Mord ohne Opfer
Jean Baudrillard über 'Das perfekte Verbrechen'
Ein gutes philosophisches Buch, so der jüngst verstorbene Gilles Deleuze, ist teils Krimi, teils Science Fiction. Sein Kollege Jean Baudrillard hat sich dies offenbar zu Herzen genommen. In seinem jüngsten Buch macht sich der Pariser Soziologe und Philosoph als Detektiv an die Aufklärung eines heiklen Falls. "Das perfekte Verbrechen" ist zwar nicht wirklich perfekt, denn dann ließe es sich ja nicht lösen, doch dafür ist es um so verbrecherischer. Es geht um die Ermordung der Realität.
Früher lautete das große Rätsel der Metaphysik, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Heute, nach der Ermordung der Realität, hat sich diese Frage erledigt: "Es gibt nicht etwas. Es gibt nichts," sagt der Detektiv. - "Ich weiß schon, was Sie jetzt denken. Und Sie haben recht damit," fügt sein Kollege Thomas Magnum aus dem Off hinzu.
Wie kann die Realität tot sein, wenn Sie noch da sind? Doch Sie müssen die Frage nur umkehren, um in den Abgrund dieses Thrillers zu blicken: Wenn die Realität tot ist - wo sind Sie dann? Und was ist es, das Sie umgibt? Es ist, so Baudrillard, die Illusion einer Wirklichkeit, die in Wirklichkeit nichts anderes als ihr eigenes, verzerrtes Spiegelbild ist.
Ein Opfer wie die Wirklichkeit stirbt nicht von einem Tag auf den anderen. Baudrillards detektivischer Spürsinn zeichnet sich denn auch schon dadurch aus, daß er bereits vor zwanzig Jahren die Agonie des Realen bemerkt und warnend das Dämmern der Epoche der Simulation beschworen hat. Bei genauer Inspektion des Tatorts zeigt sich aber erst heute das ganze Ausmaß des Verbrechens. Die Vertreibung der Realität aus der Realität nämlich ist so alt wie sie selber, die Welt schon immer ihr eigener Schein.
"Die Perfektion des Verbrechens liegt in der Tatsache, daß es immer bereits vollendet ist - perfectum."
Der Krimi als Verwirrspiel
Das ist verwirrend. Und wie es sich für einen guten Krimi gehört, geht das Verwirrspiel noch weiter, der Plot verzweigt sich, die Story spinnt sich in unterschiedlichen Fäden weiter, wandert auf abwegige Schauplätze, die ebenso plötzlich verschwinden, wie wir sie betreten. Dabei wechseln die Akteure so schnell und oft ihre Rollen, daß der Leser schon bald nicht mehr weiß, wer denn nun das Opfer und wer der potentielle Täter ist. Das ist gut so.
Ein Paradox taucht auf und kehrt hartnäckig wieder: Die Realität stirbt nicht, weil sie abnimmt - sondern, weil sie zunimmt; sie stirbt an ihrer eigenen Realisierung. Dieses Phänomen nennt Baudrillard (auch schon seit Jahrzehnten) Hyperrealität. Nach der Auflösung des Paradoxons erscheint der Fall für einen kurzen Moment plötzlich klar: der Täter ist der rationalistische Wille, "die reale Welt so zu erfinden, daß sie unserer Wissenschaft und unserem Bewußtsein transparent ist".
Die Verdopplung der Realität
Es gibt nun also zwei Realitäten: eine gute, die verschwindet, und eine böse, welche die vakant gewordene Stelle okkupiert. Natürlich ist damit das Verbrechen nicht aufgeklärt; das wäre zu einfach. Im Profil des Täters allerdings spiegelt sich hier das seines Jägers: Bei der Überführung des Rationalismus hinterläßt Baudrillard die Visitenkarte des (post)modernen Kulturkritkers, der den technokratischen Wahn der neuzeitlichen Wissenschaftsgläubigkeit der Ausgrenzung des Sinnlichen, der Differenz, des Anderen der Vernunft überführt.
Das ist zwar richtig; besonders originell aber ist es nicht . Von Nietzsche über Heidegger und Adorno bis hin zu seinen poststrukturalistischen Kollegen und mit ihnen einer Vielzahl gegenwärtiger Philosophen teilt Baudrillard die Skepsis gegenüber einer szientifisch verengten Deutung der Welt. Doch die ist ja auch noch nicht alles.
Ein Täter allein bringt die Wirklichkeit noch nicht um. Spannend wird es noch einmal, wenn Baudrillard ganz auf der Höhe unserer Zeit die Technologien der neuen Medien als diejenigen identifiziert, die der Realität den (letzten?) Todesstoß versetzen. An dieser Stelle wird der Krimi zur Science Fiction, weil die Geschichte, die er vorträgt, die Fabel einer durch und durch virtualisierten Zukunft erzählt, von der wir (noch) nicht wissen, ob wir sie je erleben - von der Baudrillard aber glaubt, daß wir sie längst hinter uns haben.
Die virtuelle Realität erscheint in seinem Buch als eine viruelle Realität, die noch die letzten Winkel der Wirklichkeit erreicht und sie mit dem Virus der trügerischen Illusioninfiziert. Erst die "Autonomie des fortan vom Realen befreiten Virtuellen" macht das Verbrechen perfekt. Weil man in der "Ära der Virtuellen Realität ... in die Alterität schlüpfen kann wie in einen Digitalanzug", haben wir diese Alterität - die Differenz, das Andere, kurz das, was an der Wirklichkeit sich unserem Denken nicht erschließt, und ohne das die Welt zum fahlen Scheinbild verkümmert - durch ihre restlose Aneignung auch schon restlos vernichtet.
Die Sphäre der Indifferenz
Den Leser überkommt ein Unbehagen. Nicht aufgrund der Schreckensvision, die Baudrillard skizziert, sondern aufgrund ihrer mangelhaften Plausibilität. Natürlich ist es richtig: Das Fremde, Andere ließe sich letztlich nur um den Preis des Todes auch des Selbst restlos erschließen. Und der kalifornischen Ideologie gegenüber, welche die virtuellen Weiten des Cyberspace einseitig euphemistisch als eine von Diskriminierung befreite Gemeinschaft beschreibt, ist es auch sinnvoll und wichtig, daran zu erinnern. Ebenso einseitig aber ist es, die Welt der neuen Medien ausschließlich als Sphäre der Indifferenz zu skizzieren. So ist es beispielsweise keineswegs richtig, daß die telematische Kultur unwiderruflich eine "Ära des Transsexuellen" einläutet, in der das Weibliche endgültig verschwindet. Bei aller Komplexität der Gender-Problematik können wir doch gerade auch im Cyberspace Entwicklungen beobachten, die auf die Produktion sexueller Differenzen statt auf deren Nivellierung hinauslaufen. (Freilich, mit einer Stilisierung der Frau zum 'Anderen' schlechthin, wie Baudrillard sie vorführt, läßt sich hier kein Boden gewinnen.)
Es geht ums Ganze
Bliebe Baudrillard ein Geschichtenerzähler, wären solche empirischen Ungenauigkeiten kein Problem - was zählt, wäre nur die Stimmigkeit des Plots, und nicht, ob wirklich stimmt, was er behauptet. Der Detektiv aber ist ein Aufklärer. Und der verbindet mit der Lösung seines Falls den Anspruch, den Täter auch realiter zu überführen. Bei einem Fall wie dem der Ermordung der Realität geht es dabei ums Ganze; und eben darum geht es Baudrillard in mit seiner - sicherlich: brillant formulierten -Medienkritik.
Die Falle der Metaphysik schnappt zu. Und der Detektiv, der sie konstruiert hat, sitzt nicht davor; er sitzt darin. Zum Verhängnis wird Baudrillard eine falsche Fährte, welche seine Gegenspieler, die Apologeten der Virtuellen Realität, ausgelegt haben. Der melancholische Chronist des Mordes an der Realität hat das Profil seines Täters nach dem Muster der Selbstbeschreibung einer Technologie gezeichnet, die ja tatsächlich behauptet, dereinst ein alternatives Modell der Wirklichkeit bereitstellen zu können. Wer auf dieser Basis die Gefahr einer drohenden Auslöschung der empirischen Wirklichkeit durch die elektronisch generierten Environments beschwört, der überschätzt aber nicht nur die faktische Macht des Virtuellen. Der selbsternannte Aufklärer des virtuellen Scheins unterstellt zugleich gezwungenermaßen, daß es eine eindeutig bestimmbare, nicht-virtuelle Wirklichkeit gibt, die im Konkurrenzkampf gegen ihr digitales Double unterliegen könnte. Das ist sicherlich falsch.
Es offenbart allerdings den Wunsch nach einer Welt der klaren Grenzen und strikten Differenzierungen, den Wunsch nach einer ordnenden Struktur der sauberen Dichotomien. Materie versus Immaterialien, real versus virtuell, Sein versus Schein. An der Illusion solcher Ordnungsprinzipien festzuhalten, ist eine wesentliche Bedingung dafür, die digitale Welt der Computersimulationen und die Realität außerhalb der elektronischen Speicher überhaupt erst gegeneinander ausspielen zu können - sei es, um diese zu retten, oder um jene zu feiern .
Mord ohne Opfer
Die meisten Kriminalgeschichten enden damit, daß die Lösung des Falls zur Überführung der Täter wird. Die Opfer sind in Mordfällen ja schon am Anfang verschwunden. Bei Baudrillard ist das anders. Am Ende seiner Story stellt sich nämlich heraus, daß ihr Mord gar nicht stattgefunden hat, weil es das Opfer, als dessen Anwalt der Autor auftritt, nicht gibt - oder eben doch gibt, nur anders, als es das Buch beschreibt. Daß die Lösung des Falls eine so überraschende Wende nimmt, aber ist durchaus im Sinne seines Erfinders.
"Die absolute Regel des Denkens ist es, die Welt so zurückzugeben, wie wir sie bekommen haben - unbegreiflich und wenn möglich noch etwas unbegreiflicher."
Sagt Baudrillard, und so ist es dann ja auch.
Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen. München: Matthes & Seitz 1996. 228 Seiten. DM 49,80.