Mord an Abu Akleh: Al Jazeera verklagt israelische Streitkräfte in Den Haag (Update)

Seite 3: "... gewohnt, mit Lügen über die Tötung von Palästinensern davonzukommen"

Es sind verstörende Szenen. Man sieht, wie die Journalist:innen, deutlich sichtbar als Pressevertreter gekennzeichnet, langsam die Straße heruntergehen und plötzlich aus heiterem Himmel auf sie gefeuert wird.

Erst wird ein Kollege von Abu Akleh verwundet, während sie selbst versucht, sofort hinter einem Baum Schutz zu finden. Doch das gelingt ihr nicht mehr. Sie wird vorher von einem Schuss niedergestreckt. Eine andere Reporterin, Shatha Hanaysha, schafft es hinter einen Baum, um den Salven zu entgehen. Wir sehen, wie sie sich niederkniet und verzweifelt versucht, ihrer Kollegin, die vor dem Baum ausgestreckt liegt, zu helfen. Doch sobald Hanaysha ihre Deckung verlässt, wird sofort weiter auf sie geschossen.

Ich erinnere mich, als ich das Blut auf dem Boden sah, als das Blut anfing herauszulaufen, da wurde mir klar, dass sie eine Kugel in den Kopf bekommen hatte.

Als ein Mann hinzukommt, um Abu Akleh aus der Schusslinie zu ziehen, wird auch er beschossen. Er gibt den Versuch schließlich auf und hilft Hanaysha stattdessen in Sicherheit.

Nicht allein die Videos, sondern auch eine Rekonstruktion der Ereignisse, die zeigt, dass die Soldaten klare Sicht auf die Journalist:innen hatten, die zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung darstellten, belegt, dass die Schüsse ausschließlich auf die Journalisten gerichtet waren.

Zugleich wird im Film die Strategie Israels nachgezeichnet, mit der die Hintergründe der Tat vernebelt werden. Der Direktor von B’Tselem Hagai El-Ad sagt im Film, dass das israelische Militär bekannt dafür sei, falsche Behauptungen über die Tötung von Zivilisten durch Soldaten zu machen, um im Unklaren zu lassen, was wirklich geschehen sei.

Sie sind es gewohnt, mit Lügen über die Tötung von Palästinensern davonzukommen, sowohl in der Öffentlichkeit als auch vor Gericht. … Um das Narrativ zu kontrollieren, haben sie ihre Version ständig geändert, von "es war wahrscheinlich ein Palästinenser" zu "wir sind nicht sicher, wer es getan hat" zu "es könnten wir gewesen sein" zu "es waren wahrscheinlich wir". Jede Änderung in diesem Narrativ wurde nicht freiwillig von Israel vorgenommen. Jede einzelne Änderung in der Darstellung war das Ergebnis von Untersuchungen und Fakten. Am Ende hatten sie dann keine andere Wahl mehr.

Eine unabhängige Untersuchung lehnt Israel bis heute ab. Die Biden-Administration in den USA hat sich der israelischen Behauptung, dass man nicht genau wisse, was passiert sei, ohne eigene Nachforschungen angeschlossen. Die EU ließ ihren anfänglichen Ruf nach einer unabhängigen Untersuchung der Tötung am Ende fallen.

Insbesondere deutsche Medien zeigen kaum Interesse daran, den Fall genauer zu beleuchten, obwohl es sich um eine US-Amerikanerin und prominente Journalistin handelt. Die UN-Studie wurde schnell als Fußnote abgetan. Die neuen Videobeweise und die weitere Entwicklung des Falls werden, mit wenigen Ausnahmen, dem deutschen Publikum vorenthalten. Kontexte werden nicht mitgeteilt, unangenehme Stimmen ausgefiltert, die Vernebelungsstrategie Israels geflissentlich übersehen.

Doch das könnte sich ändern. Im US-Kongress rumort es. Dutzende von Abgeordneten und Senatoren verlangen, dass es eine unabhängige Untersuchung des Tods der US-Bürgerin Abu Akleh geben müsse. Senator Chris Van Hollen sagt im Film, "dass wir der Sache auf den Grund gehen müssen und die Tötung nicht unter den Teppich gekehrt werden darf". Auch die Familie der Journalistin, die in den USA lebt, macht Druck auf die US-Regierung und fordert Aufklärung über die Tötung.

Es gibt auch einen ersten Erfolg: Das FBI hat nun angekündigt, die Umstände von Abu Aklehs Tod zu untersuchen. Israel hat bereits mitgeteilt, dass man nicht mit dem FBI kooperieren werde – indem man zum Beispiel die Schusswaffen sowie die Bodycam-Aufnahmen der Soldaten zur Verfügung stellt bzw. Befragungen der Soldaten erlaubt. Es sei eine Einmischung in innere Angelegenheiten, heißt es aus Tel Aviv – obwohl Dschenin sich gar nicht auf israelischem Territorium befindet und der internationalen Rechtsprechung gemäß der vierten Genfer Konvention unterliegt.