Existenz einer "sichtbaren", also offenen, erkennbaren, aber eben vorhandenen Verschwörung, die schon "im System selbst" stecke.
Eine solche offene Verschwörung ist es etwa, wenn eine Klassengesellschaft alles dafür tut, die systematische Klassenherrschaft zu verdecken und dort, wo das nicht möglich ist – etwa weil es den im Grundgesetz festgelegten Werten der Gleichheit widerspricht –, mit krudesten Argumenten zu legitimieren versucht. So wird das, wofür früher Verschwörungen dienlich waren, durch den offenen demokratischen und medialen Prozess bewerkstelligt: nämlich die straffe Reproduktion der politischen Unterdrückung von Subalternen.
Diese materielle Basis aller Ideologie fällt heute ganz heraus aus den Betrachtungen der Verschwörungs- wie auch der Ideologiekritiker: Welchen Zweck haben bzw. hatten Verschwörungs-Mythen denn? Zum Beispiel wollte der Antisemitismus einen versöhnlerischen Kitt im Volke zwischen den einzelnen Klassen schmieren, wollte die klassenübergreifende Feindschaft gegen Juden als Ablenkung vom Klassengegensatz und dessen Überwindung etablieren. Gerade, wenn es die Ohnmächtigen sind, die sich in Verschwörungserzählungen verlieren, verweist das wieder auf die gesellschaftliche Macht, deren bloße Mündel sie im Produktions- und Arbeitsprozess sind.
Die heute so oft geäußerte Kritik an der Verschwörungsideologie ist deshalb besonders heimtückisch, da sie zwar auf der einen Ebene gegen Ideologie skandiert, auf einer anderen aber gleichzeitig selbst Ideologie propagiert: nämlich jene altherkömmliche liberale Ideologie, der gelungen ist, sich einen Schein von vertrauenswürdiger Wissenschaftlichkeit zu verleihen, welcher bis in akademische und progressive, ja ideologiekritische Kreise glaubhaft ist.
Solche Verschwörungsideologie-Kritik will lediglich die eine gegen eine andere, ihr genehmere Ideologie oder Erzählung austauschen. Eine im Soziologen-Jargon sogenannte ausdifferenzierte Gesellschaft hat auch ausdifferenzierte, in selbstständigen Einheiten agierende Erzähl-Instanzen, die gedanklich allesamt Abkömmlinge der herrschenden Ideologie sind, aber dabei auf differenzierte, also bunte, individuelle Weise verkünden, weshalb man in den Krieg zu ziehen, Arme zu verachten oder China zu bekämpfen habe.
So erscheinen zumindest hierzulande noch die menschenfeindlichsten Aktionen des westlichen Imperialismus als im edlen Interesse aller. Aber das ändert nichts daran, dass die Bewohner Afrikas oder Chinas die Europäer als eine verschworene Gemeinschaft auffassen. Für sie macht es keinen Unterschied, ob die Pläne zu ihrer Unterwerfung in Hinterzimmern oder direkt im nationalen Fernsehen geschmiedet werden.
Gerade also, weil in den modernen, ausdifferenzierten, liberalen Demokratien alles komplett öffentlich abläuft, sind die Zustände heute ähnliche wie zu klassisch verschwörerischen Zeiten: Es ist die Lehre der Edgar-Allen-Poe-Geschichte vom "entwendeten Brief", dass sich eine Geheimsache vor der Öffentlichkeit am besten dadurch verbergen lässt, indem man sie, gemischt unter all die tausenden anderen ablenkenden und unüberschaubaren Einzel-Erscheinungen des Tages, offen zutage treten lässt: Der geheime Brief wurde gar nicht entwendet, er lag einfach immerzu mitten auf dem Tisch.
Diese Lehre macht sich den immer noch einflussreichen Verschwörungsglauben in der Bevölkerung zunutze: Wenn alle denken, das Wichtige müsse geheim bleiben, wird niemand annehmen, dass das offen Gesagte von Wichtigkeit sein könnte.
Die Gesellschaften also sind so ausdifferenziert, dass vor lauter einzelnen Bäumen niemand mehr den Wald wahrnimmt. Wenn der Bundeskanzler eine "Zeitenwende" – nicht diagnostiziert, sondern – initiiert, dann denken sich die Leute: "Drollig, was der Opi da faselt". Was das aber bedeutet, werden sie wohl erst merken, wenn es schon zu spät ist.
Teil 3: Von Illuminaten zu Instagram: Der Wandel der Verschwörung