Moskauer Terror: Falscher Fokus bei der Sicherheit?
Nur heldenhafte Einzelaktionen verhinderten noch mehr Opfer. Dabei sind Sicherheit und Stabilität in Russland Glaubenssätze. Wie gut kann Russland seine Bürger wirklich schützen?
Nach aktuellem Stand forderte der Terroranschlag in Moskau auf den Veranstaltungskomplex Crocus City Hall am Freitag 133 Tote und über 150 Verletzte. Crocus City Hall ist ein Vorzeigeareal der russischen Hauptstadt in dem viele Events mit prominenter Beteiligung stattfinden.
Damit ist der Terrorakt der folgenschwerste seit den Frühzeiten von Putins langer Präsidentschaft, derer er sein Amt stets an den obersten Maximen von Sicherheit und Stabilität ausrichtete.
Kleine Gruppe von Terroristen
Dieser Anschlag wurde von einer wesentlich kleineren Gruppe von aktiven Terroristen verübt als bei vergleichbaren Terrorkatastrophen aus Putins Frühzeit. Von vier oder fünf aktiv Bewaffneten ist die Rede, die auch nicht ihr Leben lassen wollten, sondern nach der Tat flüchteten.
Beim Angriff auf die Schule von Beslan 2004 waren 32 zum Tode bereite Islamisten beteiligt, beim Überfall auf das Musical Nord-Ost in Moskau 2002 sogar 40 bis 50 Bewaffnete.
Inzwischen ist bekannt, dass nur durch das beherzte Eingreifen einiger mutiger Moskauer eine höhere Opferzahl verhindert werden konnte. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um Sicherheitskräfte. Der 15jährige Garderobenmitarbeiter Islam Chalilow führte mehr als einhundert Menschen unbeschadet aus dem Crocus-Komplex. Die Story wurde mittlerweile von zahlreichen weiteren örtlichen Medien bestätigt.
Teenager und Konzertbesucher verhinderten Schlimmeres
Er öffnete unter dem Feuer der Terroristen wichtige Sicherheitstüren für die fliehende Menge und lotse die Flüchtenden unter eigener Lebensgefahr aus dem Gebäude. Auch als ein Mann direkt vor seinen Augen erschossen wurde, ließ er von seinem Tun nicht ab.
Als Spartak Moskau Fan erhielt er als Dank eine offizielle Dauerkarte seinen Vereins und soll vom Verband der russischen Muslime ausgezeichnet werden. Islam ist selbst Moslem.
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Außerdem wurde einer der Angreifer noch während der Schießerei von einem beherzten Konzertbesucher entwaffnet, der mit seiner Frau privat vor Ort war. Auch diese Geschichte ist inzwischen von mehreren örtlichen Quellen bestätigt.
Die Waffe entrissen
Kurz zuvor hatte der Besucher beobachtet, wie der Terrorist kaltblütig Menschen erschoss, dann musste dieser nachladen. Der Konzertbesucher nutzte die Chance, entriss ihm die Waffe und es entbrannte eine Schlägerei, in der der Angreifer überwältigt wurde. Dadurch konnten Dutzende Menschen fliehen.
Es war der erste Terrorist, der neutralisiert wurde, während die übrigen mutmaßlichen Täter aus dem Komplex flüchten konnten. Sie wurden nach verschiedenen Berichten erst auf der Flucht in der Region Brjansk Hunderte Kilometer entfernt festgenommen. Es brauchte also einen Garderobenjobber und einen zufälligen Konzertbesucher, um eine höhere Opferzahl zu verhindern.
Der Terrorakt stellt ein völliges Scheitern der Sicherheitsbehörden in Moskau dar, die in Bezug auf diesen Terroranschlag offenbar ahnungslos waren, obwohl ihre Verlautbarungen immer wieder von verhinderten Anschlägen künden.
Sicherheit und Stabilität als Maxime des Kreml
Während die russische Führung viele Andeutungen über eine Mitschuld der Krieg führenden Ukraine macht und sich die Bevölkerung in einem kollektiven Schock befindet, ist bisher über Konsequenzen für das Versagen der eigenen Behörden wenig zu lesen.
All das geschieht in einem Russland, in dem die Symbolfigur des Kreml selbst Sicherheit und Stabilität zu einem wahren Fetisch seiner Herrschaft gemacht hat. Die "Sicherheit unseres Volkes" und die "Verantwortung für Stabilität" sind Dauergäste in den Reden des Kreml-Chefs persönlich.
Jeder, der ein Antikriegsschild auf einer Straße hochhält, wird unter Berufung auf diese Maxime inhaftiert, friedliche Proteste werden von vorneherein verhindert - formal zur Wahrung der inneren Stabilität.
Es steht scheinbar nicht gut um die Sicherheit
Als Sicherheitsrisiko für das Land wird für Russen der Kontakt mit mittlerweile 154 ausländischen Organisationen unter Strafe gestellt. Dazu gehören etwa Greenpeace oder die Friedrich-Ebert-Stiftung. Aktuell äußert sich das Sicherheitsbedürfnis des russischen Staates vor allem in breit angelegten Repressionen.
Da passt es nicht ins Bild, wenn sich die Sicherheit vor realen Gefahren ‒ wie etwa vor militärisch ausgerüsteten, blutrünstigen Terroristen ‒ in bald 25 Jahren Putin anscheinend nicht sonderlich gebessert hat.
Auch um die Stabilität ist es nicht so gut bestellt. Das zeigte vor etwa einem halben Jahr die kurze, aber heftige, bewaffnete Rebellion des Söldnerführers Prigoschin. Sie versetzte bis zu ihrem Ende in einem Kompromiss viele Mächtige in Russland in unsichere Schnappatmung.
Mehr Repressionen bedeuten nicht mehr Stabilität
Es bleibt abzuwarten, wie der Sicherheitsapparat Russlands auf die soeben gezeigte Schwäche reagiert. Mit zielgerichteten Konsequenzen auch in den eigenen Reihen oder einer allgemeinen Verschärfung eben jener Repressionen, die auch den aktuellen Terrorakt in Moskau nicht verhindern konnten.
Die Erkenntnis, dass mehr Repressionen nicht zu mehr Stabilität führen, würde für viele Mächtige in Russland einen großen Umdenkprozess voraussetzen.