Money before Lives
Senatspräsident von Texas fordert ältere Amerikaner zum Opfertod für die Wirtschaft und den "American Way of Life" auf - Notes from a Broken Country
Während auf Twitter gerade der Hashtag #NotDying4WallStreet# tausendfach geteilt wird, hat der amtierende Lieutenant Governor Dan Patrick, der zweitmächtigste Politiker des Staates Texas, in einem Interview auf Fox News am Montag dieser Woche (sinngemäß) folgende Bemerkung gemacht:
"Wenn mich jemand fragen würde, ob ich zum jetzigen Zeitpunkt bereit wäre, nach draußen zu gehen und möglicherweise mein Leben dabei zu riskieren, um so die amerikanische Wirtschaft und unseren "Way of Life" für meine Enkelkinder zu sichern, natürlich würde ich dieses Risiko eingehen; und ich glaube, unzählige andere Großeltern in unserem Land würden genauso patriotisch handeln."
Diese an Menschenverachtung kaum zu überbietende Aussage einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens gewinnt durch das Medium, in dem sie gemacht wurde, noch zusätzlich an Brisanz. Fox News ist bekanntlich der Haussender des Präsidenten und so kann es kaum verwundern, dass Trump in einer Pressekonferenz wenige Tage später auf eine erneut bevorstehende Kurswende des Weißen Hauses in der Bekämpfung des Virus in den USA hinwies.
Der Präsident verstieg sich dabei entgegen jedweder medizinischer Expertise zu der Vermutung, dass bis spätestens Ostern der Corona-Spuk vorbei sei; die Amerikaner könnten dann wieder ihrem normalen Geschäftsalltag nachgehen, was so viel heißen sollte wie, als Konsumenten von Waren und Dienstleistungen die Wirtschaft ankurbeln. Ostern werde, so Trump, "a beautiful time", und die Kirchen und Einkaufszentren des Landes werden wieder gefüllt sein. Es mache absolut keinen Sinn, die Corona-Krise mit einer Therapie zu bekämpfen, die am Ende mehr Schaden anrichtet als der Virus selbst.
Kalte Logik eines auf Profitmaximierung geeichten kapitalistischen Systems
Der hier angesprochene Schaden ist natürlich vor allem ein wirtschaftlicher. Trump schielt unablässig auf den Aktienindex, der ihm und den Republikanern die Wiederwahl im Herbst und Millionen von Amerikanern die Rente sichern soll. Aus diesem Grund wiegelte der Präsident von Beginn an von der Schwere der Pandemie ab, um so seine Landsleuten glauben zu machen, es handle sich dabei um wenig mehr als einen lästigen Schnupfen.
Dass er damit die Gesundheit und das Leben von Tausenden von Amerikanern aufs Spiel gesetzt hat, darauf ist in der Zwischenzeit von vielen Vertretern der Einzelstaaten, die sich bei der größten sozialen und logistischen Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg von Washington alleingelassen sehen, vielfach hingewiesen worden.
Die Nonchalance, mit der der Präsident und Teile der Republikaner nun aber die Wirtschaft über das Leben der Menschen selbst stellen, kann nur schockieren und verweist alle relativierend verharmlosenden Analysen zur Entwicklung der USA unter Trump in den Bereich der Naivität. Was hier am Werk ist, ist die kalte Logik eines — auch um den Preis von Menschenleben — auf Profitmaximierung geeichten kapitalistischen Systems.
Dagegen erscheint fast harmlos, dass angesichts dieser schwersten Krise seit der Great Depression in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts der von den Republikanern beherrschte Senat einen Unterstützungsfond vorgeschlagen hat, der — wie schon 2001 und 2008 — wohl wieder vor allem den großen Firmen, den Airlines und dem Finanzwesen zugute kommen wird. Die drohende 20-prozentige Arbeitslosigkeit, die Nöte der Menschen in den Ballungsräumen und auf dem flachen Land, deren Arbeitsgrundlage aufgrund der Pandemie weggefallen ist, wird man so jedoch kaum lindern können.
Vorsorgefreier Just-in-Time-Kapitalismus
Wie Jeffrey Sachs, der weltbekannte Ökonom und Leiter des Instituts für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung an der Columbia University in New York, in einem Interview mit Democracy Now! mahnt, ist die derzeitige politische und soziale Krise in den USA nicht allein Trump geschuldet. Zwar handle es sich bei ihm um den mit Abstand inkompetentesten Präsidenten in der Geschichte der USA, dessen vulgärer Narzissmus und Menschenverachtung kaum zu überbieten seien, doch viele der Parameter, die zu dieser für das Land lebensbedrohlichen Situation geführt haben, sind systemisch und reichen länger zurück als die Amtszeit Trumps.
Amerika, und hierin sind ihm im Zuge der Globalisierung viele andere westliche Länder gefolgt, habe eine Form des Just-in-time-Kapitalismus perfektioniert, in dem für außerordentliche Ereignisse wie nationale und supranationale Krisen keine Vorsorge mehr getroffen werden kann. Es zählt allein der sich kurzfristig manifestierende wirtschaftliche Erfolg (oder Misserfolg), die pundits und bean counters der Börsenberichte und des medialen Finanzwesens (Bloomberg News, CNN, MSNBC etc.), die mit ihren Analysen und Vorhersagen das Tagesgeschehen bestimmen.
Systemstabilisierend wirkt dabei - und auch dies ist ein Phänomen, das sich inzwischen weltweit beobachten lässt -, die fatale, eklatante Verstrickung von Medien und Bildungseinrichtungen in dieses System, die hierdurch ihre gesellschaftliche Funktion als kritisches Korrektiv kaum noch wahrnehmen. Und schließlich erlauben es die obszönen Gewinne, die im Zeitalter des globalen Turbokapitalismus möglich sind, wenigen Firmen mit einer Monopolstellung sich Einfluss auf den Kongress, auf seine Zusammensetzung und damit auf seine Entscheidungsfindung im Interesse der Fortschreibung des Status Quo zu erkaufen.
Überall dort, wo auf Profitmaximierung einiger weniger geschielt wird statt auf das Wohl und die Absicherung aller Mitglieder der Gesellschaft, entstehen Schieflagen und es mangelt im Ernstfall an medizinischem Gerät, an gut ausgebildeten und gut motivierten (weil gut bezahlten) medizinischen Fachkräften. Schlimmer noch, es mangelt an der Vorstellungskraft, dass ein funktionierendes Gemeinwesen, das umsichtig Vorsorge für seine Mitglieder trifft, langfristig ’mehr’ wert ist als die Stabilität von Dow Jones und Wirtschaftsdaten. Dass eine solch — im besten Wortsinn — fürsorgliche Wirtschaftsordnung Rücklagen braucht und finanziert sein will, steht außer Frage.
Wie Bernie Sanders, der selbst ernannte demokratische Sozialist aus Vermont und Mitbewerber um die Kandidatur der Demokraten für die Wahl im November, nicht müde wird zu betonen, könnte man die derzeitige Politik in den USA deshalb auch als socialism for the rich bezeichnen. Immer dann, wenn Krisen — egal ob selbstverschuldet oder von außen induziert — die Gewinnaussichten schmälern oder gar den Fortbestand systemisch relevanter Branchen gefährden, greift der Staat den bedrohten Firmen mit Milliardeneinlagen unter die Arme. Die Betrogenen und Geschröpften, wie in der Finanzkrise von 2008, oder auch die Alten und Kranken des Jahres 2020 gehen dagegen meist leer aus. Dass die letzteren nunmehr aufgefordert sind, so jedenfalls der Lieutenant Governor von Texas auf Fox News, auch noch mit ihrem nackten Leben für den Fortbestand dieses zutiefst unmenschlichen Systems einzustehen, markiert eine in dieser Deutlichkeit bislang noch nie ausgesprochene Politik des Geldes in den USA: money before lives!
Wären da nicht die vielen mahnenden Stimmen, die freiwilligen Helfer und frontline worker des Gesundheitssystems, die Gouverneure und Abgeordneten von Staaten wie Kalifornien, Washington oder Vermont, die Experten, Journalisten und Intellektuellen, die diesen unbeschreiblichen Verfall politischer Kultur in den USA seit Jahren auf Plattformen wie Democracy Now! kritisch begleiten, man müsste in der Tat an diesem Land verzweifeln.
Und noch etwas muss einem tröstlich (und kein bisschen schadenfroh) stimmen. Wie mehrere Medien gestern vermeldeten, sendet das "rückständige" Kuba eine Brigade an Medizinern und ärztlichem Hilfspersonal, um Ländern wie Italien, aber auch Venezuela, Nicaragua, Jamaika, Surinam und Grenada in der Corona-Krise beizustehen.
Wie Peter Kornbluh vom "Cuba Documentation Project" der National Security Archives an der George Washington University dazu anmerkt, ist die Tatsache, dass ein großes europäisches Land wie Italien medizinische Hilfe von einer kleinen, seit Jahren vom amerikanischen Nachbarn mit Sanktionen belegten Karibik-Insel annimmt, ein bemerkenswerter historischer Vorgang. Er zeigt, wie sehr sich dieses kleine, wirtschaftlich kaum entwickelte Land der internationalen Solidarität und Menschlichkeit verpflichtet fühlt. Ob Kubas beispiellose Geste hingegen in Washington wahrgenommen wird, darf bezweifelt werden.
Der Autor ist Lehrstuhlinhaber für Nordamerikastudien an der Ludwig-Maximilians Universität München.
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