RKI-Protokolle: Ein Weckruf für Medien?

Süddeutsche Zeitung mit Brille auf einem Schreibtisch

Bild: Unsplash

Leaks werfen Fragen zur politischen Einflussnahme auf. Welche Erkenntnisse Medien aus der Enthüllung gezogen haben. Die Meinungen gehen weit auseinander.

Am Dienstag, den 23. Juli 2024, veröffentlichte die Aktivistin und Journalistin Aya Velázquez ungeschwärzte Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI) aus der Corona-Zeit. Vier Monate zuvor waren bereits Dokumente aus der Zeit Januar 2020 bis April 2021 von Multipolar veröffentlicht worden, die das Magazin auf dem Klageweg erhalten hatte.

Darin waren allerdings viele Passagen geschwärzt. Über eine gegen diese Unkenntlichmachungen gerichtete Klage soll dieser Tage entschieden werden. Zwischenzeitlich hatte das RKI selbst am 30. Mai die Protokolle seines Krisenstabs aus dieser Zeitin einer weniger stark geschwärzten Fassung veröffentlicht.

Die Meinungen, wie viel an der jüngsten Fassung neu ist gegenüber den geschwärzten und ob die RKI-Files überhaupt erkenntnisbringend seien, gehen in den Medien weit auseinander. Entsprechend unterschiedlich hoch wurde das Thema aufgehängt.

Geringes Medieninteresse

Eilmeldungen suchte man in den Massenmedien vergeblich. Die Ambitionen, als erste mit einer neuen Enthüllung herauszukommen, waren offenbar gering.

Die Tagesschau brachte am Dienstagabend einen kurzen Bericht und verwies für weitere Informationen auf ihre Website. Dabei wurde jedoch weder der Name der Enthüllungsjournalistin noch der Downloadlink genannt. Das eine gebietet neben dem Anstand die Quellentransparenz, das andere wäre ein wichtiger Service für die Zuschauer und Leser gewesen. Doch gerade sogenannte Alternativmedien werden von den Großen oft namenlos behandelt.

Im heute-journal des ZDF fand der Leak zunächst keine Erwähnung. Online gab es eine Textmeldung, auch diese ohne Name und Link.

Auch beim Spiegel fand das Thema erst am nächsten Tag abends Platz, mit einem Plus-Text, der dann später im neuen Heft erscheinen sollte.

In zahlreichen Medien fanden die neuen RKI-Protokolle erst Erwähnung, weil sich Politiker wie Jens Spahn zu daraus abgeleiteten Vorwürfen geäußert hatten, so bei der FAZ (Donnerstag). Oder sie betonten den Protest des RKI, so die vermutlich einflussreichste Redaktion Deutschlands bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Enger Themenfokus

Dieses verhaltene Medieninteresse korrespondiert mit dem, was in der Berichterstattung hervorgehoben wird. Ging es nach der ersten Veröffentlichung im März vor allem um die Frage, ob die Risikobewertung des Corona-Virus aus dem RKI selbst oder von der Politik kam, fokussierten nun viele Nachrichten auf das Stichwort "Pandemie der Ungeimpften", wie der Tagesschau-Textbeitrag.

Anlass ist vor allem eine Protokollnotiz vom 5. November 2021:

In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden? (...) Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.

RKI-Protokolle, Seite 1115 der Datei für 2021

Dabei findet sich allerhand Interessantes in den insgesamt knapp 4.000 Protokoll-Seiten und 4.475 Dateien Zusatzmaterial (mit einigen Überschneidungen und Doppelungen zu den Protokollen). Davon ist der allergrößte Teil völlig neu. Denn es liegt mit der Veröffentlichung vom 23. Juli nicht nur eine ungeschwärzte Fassung der bisherigen Dokumente vor, sondern eben auch die Protokolle von Mai 2021 bis 7. Juni 2023, aus denen zuvor wohl noch kein Journalist zitiert hatte.

So ist die Frage der politischen Einflussnahme längst nicht vom Tisch, seitdem das RKI selbst veröffentlicht hat, dass sein damaliger Vize und heutiger Präsident, Lars Schaade, seinerzeit das Signal für die Hochskalierung des Gesundheitsrisikos geben sollte. An vielen Stellen lässt sich erkennen, dass vom Bundesgesundheitsministerium Weisungen oder 'Wünsche' formuliert wurden.

Investigativ: Die Zeit

Am 1. März 2021 heißt es beispielsweise im Protokoll:

Das RKI kann Aufträge und Anfragen des BMGs nur im geringen Maße ablehnen. Die Leitung achtet auf die Aufgabenlast. Externe Einflussnahme auf wiss. Daten und Ergebnisse ist nicht akzeptabel und bei solchen Versuchen sollte die Leitung umgehend bilateral kontaktziert werden um eine Klärung zu erwirken.

RKI-Files, Seite 298, Datei für 2021

Aus der Sitzung vom 10. September 2021 ist notiert:

Am Donnerstag erfolgte vor Veröffentlichung der Aktualisierung des Kontaktnachverfolgungsmanagement-Papiers eine ministerielle Weisung zur Ergänzung.

Diese beinhaltete die Berücksichtigung der AG-Tests für die Freitestung auch schon nach fünf Tagen. Es wurde von RKI-Seite die Notwendigkeit der Seriellen Testung im Anschluss an die Freitestung ergänzt, damit das Sicherheitsniveau erreicht wird und so umgesetzt. Der neue Passus sorgte für Irritation auf Seiten der Länder. Eine derartige Einflussnahme seitens des BMG in RKI-Dokumente ist ungewöhnlich. Die Weisungsbefugnis des Ministers bei technischen Dokumenten des RKI wird derzeit von L1 rechtlich geprüft.

Aktuelle Einschätzung der RKI-Leitung ist, dass die Empfehlungen durch das RKI in der Rolle einer Bundesbehörde ausgesprochen werden, und einer ministeriellen Weisung zur Ergänzung dieser Empfehlung nachgekommen werden muss, da das BMG die Fachaufsicht über das RKI hat und sich als Institut nicht auf Freiheit der Wissenschaft berufen kann. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI von der Politik ist insofern eingeschränkt.

RKI-Files, Seite 982, Datei für 2021; Hervorhebung TP

Die Zeit ist dem selbständig nachgegangen. Jan Schweitzer und Tom Kattwinkel haben mit einem Insider gesprochen und resümieren zu der zentralen Frage:

Ja, es gab diese Versuche der Einflussnahme aus dem Bundesgesundheitsministerium, sagt jemand, der es wissen muss, der damals dabei war im Krisenstab des RKI, im Gespräch mit Zeit Online.

Zeit, 25.07.2024

Die lange Suche nach dem Namen des Signalgebers für die Hochskalierung des Corona-Risikos von "mäßig" auf "hoch" am 17. März 2020, vom Tagesschau-Faktenfinder als "Skandal, der keiner ist" bezeichnet, wirkt dagegen geradezu pedantisch.

Die RKI-Leute hätten sich manchmal nur wehren können, indem sie die Ministeriumsmitarbeiter aufgefordert hätten, aus den mündlichen Aufforderungen schriftliche Weisungen anzufertigen. Davor aber schreckten die Ministerialen fast immer zurück, denn "aktenkundig wollte das im BMG niemand haben". So konnten fachliche Begründungen Bestand haben.

Zeit.de

Versuche der Einflussnahme gab es also wohl reichlich, und nach den Protokoll-Notizen dürften auch einige erfolgreich gewesen sein. Das ist deshalb sehr entscheidend, weil das RKI immer als unabhängige, wissenschaftliche Institution dargestellt wurde – von der Politik, von Journalisten, von Gerichten, die sich auf RKI-Erkenntnisse beriefen.

Kamen hingegen relevante Voten aufgrund politischer Einflussnahme zustande (die natürlich auch sehr subtil und außerhalb aller Protokoll-Notizen erfolgt sein könnten), dann läge stets ein Zirkelschluss vor: Die Politik hat nur gemacht, was "die Wissenschaft" geraten hat, die allerdings geraten hat, was ihr die Politik eingeflüstert hat.

Parteiisch: Die Zeit

Etwas erstaunlich ist daher, dass der investigative Zeit-Artikel gleichwohl recht früh konstatiert, nach einem sehr transparenten Bekenntnis, in der Kürze der Zeit noch gar nicht alles gesichtet zu haben:

Eines ist nach Lektüre der Seiten klar, die Zeit online bislang durchgearbeitet hat: Der Inhalt taugt nicht als Skandal, gerade wenn man ihn im Kontext der damaligen Zeit liest. Minutiös wird die Arbeit des Krisenstabs am RKI protokolliert.

Zeit.de

Zumal die Wertung, es sei "minutiös" protokolliert worden, wohl nur jemandem möglich ist, der alle Sitzungen live verfolgt hat. Dem widerspricht auch, was der Zeit-Informant laut Artikel selbst über die Protokolle sagt:

Die jetzt veröffentlichten Protokolle seien nur ein kleiner Ausschnitt, sie seien angelegt worden, um hinterher selbst evaluieren zu können, was man gut gemacht habe und was zukünftig besser gemacht werden könne – für das, was man lessons learned nennt. Was sich dort kaum findet, sei der Druck, der auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgeübt wurde, der teilweise "heftig" gewesen sei, sagt der RKI-Insider.

Zeit.de

Medienkritik aus den Medien

Neben zurückhaltenden und beschwichtigenden Berichten zu den RKI-Protokollen gab es auch harsche Medienkritik - von Kollegen. Häufig in den Sozialen Medien geteilt wurde ein Kommentar von Ruth Schneeberger, Berliner Zeitung.

Die Probleme und Recherchefragen lägen nun offen, kommentiert sie, und wundert sich über die Medienresonanz:

>Doch was tun große Teile der Presse, deren ureigenste Aufgabe es nun wäre, sich die Protokolle genauer anzuschauen? Sie wiegeln ab. ("Was ist los mit den deutschen Leitmedien?", Berliner Zeitung, 25.07.2024)

Schneeberger kritisiert, viele Medien hätten die Rechtfertigungen von Politikern in den Fokus gerückt, anstatt deren "Sprechblasen zu hinterfragen".

Das ist besonders auffällig in einem Text der Süddeutschen Zeitung von gestern, in dem schon in der Überschrift steht: "Und wo soll jetzt der Skandal sein?" (Titel geändert)

Christina Berndt, die etwa während Corona sehr oft im Fernsehen für die Impfung warb und dabei versicherte, es könne keine Langzeitwirkungen geben und man müsse daher auch keine Angst vor schweren Nebenwirkungen haben, und die trotzdem zur Wissenschaftsjournalistin des Jahres 2021 gewählt wurde, springt hier vor allem dem Berliner Charité-Virologen Christian Drosten zur Seite.

Der gerade zusammen mit dem (mit der SZ einst verbandelten) Investigativjournalisten Georg Mascolo ein Buch zur Aufarbeitung geschrieben hat.

Berliner Zeitung

Ruth Schneeberger spricht in ihrem Kommentar auch eine Auffälligkeit von grundsätzlicher Bedeutung an:

"Gerade die großen Medien und der ÖRR, die eigentlich aufgrund ihrer personellen und finanziellen Kapazitäten in der Lage wären, besonders gute unabhängige journalistische Arbeit zu leisten, scheinen in vielen großen Debatten unserer Zeit zu versagen und sich immer öfter an von der Regierung vorgegebene Narrative zu klammern und sie bisweilen bis aufs Blut – auch gegen Leser oder Zuschauer – zu verteidigen."

Investigativ: Alternativmedien

Denn auffällig ist, dass alle für die Corona-Aufarbeitung relevanten Dokumente bisher von Blogs, kleinen Medien oder sogar Privatpersonen ans Tageslicht gebracht wurden: neben den RKI-Files z.B. die Protokolle der Bund-Länder-Konferenzen und des Corona-Expertenrats. Viele Einzelhinweise auf Teile dieser Dokumente wie auch auf andere Quellen finden sich auf den Sozialen Medien, schaffen es aber nur sehr vereinzelt in die Massenmedien.

Stattdessen wurde vieles als "Verschwörungstherorie" abgetan – obwohl echte Verschwörungstheorien laut einer wissenschaftlichen Inhaltsanalyse selbst in den "rechtsalternativen Online-Medien Compact, Journalistenwatch, PI News, Politikstube, Zuerst! und Junge Freiheit" äußerst selten sind:

Eine computergestützte Inhaltsanalyse von Facebook-Beiträgen alternativer und etablierter Medien während der Corona-Pandemie findet einen marginalen Anteil verschwörungsideologischer Inhalte (...).

Johannes Schmiege, Ines Engelmann, Simon Lübke: Populistisch und verschwörungstheoretisch? Die Darstellung der Covid-19-Pandemie in rechtsalternativen Online-Medien, in: Publizistik 68: 433–457

Andreas Rosenfelder kommentiert in der Welt die Diskrepanz zwischen Politiker-Statements während der Corona-Pandemie und dem wissenschaftlichen Ringen im Robert-Koch-Institut anlässlich des neuen Leaks:

Wer ähnliche Standpunkte (wie in den RKI-Protokollen von Mitarbeitern vertretene) in der Zeit der Pandemie vorzubringen wagte, wurde als "Querdenker", "Nazi" oder "Corona-Leugner" verhöhnt und oft brutal aus dem Feld des Sagbaren gestoßen – ganz gleich, ob er als Privatmensch, Kinderarzt, Virologe oder Bildungspolitiker sprach.

Welt", 26.07.2024

Am Ende folgert Rosenfelder, "die wahre Bedrohung für Demokratie und Rechtsstaat war die systematische Delegitimierung von Gegenmeinungen durch die deutsche Corona-Politik". Ihre Aufarbeitung müsse nun in einem Untersuchungsausschuss des Bundestags erfolgen.

Diskussionen in der Szene

Unter den stark mit der Corona-Aufarbeitung befassten Kanälen gab es sowohl Kritik am Vorgehen der Veröffentlichung als auch Fragen zur Echtheit der Dokumente. Für letzteres sorgten unter anderem Metadaten der Files, die auf eine Bearbeitung deutlich nach der jeweils darin protokollierten Sitzung deuten.

Das geleakte Material enthält allerdings selbst teils mehrere Dateien zu einer Sitzung. Das allermeiste deckt sich jedoch mit den vom RKI selbst zur Verfügung gestellten Dateien – soweit diese eben reichen und nicht geschwärzt sind. Ein Bestreiten der Echtheit gab es bisher auch weder vom RKI noch aus dem Bundesgesundheitsministerium.

Am Vorgehen von Velázquez wird der gewählte Zeitpunkt kritisiert, und dass sie Paul Schreyer von Multipolar nicht mit ins Boot geholt hatte, der immerhin als Erster Teile der Protokolle besorgt und öffentlich zur Verfügung gestellt hatte. Auch von den großen überregionalen Medien war niemand eingebunden.

Dafür hatte Philippe Debionne von der Schwäbischen Zeitung Gelegenheit zur Vorab-Einsicht. Debionne begleitet das Corona-Geschehen und dessen Aufarbeitung seit langem mit kritischem Blick.

Aufarbeitung hat erst begonnen

Die jüngsten RKI-Leaks bieten sicherlich noch viel Material für weitere Recherchen. Zumindest die Behauptung, es stecke nichts Neues darin, dürfte weiterhin verfrüht sein. Denn das nun öffentliche Material muss auch noch mit weiteren Quellen abgeglichen werden.

Die RKI-Protokolle sind nicht das Referenzmaterial für die Wahrheit. Sie zeigen allenfalls einen Teil davon, wie in der Behörde gedacht und gearbeitet wurde. Was fehlt, was unvollständig oder falsch ist, wird keinesfalls immer auf den ersten Blick zu erkennen sein.

In Teilen der Medien zeigen sich jedoch auch Mitte 2024 noch die "Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus", die keineswegs mit Ende der Pandemie verschwunden sind.