Moria - warum es war, wie es war
Anmerkungen zur europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik
Der folgende Text ist das Ergebnis einer abendlichen Fortbildungs- und Diskussionsveranstaltung in Augsburg am 12. September mit jungen Erwachsenen türkischer, polnischer, serbischer und deutscher Abstammung anlässlich des Feuers, das Europas größtes Flüchtlingslager "Moria" auf der Insel Lesbos in Griechenland in Schutt und Asche gelegt hat. Doch selbst die Rede vom "Flüchtlingslager" gegenüber der offiziellen Wortschöpfung "Registrierungs- und Aufnahmezentrum" für Moria und all den anderen in Griechenland, Deutschland und Europa eingerichteten Flüchtlingslagern gibt nur erheblich eingeschränkt wieder, was Moria in Wirklichkeit war und, dies vor allem: warum das Flüchtlingslager Moria fünf Jahre lang so, genau so und nicht anders war, wie es eben war. Dieses Warum bedarf einer Klärung.
Die Erde ist klein. Wem die Mächtigen in den Ländern nicht hold sind, der findet keine Heimat, sie schenken ihm keinen Paß, vor dem ihre Beamten salutieren, und er wird, auf seiner Wanderschaft ertappt, nachts über andere Grenzen geschoben, in Länder, in denen er auch keine Stätte hat. Nirgends ist für ihn Raum. Wenn anständige Leute nachts eine Grenze passieren, geben sie am Abend vorher dem Kontrolleur des Schlafwagens Billet und Paß und äußern den berechtigten Wunsch, bei Kontrolle nicht geweckt zu werden. Gott hat sie lieb.
Max Horkheimer, 1932
1. Von Flüchtlingen und Lagern
Dass auch Flüchtlinge Menschen sind, ist zwar fraglos, aber dennoch zu betonen: Werden Flüchtlinge auf ihrer Wanderschaft, die nichts als Flucht ist, auf frischer Tat ertappt, verfrachten befugte Hüter der Ordnung sie zu Orten, die reine Lager, Massen-Lager sind: Dingen, beliebigen Objekten gleich, sind sie dort, in diesen Massenlagern, in peinlichster Buchhaltermanier auf rechtsstaatliche Weise von den Beamten zu identifizieren, zu registrieren und in die entsprechenden Register einzutragen.
Dass vor Flüchtlingen kein Beamter salutiert, versteht sich also von selbst: Ist es doch ein Flüchtling, dem als solchen auch noch das Siegel des Unerlaubten und Verbotenen auf der Stirn eingebrannt ist. Denn das Verbotene zu tun, ist dem Fliehenden vom ersten Schritt an in die Flucht wie ein Naturmerkmal aufgeherrscht, obgleich keiner Flucht auch nur ein Jota Natur innewohnt. Fliehen heißt, auch unter größter Lebensgefahr staatlich gesetzte Grenzen zu umgehen, zu überwinden, obwohl die dem Flüchtenden als Grenzschilder, Grenzschutzbeamten, NATO-Stacheldrahtzäune, Wärmebildkameras, Tränengas, Gummiknüppel, Polizisten, Soldaten, Frontex, europäische oder libysche Küstenwachen samt ihren praktisch anerkannten Warlords entgegenrufen: "Halt, bis hierher und nicht weiter!"
Unter Lebensgefahr stündlich, täglich, wochen-, auch monatelang das Verbotene zu tun, belegt das Existenzielle der Aussichtslosigkeit oder Bedrohung, der sich der Flüchtling als Einzelner, als unbegleiteter Minderjähriger, als Mädchen oder Frau, als Mutter oder als Familienvater gegenübersieht. Und dennoch: Sie allesamt sind Gesetzesbrecher, Illegale, vom ersten Moment ihrer Flucht an. Mag der Fliehende der Dürre, dem Hungerstod, dem absoluten Elend, dem kriegerischen Terror, der sein Land auf offenbar unerklärliche Weise wie etwa in Afghanistan, Syrien oder im Irak heimgesucht hat, entronnen sein: Nun ist er, der Illegale, der Gesetzesbrecher, hier gestrandet, im Lager, mit Seinesgleichen, zum Beispiel in Moria, das es nicht mehr gibt. So wandelt sich sein ganzes Dasein: Jetzt ist er nichts anderes als ein Lagerinsasse.
Dass es für den Fliehenden nirgendwo in der weiten Welt einen Raum zum Leben gibt, beweist ihm das Lager. Ob ihm die hiesigen "Mächtigen" (Horkheimer) einmal einen Raum zum Leben gewähren, steht nicht in den Sternen, sondern liegt ganz in den Händen der Mächtigen, in deren Händen er nun ist, wenn er glücklicherweise die Flucht bis dahin überlebt hat. In aller Freiheit, nach ihren Kriterien und konjunktur-, außen-, geo- oder weltpolitischen Berechnungen selektieren diese zerstritten oder gemeinschaftlich agierenden Mächtigen gemäß ihren ausländer- und asylrechtlich definierten und konstruierten Flüchtlingskategorien, welchen unter den Lagerinsassen sie einen Raum zum Leben gewähren und aus dem puren Überleben im Gefangenendasein und Lagerleben freilassen - nach Monaten oder Jahren im Gefangenenlager. Dann ist ihnen mit Brief und Siegel beschieden, anerkannte Flüchtlinge und keine Illegalen, keine Gesetzesbrecher mehr zu sein.
Die anderen unter ihnen haben weniger Glück: Die hiesigen Mächtigen schieben sie Dingen, Objekten gleich, woanders hin; so finden sich die Flüchtlinge dahin zurück- und abgeschoben, woraus sie zu entrinnen suchten. Zuweilen springen die Dinglichkeit und das Objektsein des Flüchtlings auf andere Weise überdeutlich ins Auge: Dann, wenn die Fliehenden als zwischenstaatliches Erpressungsmittel innerhalb der europäischen oder NATO-Wertegemeinschaft zwischen alle Fronten und in die Schlagzeilen geraten. Höchstoffiziellen Trostes können sich die Flüchtlinge in Gestalt eines recht originell erfundenen Fluchtgrundes dennoch sicher sein:
Ich möchte auch mein Mitgefühl für die Migranten zum Ausdruck bringen, die durch falsche Versprechungen in diese verzweifelte Situation gelockt wurden.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, 3. März 2020
Keineswegs also ist der Flüchtling einfach nur ein Mensch. Als Flüchtling wird er zum Lagerinsassen, als dieser zum Ding, zum Objekt unter der Verfügungsgewalt Anderer, der Mächtigen und ihrer Vollzugsorgane in der europäischen und NATO-Wertegemeinschaft.
Ein "anständiger Mensch" (Horkheimer) kann der Fliehende auch nicht sein, mag er noch so verzweifelt um sein Leben oder Überleben ringen. Will er leben oder überleben, muss er das Verbotene tun, also gehört er ins Sammel- und Gefängnislager zu Seinesgleichen, seien die auch Frau mit Kind. Konsequent und sinnfällig am niedergebrannten Moria teilen die Flüchtlings-Gefangenenlager, so wie sie von den hiesigen Mächtigen wohl durchdacht, geplant, konstruiert, ausgestattet sind und betrieben werden, den Eingesperrten, den Einheimischen und aller Welt diese erste Botschaft mit:
Die hier, das sind die absolut Unerwünschten, die absolut Anderen; zwischen denen und jenen, die wir zu den unsrigen zählen, gibt es eine absolute Differenz. Deshalb halten wir Flüchtlinge und Lager so, genau so und nicht anders, wie wir sie halten.
Also so, wie von den verschiedensten Hilfsorganisationen seit Jahren und Jahrzehnten unzählige Male beschrieben: "Das ist eine Hölle ohne Ende" (C'est un enfer sans fin). Fluchtursachen hin oder her, eine Hölle auf Erden erwartet jeden, der es wagen sollte, seiner heimischen Hölle zu entfliehen, deshalb: "Moria is a hell: new arrivals describe life in a Greek refugee camp".
Die absolute Differenz, die die hiesigen Mächtigen mit Flüchtlings-Gefangenenlagern und institutionalisierter Hölle auf Erden aufmachen, führt eine praktisch wahrgemachte Ungleichheit bei aller Gleichheit vor dem Gesetz und dem Gesetzgeber innerhalb der "Gattung Mensch" ein. Eine Differenz, die nicht einfach Unterschiedenheit, sondern augenfällig Ungleichheit markiert und nicht weniger augenfällig Minderwertige und Minderwertigkeiten innerhalb der menschlichen Gattung fixiert und juristisch wie praktisch zur Geltung bringt: Wo in dieser Hierarchie der "Gattung Mensch" die Flüchtlinge durch die Gesetzgeber zugeordnet sind, ist keine Frage, sondern alltäglich demonstriert durch Gesetzgebung, Flüchtlingslager und Flüchtlingsdasein. In anderen Worten:
Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen.
Binding/Hoche, 1920
Weil die Flüchtlinge als Minderwertige, als Ballastexistenzen von den hiesigen Mächtigen und Gesetzgebern definiert sind, gelten sie auch als solche; und das bringt in die Welt und beflügelt die innereuropäische Konkurrenz um die möglichste Nichtaufnahme minderwertiger Ballastexistenzen: bezeichnet als Streit um den gerechten Verteilungsschlüssel aus humanitärer Verantwortung, Verpflichtung den "Menschen" und der Menschlichkeit gegenüber.
Dem sachlichen Inhalt nach bietet das abgebrannte Moria die gute Gelegenheit, unter deutsch-französischer Führung als Leuchttürme der Humanität, einen nochmaligen Anlauf zu unternehmen und die anderen Mächtigen zum gemeinsamen Handeln der europäischen Gemeinschaft zu bewegen. Diese urplötzliche "Hilfe" vor Ort, in Moria, als aufforderndes Sinnbild eines europäischen Wir unter deutsch-französischer Führerschaft gedacht, entspringt seinerseits keineswegs nur aus dem Interesse, der Verpflichtung und Verantwortung heraus, die gegenwärtigen und vor allem kommenden, sogenannten "Migrations- und Flüchtlingsströme" zu "steuern", zu dem die "Bekämpfung der Fluchtursachen" inzwischen gediehen ist.
Jedenfalls: Mit dem auf seiner Stirn eingebrannten Siegel des verbotenen Tuns betritt der Fliehende fremdes Land. Das heißt, er betritt fremdes, staatliches Territorium, fremdes Hoheitsgebiet und dies unter Nichtberücksichtigung und Nichtrespektierung des fremden Hoheitsgebietes und seiner Grenze, wo ihm beide doch ein "Halt" entgegenrufen und einen grundlegenden Vorbehalt, eine grundlegende Differenz, eine messerscharfe Grenze markieren: die unbedingte Grenze, der unüberschreitbare Raum, der den Ausländer vom Inländer trennt.
2. Von Grenzen und Unterschieden
Kaum hat ein Fliehender auch nur einen Fußbreit außerhalb seiner Landesgrenze gesetzt, ist er, obwohl immer noch der Gleiche, ein Fremder, ein Ausländer, keinesfalls ein Inländer. Zudem ein Ausländer, vor dem kein Beamter salutiert, zu salutieren hat, handelt es sich doch um einen Flüchtling, einen unerwünschten, einen illegalen Ausländer.
Ohne je gerufen zu sein, kommt der Flüchtling als Ausländer, als unerwünschter Ausländer zumal. Deshalb und darin sind die Flüchtlings-Gefangenenlager, Moria sinnbildlich für alle, von den gewöhnlichen Gefängnissen überdeutlich unterschieden: die Ersteren sind Sammelgefängnisse, geplant und errichtet für unerwünschte Ausländer, die gewöhnlichen Gefängnisse sind vornehmlich für inländische Gesetzesbrecher erbaut, die Strafgesetze und Strafgesetzbücher zuallererst in der Landessprache verfasst.
Als mit den Inländern vor dem Gesetz und Gesetzgeber Gleiche unterliegen die Ausländer und unter ihnen die Flüchtlinge in weithin sichtbarer Weise einer sondergesetzlichen Betrachtung und Behandlung. Indem der Flüchtling die ihm gesetzte Grenze überschreitet, verletzt er den fremden Hoheitsanspruch der Mächtigen und Gesetzgeber im fremden Hoheitsgebiet. Ein Hoheitsanspruch, der doch gerade im ausländer-, flüchtlings-, asylrechtlichen und staatsbürgerrechtlichen Kodex die absolute Differenz und Grenze zwischen Ausländern und Flüchtlingen auf der einen und Inländern auf der anderen Seite institutionalisiert hat. Eine staatsrechtliche, rechtsstaatliche und völkerrechtlich anerkannte, legitime und geltende Differenz, beruhend auf diesem Einen: der fundamentalistischen Unterscheidung zwischen prinzipiell hierher Gehörigen und nicht hierher Gehörigen, zwischen Inländern und Ausländern.
Geschaffen ist dieser völkerrechtliche Kodex um die prinzipiell unüberschreitbare Grenze, die Unterschiedenheit, die unbedingte Differenz, die Ungleichheit innerhalb der "Gattung Mensch" zu institutionalisieren und zu bewahren. Die damit eingerichtete Hierarchie innerhalb der Menschengattung ist dem Ausländer-, dem Flüchtlings-, dem Asyl- und dem Staatsbürgerrecht immanent, macht überhaupt dessen spezifische Rechtsnatur aus. Dass darüber innerhalb der Menschengattung besondere Menschenarten, besondere, eindeutig identifizierbare Speziesgruppen von Menschen wie die Inländer und Ausländer, und innerhalb der Ausländer der besondere Menschenschlag "Flüchtling" sich konstituiert, ist, wie Moria belegt und bezeugt, unbedingter Zweck der ganzen Veranstaltung. Die Minderwertigkeit des Flüchtlings bedarf keiner weiteren Begründung, sowenig als fraglos ist, wo innerhalb der Hierarchie der Menschengattung die Flüchtlinge eingeordnet sind.
3. Moria - fünf Jahre Schutzschild
Unsere erste Priorität besteht darin, dafür zu sorgen, dass an der griechischen Außengrenze, die auch eine europäische Grenze ist, Ordnung herrscht.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, 3. März 2020
Wir wissen seit Langem, dass Menschen dort unter unwürdigen Bedingungen leben.
Bundeskanzlerin Merkel, 10.9.2020
Soweit die unverblümte Klarstellung durch die EU-Kommissionspräsidentin und durch die deutsche Bundeskanzlerin über die geltenden Prioritäten in der europäisch-westlichen Migrations- und Flüchtlingspolitik einschließlich Moria. Die am Ideal der europäischen und NATO-Gemeinschaft, am Ideal der westlichen Demokratien, auch die am abstrakten Ideal der Menschheit und Menschlichkeit orientierte Kritik an Moria und an der europäisch-westlichen Migrationspolitik hingegen zeigt sich desinteressiert an dem, was die Mächtigen der westlichen Hemisphäre alltäglich tun und ungeniert auch als ihren Zweck verkünden.
So sieht diese Kritik nicht die plan- und generalstabsmäßige Verantwortung und das Pflichtgefühl gegenüber ihrem eigenen Land und Standort und im Grunde immer noch gegenüber einem einigen Europa, mit dem die Mächtigen das gemeinsame Flüchtlingslagerwesen einschließlich Moria in die Welt gebracht und unterhalten haben. Dergestalt landet diese Kritik bei der Rede vom "Totalversagen"1 mit der Aufforderung und Bitte, die Mächtigen mögen unter Beibehaltung der "ersten Priorität" (von der Leyen) dasselbe anders machen.
Und dass die Mächtigen und Gesetzgeber "seit Langem wissen" (Bundeskanzlerin Merkel) ist nur für diejenigen eine Entdeckung, die nicht wahrhaben wollen, dass Moria so und nicht anders sein sollte, wie es war. Selbst als Schutt und Asche gewordenes Moria sollen die möglichen Ballastexistenzen in Afghanistan, Syrien, im Irak, in Afrika oder sonstwo auf der Welt wissen: "Seid gewiss, wir haben für euch die Hölle auf Erden vorbereitet." Denn dies gilt unumstößlich, nicht nur für Moria:
Ich danke Griechenland dafür, dass es in diesen Zeiten unser europäisches ασπίδα [Englisch: shield] ist.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, 3. März 2020
Demgemäß wäre es widersinnig, würden ausgerechnet die Mächtigen die Ursache aller Fluchtursachen: die Unterwerfung des blauen Planeten mitsamt der Menschheit unter das globale Prinzip der Geld-Wirtschaft und unter das globale Prinzip westlicher Gewalt "bekämpfen".
So bleiben die Flüchtlinge das, was sie schon immer waren: Eine der Speerspitzen der "Verdammten dieser Erde" (F. Fanon 1961).
Manfred Henle ist Sozialwissenschaftler und seit 30 Jahren in der interkulturellen Jugendarbeit tätig, in der er u.a. auch als Fotograf unterwegs ist. .Seine Hauptforschungsschwerpunkte sind:Philosophie, Geschichte, Nationalsozialismus, Rechtspopulismus, Ausländerfeindlichkeit.
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